Vor einem Jahr haben wir an unserer RefLab-Redaktionssitzung darüber diskutiert, welche grossen Themen uns im 2020 beschäftigen werden: Wir dachten an Klimawandel und die Präsidentschaftswahlen in den USA. Persönlich habe mich auf die Fussball-Europameisterschaft 2020 gefreut, wollte meinen Sommerurlaub auf Sizilien verbringen – das erste Mal mit dem Zug. Aber dann hat Corona alles dominiert: Klimaziele werden plötzlich erreicht, obwohl kaum mehr Klimademos stattfinden konnten. Trump wird – nicht zuletzt seiner Coronapolitik wegen – abgewählt. Die Fussball-EM ist um ein Jahr verschoben worden und meine Sommerferien habe ich in der Schweiz verbracht.
Ungleichzeitiges
Es war ein Jahr des Ungleichzeitigen: Mitten unter uns sind viele Menschen gestorben. Ohne Adieu des Ehepartners, der eigenen Kinder oder Enkel. Gleichzeitig hat sich unter Nachbar*innen Solidarität entwickelt. Jetzt, wo man sich nicht mehr zu nahe kommen durfte, rückten viele zusammen. Irrsinnige Verschwörungstheorien erreichen millionenfaches Publikum, während sich so viele Menschen wie nie zuvor für die Erkenntnisse der Epidemiolog*innen interessieren. In Windeseile werden hochwirksame Impfstoffe erfunden, während es in Alters- und Pflegeheimen wochenlang kaum Masken und Schutzkleider gab. Gottesdienste wurden (zu Recht!) vielerorts abgesagt. Der Black Friday avancierte im Krisenjahr zur rettenden Gottheit des Detailhandels.
Das Jahr 2020 ist wie ein Kontrastmittel für unsere Gesellschaft. Solidarität, Pragmatismus, Leistungsbereitschaft, aber auch kapitalistische Entgleisungen, Dummheit und Trägheit zeigten sich in beeindruckender Klarheit. Und es ist ein Spiegel für einen selbst: Wie gehe ich mit Ungewissheit um? Kann ich mich frei fühlen, auch wenn Gewohnheiten wegfallen? Woran hängt mein Glück? Wie gehe ich damit um, keine systemrelevante Stütze der Gesellschaft zu sein? Wie gut verstehe ich mich mit meiner Familie?
Einsamkeit
Ich selbst habe dieses Jahr als Wechsel zwischen sehr intensiven und dann wieder ruhigen, manchmal fast einsamen Zeiten erlebt. Dabei habe ich gespürt, dass ich mit der Belastung leichter klar komme, als mit der Einsamkeit. Mindestens zu Beginn. Danach habe ich manche Beziehungen verinnerlicht und von dort aus quasi selbstständig weiter geführt. Meine Eltern, Freunde, mein Team, der Strand von Giardini Naxos, die Stube meines Elternhauses, Göttikinder, meine längst verstorbenen Grossmütter und Autor*innen, die ich gelesen habe, wurden in mir drin real. Nicht sofort. Aber als ich allmählich aufhörte, mein inneres Loch durch weitere Amazon-Pakete und die nächste Corona-Pressekonferenz zu stopfen, nahmen sie diesen inneren Raum ein. Von dort aus konnte ich manchmal über meine eigene Hektik schmunzeln. In den Augen meiner Grossmutter oder von Giardini Naxos aus war das alles nicht so wichtig.
Nur ein Zeitabschnitt
Ein Jahr ist nur ein Zeitabschnitt. Der ist so wichtig, wie unsere Erinnerungen, die wir an ihm festmachen. Wir sollten uns erinnern, wie unvorhersehbar die Welt ist. Wieviele Menschen einsam gestorben sind. Wie sich Pfleger*innen und Ärzt*innen aufgeopfert haben. Wie die Pandemie den gutschweizerischen Föderalismus in die Schranken gewiesen hat. An diejenigen, die arbeiten mussten in den Läden, Kitas, Schulen und Öffentlichen Verkehrsmitteln. Und an die, für die wir keinen Platz hatten. Das sind viele. Und wahrscheinlich werden wir sie gar nicht vergessen, weil sie uns gar nicht bewusst sind.
Ich selbst möchte mir mein unsichtbares Reich bewahren. Nicht nur, weil von Giardini Naxos aus alles etwas leichter scheint. Auch weil ich das Jahr 2020 von nirgendwo aus besser erinnern kann. Aber in diesem Reich höre ich Hegel seufzen: „Wir lernen aus der Geschichte, dass wir überhaupt nichts lernen.“
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1 Gedanke zu „Ein Jahr zum Vergessen?“
Der “fromme Wunsch”, ein ganzes Jahr zu vergessen, gefällt mir nicht. Stattdessen gibt er mir Anlass, die nachfolgenden ZEIT-ZEIT-Gedanken als Kommentar loszuwerden.
Der Mensch – Vom Alptaum zum Traum
Menschen sind Wandrer
zwischen Welten,
die uns was gelten.
Doch der Knackpunkt ist ein andrer.
Fast hat uns schon der Schlag gerührt.
Wir leiden große Qual,
weil der Weg ist schmal,
der in andre Welten führt.
Des Zugangs enge Pforte
jedem offen steht,
doch ein jeder geht
vorbei am Pforte-Orte.
Der Schlüssel ist das SEIN,
nicht etwa ZEIT & RAUM.
Die beiden sind nur Traum
vom Schöpfergott allein.
Sein Traum ist unser Leben,
wir träumen fleißig mit,
doch ohne Schritt & Tritt
geht – noch – der Traum daneben.
ZEIT scheint zu vergehen.
Wir trauern um den Rest,
anstatt zu trauen fest
den Zeiten, die entstehen.
Zukunft & Vergangenheit,
da, wo sich beide mischen,
also echt dazwischen,
da sitzt das Uhrwerk für die Zeit.
Ohne Zeit, da gibt’s kein Leben
und natürlich auch kein SEIN.
Das SEIN ist zwar nur kurz und klein,
doch so ist das nun mal eben.
Zukunft & Vergangenheit
läßt zwischen sich kaum Raum
für mehr als nur für Traum.
Dieser Traum gebiert die Zeit.
Der Traum geht nämlich weiter
in Richtung ‘andre Welt’.
Weil SEIN sie offen hält,
träumt sich’s auch ganz heiter.
Heiterkeit ist Emotion,
von vielen wohlgelitten
und wünschenswert inmitten
von so mancher Illusion.
Gefühle geben SEIN die Tiefe,
jeder Mensch ist voll davon
und erträumt als Tradition,
was besser er verschliefe.
Kaleidoskopisches Gewühl
findet seinen Platz im SEIN,
aber ist doch nur ein Schein
von Leben, Zeit , Gefühl.
26.12.1997 J. Friedrich
Psalm 98 (Auszug)
Singet dem Herrn ein neues Lied, denn er tut Wunder. Lobet mit Harfen, Psalmen, Trompeten und Posaunen, denn er wird die Völker richten mit Recht.
Dazu im Kontrast, doch nicht minder “richtig”, ein schlaues Neurologen-Zitat :
Die Fähigkeit zur Trance ist eine menschliche Konstante. In ihr sind begründet: Wachtraum – Vision – Inspiration – Schamanentum – Religion – Christentum – Kenntnis – Erkenntnis – Glaube – Wissen usw.