Einen neuen Kalender zu beginnen ist, wie eine Wiese mit frischem Neuschnee zu betreten, auf der es noch nicht einmal Spuren von Krähenfüssen gibt:
Alles ist hell, weiss und unberührt. Mit Bedacht setzen wir die ersten Zeichen auf makellos gebleichtes Papier.
Wir benutzen dazu Kugelschreiber, Fineliner oder Füllfedern. Wir eignen uns den neuen Kalender durch Eintragen unseres Namens in das dafür vorgesehene Feld an. Wir markieren das Kalenderterritorium. Je nach Temperament vorsichtig zitternd oder energisch kritzelnd. Die Stimmung ist erwartungsvoll gespannt.
Ein erstes Wölkchen zieht am noch ungetrübten Jahreshorizont vorüber, eine leise Sorge: Dass wir unseren Kalender – und damit unsere Pläne – irgendwo vergessen könnten. Wir hoffen auf eine menschenfreundliche Finderin oder einen Finder und tragen vorsorglich auch unsere Adresse und Telefonnummer ein. Auch dafür gibt es vorgedruckte Zeilen oder Kästchen.
Trotz der Vorzüge von Smartphone-Kalender-Apps mit automatischer Terminerinnerungsfunktion und Computer Cloud Backup halten sich analoge Kalender erstaunlicherweise auch im fortgeschrittenen Medienzeitalter. Viele organisieren ihre Termine sogar digital und analog. Die Verkaufszahlen für Papierkalender sind seit Jahren relativ konstant. Die Digitalisierung mag voranschreiten, die Tote-Wald-Welt (nicht-elektronische Publikationen) wegschmelzen wie Gletscher im Klimawandel, doch der Papierkalender hält eisern die Stellung.
Partisan der Tote-Wald-Welt
Eine naheliegende Erklärung für den anhaltenden Trend könnte sein, dass gerade die zunehmende Digitalisierung den Wunsch erweckt, etwas Handfestes zu haben. Insbesondere bei einem hyperflüssigen Medium wie der Lebenszeit kann es beruhigend sein, sich an etwas Konkretem festzuhalten: einem eleganten Lederoptikeinband, lustigem Blümchendesign oder einer gummierten Oberfläche, die bei Berührung kleine haptische Energieströme durch die Nervenbahnen sendet.
Eine Bekannte, die Edgar Allan Poes »The Raven« tief beeindruckt hat und die gelegentlich selbst mit Raben spricht, erzählte mir, ihr Therapeut habe ihr in krisenhaften Zeiten handschmeichlerische Steine in die Hände gelegt: zum Festhalten. Damit der Stream of Consciousness das Bewusstsein nicht überflutet und das ›Selbst‹ untergeht.
Der sogenannte ›Fluss der Zeit‹ ist ein interessantes Gewässer:
Mal fliesst es träge und breit, mal hektisch-gedrängt, mal stockend, mal dramatisch schäumend oder sogar stürzend. Manchmal auch gegen den Strom. Aber spätestens am Jahresende muss der Fluss über eine Schwelle.
Das Neue Jahr betreten wir über einen Abgrund der Ungewissheit. Es ist immer eine kleine Initiation. Und wie alle Initiationen begehen wir den Jahreswechsel als kollektiven Akt.
Kalender sind nicht neutral
Einen neuen Kalender einzuweihen aber ist ein individuelles, zutiefst persönliches Ritual. Es beginnt schon mit der Auswahl des Kalendertyps und Stifts. Und setzt sich fort mit ersten Eintragungen, mit denen das Jahr auch seelisch vorstrukturiert wird: Ungefähre Urlaubs- oder Ferienzeiten pulsieren in anderen Farbnuancen als unvermeidliche Arzttermine.
Spätestens hier fällt auf, dass Kalender nicht neutral sind. Die weisse ›Wiese‹ ist bei näherer Betrachtung nicht unberührt. In Kalendern ist unser Jahr, je nach Kulturkreis, mit Vorgedrucktem vorformatiert. Neben nationalen Feiertagen sind in handelsüblichen Kalendern eine Auswahl an UN-Gedenktagen (Internationaler Frauentag, Weltkindertag etc.) sowie christliche Hochfeste vorgemerkt.
Die religiöse und kulturelle Vielfalt unserer Gesellschaften spiegelt sich – bislang – kaum in Kalendern. Hier leisten ›Kalender der Religionen‹ Abhilfe. Diese werden von verschiedenen Verlagen herausgegeben, etwa der Schweizer Editions Agora, und bieten eine Konkordanz religiöser Feiertage vom Buddhismus über den Zoroastrismus bis zum Islam.
Gerade bei religiösen Einschreibungen ist evident, dass es sich um Versuche der Strukturierung des Ungewissen handelt. Religion ist wesentlich auf Zukunft gerichtet. Alle Religionen versuchen, den Schleier der Zukunft irgendwie zu heben. Scharfe Abgrenzungen zu Fortune Telling bei vielen Religionen, insbesondere biblischen, dürften einer Situation der Konkurrenz entsprungen sein.
Time-Manager voller Fragezeichen
»Liebes Tagebuch … «, haben wir als Kinder geschrieben und unser Tagebuch als etwas Personifiziertes betrachtet, mit dem wir in Dialog treten und dessen unbeschriebene Seiten vielleicht schon wissen, was uns noch verborgen ist. Hierin besteht eine Ähnlichkeit zum Taschenkalender. Auch er ist eine Art Tagebuch. Ob wir 2021 das chinesische Mitherbstfest zu Ehren des Mondes mitfeiern und Mondkuchen essen oder beim Eidgenössischen Dank-, Buss- und Bettag Zwetschgenkuchen geniessen, wissen vorerst nur der Kalender und die Sterne. Aber wir können Termine vorsorglich markieren und uns vorab freuen.
Freude bereitet aber nicht nur ein antizipiertes Ereignis, sondern auch die Tatsache, dass dadurch dem offenen Zukunftshorizont etwas von seiner – immer auch bedrohlichen – Unverfügbarkeit genommen wird. Gerade religiöse Einschreibungen erscheinen als Strukturierungen eines ungewissen Horizontes, als rituell wiederkehrende Ereignisse, die eine Zeit, die uns ständig nebelhaft entgegenströmt, auf uns zu-kommt, Zu-kunft, vorab zähmen, vertraut und uns darin heimisch machen.
Das war immer so, aber die gegenwärtige Pandemie macht es noch sichtbarer:
Unser Vorgriff auf Zeit wird besonders deutlich in Momenten, in denen sie sich entzieht – ungreifbar wird.
Ungewissheit durchzittert daher unsere Kalender, Time-Manager und Organizer. Viele Termine müssen wir 2021 mit Fragezeichen versehen.
Pläne scheitern – Resonanz bleibt bestehen
Der deutsche Soziologe Hartmut Rosa hat sich mit dem Phänomen der eingeschränkten Planbarkeit auseinandergesetzt. Er unterscheidet das schlechthin ›Unverfügbare‹ vom ›Halbverfügbaren‹. Das Unverfügbare, das uns antwortet und in ›Resonanz‹ mit uns tritt, ist das Halbverfügbare. Es macht das Leben bunt, überraschend und aufregend. Jegliche Art von Beziehung, von der Liebes- bis zur Weltbeziehung, fällt in diese Kategorie.
Ein Symbol für Unverfügbarkeit ist Schnee: Man weiss nie, ob und wann er fällt; und wenn er fällt, wie lange er bleibt und wann er zerfliesst. Das Mysteriöse ist das Unverfügbare, das sich unserem Zugriff entzieht und auf das wir trotzdem oder genau deswegen bezogen bleiben.
Der “Kalender der Religionen” des Schweizer Verlags Editions Agora widmet sich 2021 dem Thema »Flüsse. Lebensadern der Erde«. Flüsse und Gewässer werden in verschiedenen Religionen als Metaphern der Weisheit Gottes, der Quelle der Erkenntnis, des ewigen Lebens und des ständigen Fliessens der göttlichen Gnade angesehen, beispielsweise im Baha’itum. Der Kalender erscheint auf Deutsch, Französisch und Englisch.
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1 Gedanke zu „Krähenspuren auf Neuschnee“
Gut, so mache ich es auch. Wenngleich von einigen “neumodischen” Menschen belächelt, als täte ich etwas regelrecht Abseitiges mit meinen Reinschreibbüchern und -kalendern!
Gruß von Sonja