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 Lesedauer: 6 Minuten

Inspirierend müde

Das sind schöne Müdigkeiten: Nach einem langen Tag am Strand mit salziger Haut in der Abendwärme sitzen, Wein trinken und den wellenförmigen und zwischendurch wie auf Kommando verstummenden Zikadenlauten lauschen. Oder nach gemeinsamer Arbeit die kollektive Müdigkeit: Wenn alle zufrieden zusammensitzen und über dem offenen Feuer Kartoffeln braten, die Kinder mit staubigen Gesichtern und roten Wangen. Oder die gute Müdigkeit nach langer Reise endlich wieder im eigenen Bett. Oder die Siesta-Müdigkeit zu zweit, wenn wir unsere Körper aneinanderschmiegen und schlummern.

Und das sind schlechte Müdigkeiten: Im Krankenhaus nach der Operation schmerzschwer-erschlagen auf das Anbrechen der Morgendämmerung warten. Das Nachtlicht auf dem Flur brennt unerbittlich. Der Uhrzeiger scheint eingefroren zu sein. Die Nacht bläht sich auf wie ein klebriger Hefeteig, und es sind noch Stunden, bis die Morgenschwester ins Zimmer kommen wird. Oder die kränkliche Antibiotika-Müdigkeit, die mentale Nebligkeit bei gleichzeitiger Überdrehtheit, Appetitverlust und brackigem Geschmack verursacht. Oder die trennende Müdigkeit: Die anderen ziehen lachend mit Glitzersachen ins Nachtleben, aber man selbst bleibt gelähmt vor Erschöpfung zurück.

Multiple Müdigkeit

Bei unterschiedlichen Müdigkeitsformen verbinden sich körperliche Zustände mit Gefühlen und Stimmungslagen, angenehmen oder unangenehmen. Es schalten sich Empfindungen dazu, Gedanken, Ängste. Häufig sind es eher diffuse, flüchtige, kaum abgrenzbare und schwer beschreibbare Phänomene. Auf jeden Fall beschränkt sich Müdigkeit nicht auf das subjektive Empfinden, sondern Energieabfall färbt die Umgebung: Farben erscheine trüb, Räume verengt, Dinge verlieren ihren Reiz.

Momentan befinden wir uns an einem interessanten Punkt: Unterschiedliche Zustände der Ermüdung, Erschlaffung und Erschöpfung treffen sich wie an einer Kreuzung. Wir erleben eine Intersektionalität von Müdigkeiten bzw. eine multiple Müdigkeit.

Es herrscht die historisch nie dagewesene Situation, dass 7,8 Milliarden Menschen auf dem Planeten – Ausnahmen bestätigen die Regel – gleichzeitig abgespannt, abgeschlafft, erschossen, erschlagen, mitgenommen, ausgelaugt oder ausgepumpt sind; freilich in unterschiedlichen Formen und Graduierungen.

Die alles überragende Grossmüdigkeit ist natürlich die «Corona-Müdigkeit». Sie hatte inzwischen ein Jahr Zeit, um sich tiefer und tiefer einzugraben. Die Corona-Müdigkeit ist vom Typ der niederdrückenden Müdigkeit z.B. bei chronischen Erkrankungen. Man ist gerade aufgewacht und es dämmert einem mit bleierner Gewissheit: «Ach ja, wir haben Corona». Corona-Müdigkeit gehört auch zum Müdigkeitstyp «Und täglich grüßt das Murmeltier». Die Tage scheinen sich im Kreis zu drehen, wie eine Vinylschallplatte mit eingerasteter Nadel. Und langsam, aber sicher kommt Panik auf.

Kollektiver Burnout?

Ausdrucksformen der Corona-Müdigkeit beschäftigen inzwischen Verhaltensforscher*innen und Soziolog*innen. Der Soziologe Hartmut Rosa hat die Metapher von der Corona-Müdigkeit als eine Art «Mehltau» geprägt, der sich nicht nur über Individuen, sondern über ganze Gesellschaften legt. Rosa untersucht Phänomene des kollektiven Burnouts. Interessant sei, dass der pandemiebedingt erzwungene Stopp hochmobiler und hyperflexibler Gesellschaften und also die faktische Stressreduktion die Leute derart müde mache. Und dass parallel zur allgemeinen Müdigkeit extremer Aktivismus herrsche: bei der Impfstoffherstellung, der Sozialregulierung, dem Pandemiemanagement.

Corona intensiviert, was der Philosoph Byung-Chul Han schon vor zehn Jahren als «Müdigkeitsgesellschaft» und «Burnoutgesellschaft» diagnostiziert hat.

Inzwischen ist der südkoreanische Kulturkritiker unter unmittelbarem Pandemie-Eindruck allerdings bereits einen Schritt weiter: bei der «Palliativgesellschaft» (2020, Mattes & Seitz).

Eine Subkategorie der «Corona-Müdigkeit» ist die Corona-Maskenmüdigkeit: Selbst kleine Einkäufe mit dem «Fucking Face Piece» (FFP-Maske) führen zu Erschöpfung. Man kommt sich um zwanzig Jahre gealtert vor. Und wenn man den Lappen abnimmt, atmet man inzwischen genauso flach weiter wie mit Mundnasenschutz.

Zoom Fatigue

Eine mit Corona neu aufgekommene Müdigkeitsform ist «Zoom Fatigue», benannt nach dem Anbieter von Konferenzsoftware.

Stundenlang sitzt man im Homeoffice und hangelt sich von Videocall zu Videocall. Hinterher fragt man sich, weshalb einen Videokonferenzen derart auslaugen? Man war die ganze Zeit zu Hause, hat stillgesessen wie ein Chamäleon und kein Fett verbrannt.

Eine These lautet, dass es die unvertraute Blicksituation sei, die so erstaunlich viel Energie kostet: Alle beobachten sich permanent auf der Mattscheibe, aber niemand schaut sich in die Augen. Energie kostet auch, sich ein Bild des Gegenübers zu machen, wenn ein Gutteil der Mimik und Gestik unter den Tisch fällt. Überhaupt ist es anstrengend, über Stunden Splitscreens im Auge zu behalten und sich gleichzeitig permanent zu fragen: Sitzt meine Frisur? Sehe ich wie Oma aus, wenn ich die Lesebrille aufsetze? Sieht man mir meine Müdigkeit an?

«Zoom-Fatigue» ist als Techno-Stress verwandt mit dem schon länger bekannten Phänomen «SNS Fatigue». SNS steht für Social Network Services. Hier stresst das Gefühl, dass andere mit ihren Postings in Sozialen Medien mehr Aufmerksamkeit und Likes generieren, also wohl interessanter oder jedenfalls sozial «kapitalisierter» sind als ich. Laut Umfragen fühlen sich viele Social-Media-Unser*innen übermässigen sozialen Erwartungen ausgesetzt.

Digitale Technomüdigkeiten werden vielfach noch unterschätzt. Leute fühlen diffuse Erschlaffung, mentale Entleerung oder Depression, ohne Gründe benennen zu können. Fatal sind Versuche der Technostress-Kompensation ausgerechnet in Medien, die diesen auslösen.

Minus-Energie

Auf jeden Fall ist man müde, und da schaltet sich jetzt auch noch die nicht-pathologische, jahreszeitübliche Frühjahrsmüdigkeit dazu: der Mix aus Müdigkeit, Wetterfühligkeit und Kreislaufproblemen. Immer pünktlich zwischen Mitte März und Mitte April versinken viele Menschen in Antriebslosigkeit, fühlen sich angeschlagen und sind gereizt; bis sich die für Glücksgefühle und den Schlaf-Wach-Rhythmus zuständigen Hormone Serotonin und Melatonin nach ein paar Wochen neu eingependelt haben.

Bei derart umfassender Müdigkeit lohnt der genaue Blick oder vielleicht sogar ein Selbstversuch: Man kann sich Müdigkeiten versuchsweise nicht passiv hingeben oder gar in ihnen versinken, sondern in einer Art Auto-Anthropologie zum Beobachter seiner selbst werden und sich sagen: Aha, ich bin jetzt müde, interessant! Ich erlebe eine unproduktive Zwischenzeit. Mein Aktivitätsreservoir hat sich bis auf Weiters erschöpft und ich erfahre jetzt eine Energie der Negativität, eine Minus-Energie. Das erkunde ich jetzt mal näher.

Diese Energie der Negativität hat meines Wissens kaum jemand feinnerviger ausgeleuchtet als der österreichische Schriftsteller und Dichter Peter Handke in seinem philosophischen Erzählessay «Versuch über die Müdigkeit» aus dem Wendejahr 1989. Entgegen der landläufigen Auffassung von Müdigkeit als einem vor allem negativen und defizitären Zustand entdeckt der Dichter die Müdigkeit als spezielle Daseins- und Beobachtungsform: «Dank meiner Müdigkeit wurde die Welt ihre Namen los und groß.» Und:

«Die Inspiration der Müdigkeit sagt weniger, was zu tun ist, als was gelassen werden kann.»

Schöne Müdigkeit

Handke unterscheidet gute und schlechte Müdigkeiten und als Untergattung der schlechten Müdigkeiten «bösartige» Müdigkeiten. Letztere trennen Müde von der Welt, vernebeln die Wahrnehmung, machen ängstlich, rücksichtslos und können sogar zu Gewalt verleiten. «Schönere» Müdigkeiten begünstigen dagegen kontemplative Stimmungen und machen die Welt und Mitmenschen in ihren Zusammenhängen erfahrbar. Schöne Müdigkeiten können inspirieren, z.B. zu Gedichten – oder zu einer Phänomenologie der Müdigkeitsformen.

Sollten Sie noch wach sein, freue ich mich auf Ihre Kommentare unten in der Kommentarspalte. Wie müde sind Sie?

 

Photo by Oscar Keys on Unsplash

6 Kommentare zu „Inspirierend müde“

  1. Sehr interessanter und gut geschriebener Beitrag. Ich finde mich in vielen Dingen wieder, es hilft, die eigene Situation auszuleuchten und besser zu verstehen. Es fühlt sich wirklich an wie permanente Müdigkeit, diese Pandemie; egal mit wie viel Aktivismus man ihr begegnet, die freie Zeit sinnvoll nutzt, Langsamkeit walten lässt und versucht, das ganze abzuwarten und dem mit Gelassenheit zu begegnen, die bleierne Corona-Decke liegt dauernd über einem und erdrückt uns. Vielleicht sollten wir einfach schlafen – altes und bewährtes Hausmittel gegen Müdigkeit.

  2. Ich liebe diesen Artikel – besonders die Worte über Peter Handke und seine Müdigkeiten. Schöner, feingliedriger Schreibstil mit einer tollen Dichte an inspirierenden Impulsen. Wenn ich neugierig geworden bin mehr zu den erwähnten Autoren und Themen zu lesen, dann hat ein Artikel alles richtig gemacht. Und das ist bei mir sicherlich gelungen.

  3. Wohlwollend beobachtet und wohltuend formuliert! Worte gefunden für das was wir nicht genau wissen was es ist und was wir damit sollen. Danke! Hat gut getan zu lesen und am Ende des Artikels bin ich eher lommelig müde…

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