Jürgen Habermas sagte angesichts der jüngsten Covid-19 Herausforderung den bemerkenswerten Satz: „So viel Wissen über unser Nichtwissen gab es noch nie.“ Ein kluges Wort.
Im letzten halben Jahr hatten wir alle reichlich Gelegenheit, einander beim Nichtwissen zu beobachten.
Wir wussten es nicht im Voraus, was uns erwartet. Weder charismatische Prophet*innen noch Wahrsager*innen noch soziologische Zukunftsforschung haben uns auf dieses Jahr vorbereitet. Mittendrin gibt es auch wenig Wissen. Günstigenfalls Versuch und Irrtum und unermüdliches Weiterforschen; schlimmstenfalls Angstfantasien und Merkbefreiung. Wir können noch nicht einmal sinnvoll Mutmaßungen anstellen über unser Wissen im Nachhinein – weil wir das Wörtchen „danach“ noch nicht sinnvoll füllen können.
Soviel „Wir wissen es nicht“ auf einmal war selten oder nie. Gesagt wurde es erstaunlicher kaum! Wir schwer es uns fällt, den Satz „Ich weiß es nicht“ über die Lippen oder aufs Papier zu kriegen. Selbst Habermas hüllt mit diesem Satz seine Einsicht in die Formulierung, dass wir immerhin um unser Nichtwissen wissen.
Wir erklimmen immer neue Rekorde der Vielwisserei: Inzwischen erstreckt sich unser Wissen sogar auf unser Nichtwissen.
Wie gehen wir um mit unserem Nichtwissen?
Nun, viele scheint es zu trösten, wenigstens mehr zu wissen als XY, wahlweise die Regierung, die WHO oder irgendjemand mit Aluhut. Manche wussten es stets besser als die führenden Virologen der Gegenwart. YouTube sei Dank. Wieder andere flüchteten in ein Wissenschaftsglauben, der von der Forschung maximal eindeutige Wahrheiten erwartete. Nur: Sinnvolles Vertrauen auf wissenschaftliche Forschung schließt solchen Wissenschaftsglauben gerade aus. Denn die Kenntnis des jeweiligen wissenschaftlichen Forschungsstandes verbessert idealerweise unsere Urteilsfähigkeit; aber sie nimmt uns das Urteilen in politischen, ökonomischen oder moralischen Fragen gerade nicht ab.
Was sich wirklich wissen lässt, ist sehr überschaubar.
Die deutsche Serie „Dark“ übersetzte diese Einsicht in bedeutungsschweres Raunen: Was wir wissen, ist ein Tropfen. Was wir nicht wissen, ist ein Ozean.
Ich weiß es nicht – ich wünschte, der Satz wäre sagbarer. Nicht nur in Corona-Fragen. Mir fallen so viele Fragen ein, wo ich das denke.
Wie geht es weiter mit den Kirchen in Europa? Wie kriegen wir das zusammen, unserer Überlieferung und unserem Weg treu zu bleiben und gleichzeitig den christlichen Glauben verständlich und relevant für unsere Zeit zu formulieren? So vieles wurde schon gesagt, in Thesen gegossen und in Antithesen auseinandergenommen. Ist es so schwer, erst einmal die eigene Ratlosigkeit zu gestehen, bevor man wieder etwas versucht?
Wie kriegen wir die Kurve in der Klimadebatte? Wie können wir gleichzeitig eine freie und offene Gesellschaft bleiben und die größte Transformation seit der Industriellen Revolution gestalten? Global denken und lokal handeln klang einst so einfach.
Kontrollverlust?
Ich bin Theologe. Da wird erwartet, dass man in manchen Dingen Experte ist. Im Vikariatskurs diskutierten wir über die Frage einer Trauernden: Wo ist denn der Erwin nun, jetzt, wo er tot ist? Ich finde die Frage immer noch ganz schön anspruchsvoll.
„Ich weiß es nicht“ – Warum haben wir so Hemmschwellen, diesen Satz zu sagen? Vielleicht ist es so: „Ich weiß es nicht“ klingt nach Kontrollverlust. Das ist ein schreckliches Gefühl. Das möchte man nicht erleben. Aber wenn es längst zu spät ist? Warum krallen wir uns so an die Illusion von Kontrolle?
„Ich weiß es nicht“ – was könnte diesen Satz denn sagbarer machen? Was könnte uns helfen, eigenes Nichtwissen leichter zu ertragen?
Ich versuche ein Gedankenexperiment
Stellen wir uns einen bezaubernd blauen Planeten vor, der vom Wunder des Lebens geküsst wird. Mit der Zeit entsteht vielerlei Interessantes, z.B. kluge Wesen, nennen wir sie einfach mal: Menschen. Sehr neugierige Lebewesen, die von Geburt an fast nichts konnten, außer Lernen. Und durch Lernen entstand Wissen und durch Wissen viel Unerhörtes wie Konzerthallen, Raketenabschussbasen oder Teilchenbeschleuniger. Wissen, so entdecken sie, ist Macht. Aus dieser Entdeckung entsteht auch Unschönes. Wettbewerbe, wer es am allerbesten weiß, kann und macht. Und schließlich Kriege, Exzesse des Strebens nach totaler Macht.
Und: Es entstand auch die famose Idee, dass alles, was ist auf die Güte einer allwissenden Weisheit zurückgehe, die man „Gott“ nenne. Und das war ein großes Glück. Denn was machte der Gottesgedanke mit den Menschen? Er erinnerte sie beständig daran, dass sie selbst keineswegs allwissend waren. Er machte sie bescheiden. Denn alle wussten: Unser Wissen ist Stückwerk. Nur ein Tropfen, der Ozean ist Gott allen. Und das machte sie schnell zum Hören, langsam zum Reden. Es ließ sie äußerst zurückhaltend sein in der Beurteilung anderer Menschen. Richten galt ihnen als böse, sahen sie doch jeden einzelnen als Geschöpf der unendlichen Güte. Gewiss waren sie vor allem einer Wahrheit: der unausdenkbaren Freundlichkeit Gottes. Aber ihre Gewissheit war ohne Fanatismus, wussten sie sich doch geborgen in einem Frieden, der höher ist als alle Vernunft. Ihre tiefsten Überzeugungen nannten sie Glaubenswahrheiten. Jeden Tag war es ihnen eine neue Freude zu sagen: Gott weiß! Wir glauben. Verglichen mit Gott sind wir alle gleich.
Soweit mein Gedankenexperiment. Kehren wir zurück zu unserer Wirklichkeit! Ach ja, stimmt. Genau genommen war diese Geschichte mit dem Planeten, auf dem die Gottesidee entstand, ja gar kein Gedankenexperiment, es gibt ihn wirklich. Aber Mmmh…. An welcher Stelle habe ich mich in meinem Gedankenexperiment verrechnet?
Warum werden Menschen durch den Gottesglauben bisweilen nicht bescheidener, sondern noch rechthaberischer? Ich weiß es nicht.
Vielleicht ist es so: auch den Umgang mit unserem Nichtwissen müssen wir lernen. Und vielleicht ist es mit uns ja wirklich so wie mit dem blauen Planeten und seiner Gottesidee; nur dass wir noch immer erst dabei sind, diese Idee mit all ihrer Tragweite zu erfassen. Vielleicht ist unser eigenes Experiment noch gar nicht gescheitert. Wir befinden uns noch mitten drin in dieser Geschichte. Wir lernen noch.
Vielleicht ist es so. Vielleicht sollten wir das Wort vielleicht mehr lieben. Auch Wörter wie: vermutlich, möglicherweise, wahrscheinlich, mutmaßlich. Vielleicht sollten wir mehr Halbwissen wagen. Vermutungen ernsthaft prüfen. Intuitionen nicht verachten. Auch auf die Welt des Wissens die Worte Wolf Biermanns beziehen: Die allzu hart sind, brechen. die allzu spitz sind stechen. und brechen ab sogleich. (W. Biermann) Vielleicht sind wir wirklich lernfähig. Vielleicht ist was dran an meinem Glauben: dass der Gottesgedanke ein großes Glück ist.
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3 Gedanken zu „Ich weiss es nicht“
https://www.youtube.com/watch?v=fqiIyxEOQWM
Alles in allen.
Ein unwiderstehlicher Traum.
„Ich weiss nicht“ – sagte Wislawa Szymborska in ihrer kurzen klugen Dankesrede zum Nobelpreis, seien für sie die drei wichtigsten Wörter überhaupt, «zwar klein, aber mit starken Flügeln».
(Wislawa Szymborska, Die Gedichte. Herausgegeben und übertragen von Karl Dedecius, Suhrkamp, Frankfurt )
Was muss man im digitalen Zeitalter eigentlich noch wissen, ohne bei Google nachzuschauen?
Ein kleines, unorthodoxes Gedicht zum Thema Allgemeinwissen:
WISSEN FÜR BESSERWISSER
Es hält unser Blut in Fluss der
Thrombozytenaggregationshemmer,
Welch klangvolles Wort.
Bandar Seri Begawan ist
Hauptstadt von Brunei,
Ein herrlicher Ort.
Kalaallit Nunaat ist Grönland,
Der Mount Godwin-Austen
Auch als K 2 bekannt,
Eyjafjallajökull ein Vulkan
Im vulkanreichen Island.
Vigdis Finnbogadottir
War mal Präsidentin hier.
Wir kennen Parallaxensekunde
Und Desoxyribonukleinsäure gut,
Zaubern noch mit links die
Positronenemissionstomografie
Aus dem Hut.
Die Stadt Hodmezövásárhely
Fordert schon etwas Mut.
Spricht man diese Worte
Zügig und unfallfrei aus,
Erntet man sicher Applaus.
Kann man sie noch deuten,
Ist man wohl unheimlich
Den Leuten.
Rainer Kirmse , Altenburg
Herzliche Grüße aus Thüringen