Manuel und Stephan sind den historisch-kritischen Anfragen an ein traditionelles Verständnis der Bibel in ganz unterschiedlicher Weise begegnet.
Aufgewachsen und theologisch ausgebildet im evangelikalen Milieu, war für Manuel die erste ungeschönte Begegnung mit den Konsequenzen der modernen Bibelwissenschaft einigermassen traumatisch – der Professor für Altes Testament (ein eigentlich ganz wunderbarer Mensch übrigens…) fand seine Freude darin, gleich in den ersten beiden Vorlesungsstunden ein ganzes Artilleriefeuer kritischer Beobachtungen auf die frommen Studierenden abzulassen, im Zuge dessen gewissermassen kein Stein auf dem anderen geblieben ist…
Während sich Manuel davon nur langsam erholt hat, ist es Stephan an der Universität leichter gefallen, sich auf ein neues, historisch-kritisches Bibelverständnis einzulassen. Für ihn wurde Rudolf Bultmanns Ansatz prägend und befreiend – sein Versuch also, die biblischen Texte auf ihren existenziellen Gehalt hin zu befragen und die mythologischen Vorannahmen der Texte hinter sich zu lassen.
Aber wie weit kommt man damit – und lässt sich der Anspruch auf einen historischen Gehalt der Jesusüberlieferung wirklich so leicht aufgeben? Manuel ist nicht einverstanden, was zu einer intensiven Diskussion führt, bei der sich die beiden nicht wirklich finden…
17 Gedanken zu „Historische Kritik: Die Bibel ist nicht Gottes Wort (Teil 2)“
Dass die Bibel keine Bedienungsanleitung ist, die alle Fragen des Lebens abdeckt, ist selbstredend.
Dennoch erheben zumindest Teile der Bibel im NT und AT auch einen autoritativen Anspruch. Die biblischen Schriften, so zumindest mein Verständnis, wollten in das Leben der Menschen damals als Korrektiv oder Weisung (Tora) oder wie auch immer hineinsprechen. Jesus selber trieb es mit den ethischen Forderungen an die Spitze.
Wie wir diese Forderungen auf unser heutiges Leben übertragen, ist noch eine andere Frage. Dennoch würde ich für mich selber davon ausgehen, dass mir Gott mittels der biblischen Schriften nicht nur Glaubensbilder oder Hoffnung anbietet, sondern von mir im Hier und Heute schlicht und ergreifend ein bestimmtes Handeln einfordert. Daher ist die Bibel mit ihren unterschiedlichen Büchern im besten Sinne „Wort Gottes“.
Ich lese den Titel, und mir wir persönlich wieder klar, warum ich der reformierten Abspaltung nach fast zwei Jahrzehnten meines Lebens den Rücken gekehrt habe… Und mich wundert auch nicht, dass Zwinglis Zürich inzwischen gottlos geworden ist. 1000 Techniken zur Glaubensanalyse, Journaling und Co. bis an den Bach runter – und doch scheint die Praxis des gelebten Glaubens umso mehr zu verkümmern. Wenn ich solche Artikel sehe (die leider durchaus negative Reichweite erzielen können!), die geprägt scheinen von Provokationen und Entzweiung, dann frage ich mich ehrlich, wie viele Theolog*innen die Bibel noch mit der Seele lesen und leben, nicht nur aus rein technischem Verständnis, nicht nur nach stupidem Lehrplan, nicht nur nach trockener Theorie. Als noch halbwegs junger Mensch finde ich diese selbstzerstörerische Entwicklung äusserst bedauerlich, bei allem Fortschritt, der an anderer Stelle durchaus nötig und lange angebracht wäre.
Hallo Johanna-Jessica! Danke für dein ehrliches Feedback – ich ermutige dich aber, mehr als nur den Titel zu lesen: Diese Podcastfolge ist Teil einer neuen Staffel, in der wir die gewichtigsten Einwände gegen den Glauben vorstellen, UM DARAUF ALS GLÄUBIGE MENSCHEN ZU REAGIEREN. D.h. die Titel geben diese Kritiken am Glauben wieder, nicht unsere Position. Nächste Woche kommt dann eine Folge mit dem Titel «Der Gott der Bibel ist ein moralisches Monster» – auch das glaube ich natürlich nicht, ich bin aber überzeugt, dass sich aus den Glaubenshindernissen vieler Menschen enorm viel lernen lässt.
Ich habe durchaus mehr als den Titel gelesen; es ändert für mich wenig an der abschreckend vermittelten Grundhaltung, sorry. Ich finde Clickbait auf YouTube schrecklichl, in Zeiten moralischen Verfalls finde ich ihn umso verantwortungsloser und schlimmer. Einmal mehr, in meiner Erfahrung: gut gemeint ist noch lange nicht gut gemacht…
Hallo, was verstehen Sie unter diesen “Zeiten moralischen Verfalls”? Vielleicht dass die Kinder in der Schule und zuhause nicht mehr geprügelt werden? Dass Homosexuelle nicht mehr verfolgt und bestraft werden aufgrund ihrer gleichgeschlechtlichen Orientierung? Dass es nicht mehr heisst: Das Weib schweige in der Gemeinde? Waren solche biblizistisch-fundamentalistisch begründeten Taten wirklich “christlich” in einem Sinn, den wir heute noch unterstützen möchten? Sie dürfen natürlich denken was sie wollen. Aber für unsere Landeskirche ist es wichtig, vorwärtszugehen und offen zu bleiben für immer wieder neue Lernschritte. Daher bin ich sehr dankbar für diese wunderbare reflab-Serie.
Schrecklich war an Bultmann, dass er alles Übersinnliche leugnete und damit dem Atheismus in den Kirchen Tür und Tor öffnete. In der Tat leitete er einen Abfall vom Glauben ein.
Natürlich kann man die Bibel nicht wie ein Fundamentalist lesen, sondern man soll, besonders durch das N.T. (Stichwort “Wiedergeburt!) zu einem höheren Verständnis, welches das Übersinnliche einschließt, kommen. Dieses höhere Bewusstsein, das man gewinnt, lässt einen ohne Verbiegungen glauben. Aus meinem reichen Erfahrungs- und Erkenntnisschatz findet man etwas auf meinem Blog – https://manfredreichelt.wordpress.com/inhaltsverzeichnis/ – und auf https://independent.academia.edu/ManfredReichelt
Rudolf Bultmann, wie oben im Haupttext erwähnt, war und ist für mich wichtig, nämlich die biblischen Texte auf ihren existenziellen Gehalt hin zu befragen und die mythologischen Vorannahmen der Texte nicht einfach hinter sich zu lassen (s. oben), sondern sie zu verstehen. In den Jahren 70-73 in Tübingen wurde Bultmann jedoch z.B. von E. Käsemann weitergeführt und auch nach dem historischen Jesus – nicht bloss kerygmatischen Christus – gefragt. R. Bultmann, auch von kirchlicher Seite mit dem Atheismusvorwurf bedacht, hat für mich mit seinem Programm “Glauben u n d Verstehen” Theologie und Glaube erst möglich gemacht.
Tja, interessant, teilweise plausibel, gleichzeitig halt auch postmodern, eurozentrisch und daher etwas willkürlich! Zwei (deutschsprachige, weisse) Männer referieren über zwei Stunden über die historische Kritik an der Bibel… schon etwas einseitig, ein bisschen Nabelschau, wenn nicht gar klitzeklein überheblich.
Wie sahen und sehen das Personen aus anderen Zeiten, Sprachen und Kulturen? Und welchen Respekt und daraus folgend welche Praxis im Umgang mit der Bibel haben sie? Da liesse sich noch einiges aussagen und lernen.
Danke lieber Peter für die Rückmeldung! Postmodern, eurozentrisch, männlich, weiss: ja klar sind wir das – eine andere Eigenperspektive steht uns nicht zur Verfügung… Personen aus anderen Zeiten, Sprachen und Kulturen sind in unserem theologegeschichtlichen Rückblick ansatzweise vorgekommen, aber natürlich durch uns vermittelt. Wir kommen nicht aus unserer Haut, und wir wollen es auch nicht. Aber wir lernen gerne dazu, von daher würde mich interessieren, wie du deine eigene Frage beantwortest (anders denn als deutschsprachiger weisser Mann wird das allerdings auch nicht gehen, gell…;-)
Ich hab übrigens mal in Auseinandersetzung mit einem (von mir sonst sehr geschätzten) Philosophieprofessor, der sich über die fehlende Anwendung historisch-kritischer Methoden und das daraus resultierende «Aufklärungsdefizit» unter Pfarrpersonen beklagt hat, folgendes zurückgeschrieben:
«Ich habe tatsächlich ernsthafte Zweifel an der Ergiebigkeit historisch-kritischer Exegese für Predigt und Kirche, und ich halte den Satz, die Entfernung von der Bibelwissenschaft fördere einen naiven Glauben, mindestens potenziell für sagenhaft arrogant und ignorant.
Aber vielleicht müsste man zuerst einmal die Begriffe klären, um nicht aneinander vorbeizureden. Wenn unter «Bibelwissenschaft» und «historisch-kritischer Wahrnehmung der Schrift» gemeint ist, dass man den Text ernst genug nimmt, um nach seiner Entstehungssituation zu fragen, sich Gedanken über die damaligen Verhältnisse zu machen und der ursprünglichen Bedeutung und Kraft der Passage nachzuspüren, würde ich dem Statement – noch immer vorsichtig – recht geben. Es hilft ungemein, sich mal mit dem Berufsbild und der Lebensweise von Schafhirten in der Antike zu befassen, wenn man Psalm 23 tiefer verstehen möchte, und es ist ausserordentlich klärend, etwas über Erbrecht und Familienverhältnisse oder über jüdische Hochzeitsbräuche zu wissen, wenn man an die Geschichte des verlorenen Sohnes oder an die Erzählung der Hochzeit zu Kana herangeht. Auf dieser Ebene beweist sich die Nützlichkeit bibelwissenschaftlicher Forschung m.E. auf Schritt und Tritt, und ich habe in meinem langjährigen Predigtdienst auch selbst immer wieder von ihren Einsichten profitiert. Ich kenne allerdings auch kaum jemanden (selbst im pfingstlich-charismatischen Milieu), der diese Art der Verortung biblischer Texte nicht gutheissen und wertschätzen würde.
Wenn allerdings auf historisch-kritische Methodik im engeren Sinne abgehoben ist – auf Redaktionsgeschichte, Literarkritik und Formgeschichte – muss ich gestehen: Ich habe so gut wie nie erlebt, dass das für Predigt und Kirche irgendetwas Brauchbares abgeworfen hat. Jedenfalls kann ich mich an keine Predigt erinnern, die ich gehört oder selbst gehalten habe, in denen Einsichten aus diesen Feldern etwas Substanzielles zur Predigt beigetragen haben. Ok, ich erinnere mich an eine Stelle aus dem Bestseller von Rabbi Kushner: When bad things happen to good people, an welcher er aus der Vermutung, dass der Prolog und Epilog des Hiobbuches nachträglich hinzugefügt wurde, um die theologischen Spannungen zu glätten und die Rechnung doch irgendwie noch aufgehen zu lassen, faszinierende theologisch-seelsorgerliche Aussagen herausholt – ich will also nicht sagen, dass solche Expertise nie etwas bringt. Ich meine einfach, dass die Textfledderei des mittleren 20. Jahrhunderts von Predigenden zu Recht als fruchtarmes Unterfangen zurückgelassen wurde. Auch ausgesprochen interessierte Pfarrpersonen und Pastoren leisten sich den Luxus meist nicht mehr.
Und was den naiven Glauben und die Aufklärungsverzögerung betrifft: Sicher möchte ich selbst nicht hinter das in der Neuzeit gewonnene historische und erkenntnistheoretische Reflexionsniveau zurück. Die saloppe Bemerkung aber, ein Mangel an bibelwissenschaftlicher Kenntnis führe zu einem «naiven Glauben» (und der latent verächtliche Seitenblick auf die charismatische Frömmigkeit) hat etwas Snobistisches – und auch Geschichtsvergessenes. Oder wollen wir ernsthaft der platonisch-philosophischen Schriftexegese eines Philo von Alexandrien, der allegorischen Auslegung eines Origenes, den wortgewaltigen und scharfsinnigen Kommentaren und Predigten der Reformatoren einen «naiven Glauben» unterstellen, während wir uns unserer aufklärerischen Erleuchtung rühmen? Das wäre nicht nur unsäglich arrogant, sondern auch atemberaubend engstirnig – und natürlich möchte ich das weder dir noch dem ehrenwerten Herrn Professor unterstellen, darum der Konjunktiv. Wer so denkt, müsste froh sein, dass die moderne Theologie die Bibel und das Evangelium aus den Händen (oder Wahrnehmungen) der voraufklärerischen Naivlinge befreit haben, und dankbar, dass Gott die Kirche in dieser 15-hundert-Jährigen Geschichte des primitiven Bibelzugangs ohne angemessenes historisches Bewusstsein nicht völlig hat untergehen lassen…
Völlig ausser Acht gelassen werden dabei ganz andere Bibelzugänge, die über Jahrhunderte hinweg Menschen in Bann gezogen, Glauben gestiftet und Kirche geprägt haben – ganz ohne Kenntnis historisch-kritischer Methodologie. Oder denken wir ernsthaft, das Gleichnis vom verlorenen Sohn oder der Psalm 23 seien auf Bibelwissenschaftler:innen angewiesen, die uns erklären, wie diese Texte entstanden und welche Quellen alle in sie eingeflossen sind, bevor sie zu uns sprechen, Vertrauen wecken und Hoffnung stiften können (nicht nur naiven Glauben)?
(Wenn ich mir hier selber zuhöre, wird mir etwas schummrig – weil ich in meinem bisherigen Umfeld immer leidenschaftlich für die Bedeutung theologischer Forschung eingestanden bin und um die Anerkennung bibelwissenschaftlicher Einsichten gekämpft habe. Aber die Art und Weise, wie hier ein «unaufgeklärter» Glaube verhandelt wird, scheint mir auf eine andere, rationalistisch-elitäre Engführung hinauszulaufen…)
Danke für die ausführliche Antwort! Ja, keiner kann aus seiner Haut heraus, auch ich nicht. Aber lernen von anderen, sich als Teil der jüdisch-christlichen Geschichte zu verstehen, einer globalen Bewegung anzugehören und daher etwas bescheidener zu werden. Es gab einfach Zeiten und es gibt einfach Gegenden in dieser Welt, wo Gott und der Bibel mehr zugetraut und Glaube kraftvoller, wenn nicht vollmächtiger, gelebt wurde und wird. Ich vermisse hier etwas Respekt und Wertschätzung vor der Wirkungsgeschichte, die Gott durch die Bibel über lange Zeiträume und in verschiedenen Kulturen ausgelöst hat. Wo wären wir beispielsweise ohne die schreibenden Mönche, die Reformation und die Missionsbewegungen, die der Bibel mit Hochachtung begegnet sind?
Top! .. von Manuel.
Es gab und gibt Zeiten, Gegenden oder Denominationen, wo die Bibel als Wort Gottes kaum eine Rolle spielt bzw. spielte. Viele römisch-katholischer Christen oder Leute aus den orthodoxen Ost-Kirchen (vielleicht sogar die meisten) würden sich als sehr fromm bezeichnen und kämen nie auf die Idee, regelmäßig in der Bibel zu lesen. Zudem lässt die „Lehre“ vieler Kirchen neben der Bibel sehr viel Tradition einfließen. Was normal ist aus meiner Sicht.
Und selbst in protestantisch-konservativen Kreisen wird mit der Bibel sehr „pragmatisch“ umgegangen.
Die Bedeutung der Bibel für die meisten Gläubigen auf dieser Welt wird daher total überschätzt. Denn selbst die Bibel-frömmsten Christen lesen den größten Teil der Bibel kaum bis gar nicht, eben weil sich diese Teile ohne einen wissenschaftlichen bzw. historisch-kritischen Zugang erschließen.
Spielt es eine Rolle für meinen Glauben, ob Jesus tatsächlich als historische Person gelebt hat, gestorben und auferstanden ist? Nein, es spielt für mich keine Rolle. Würde ich an den historischen Tatsachen meinen Glauben festmachen wollen, so müsste ich mich fragen, warum es dem Herrn Gott beliebt hat, sich in einen Herrn Jesus zu inkarnieren. Und spätestens hier müsste ich dem Herrn Gott eine Absage erteilen: War nett mit Ihnen, mein Herr, aber ich orientiere mich lieber an einer Glaubensrichtung, die etwas mehr ajour und nicht so patriarchal verstaubt und bestenfalls eine Lehre ist, mit der die letzte Pastion der Herrschaft der Herren über Frauen und andere verteidigt werden kann, eine Art ‘Fort Knox’ des Patriarchats, wie Carel von Schaik u. Kai Michel in ihrem Buch ‘Die Wahrheit über Eva’ die katholische Kirche sehr trefflich charakterisieren. Ausserdem könnte mich der Zufall auch in eine ganz andere Religion katapultiert haben. Und ich behaupte, dass ich auch als Jüdin, Muslima oder Anhängerin irgend einer anderen Religion eine intakte Chance hätte, mit Gott in eine heilsame Verbindung zu treten auch ohne den Glauben an eine historische Persönlichkeit, in die sich Gott auf exklusive Weise inkarniert hat, um als Mensch (bzw. als Mann!) zu sterben und wieder aufzuerstehen.
“Das Wort Gottes hat einen Namen und hat in der Pubertät angefangen einen Bart und einen Schnauzerl (?) auszubilden” (Zitat Manuel). Hoppla. Vielleicht entdeckt man ja irgendwann doch noch die Gebeine Jesu und findet nach einer Analyse der Knochen heraus, dass er gar kein Mann, sondern eine Frau war, ähnlich wie dies kürzlich bei der Untersuchung der Gebeine Ulrich von Huttens der Fall war. Dann hätte das Wort Gottes in der Pubertät begonnen Brüste zu entwickeln. Wenn wir die 1. Schöpfungsgeschichte beiziehen, in der es heisst, dass Gott den Menschen nach seinem Bilde geschaffen hat, als Mann und Frau, so müsste er/sie sich, wenn er/sie sich inkarniert und Fleisch wird, doch als Zwitter inkarniert haben. Sonst ist das eine sehr störende Schieflage, wenn bei der Inkarnation nur ein Mann herauskommt, wo doch Gott Mann UND Frau ist. Eine missglückte Inkarnation, die ich Gott lieber nicht unterstellen möchte. Ich glaube, er/sie kann das besser.
Danke für die Rückmeldung auf mein zugespitztes Statement zur Inkarnation! Ich weiss allerdings nicht recht, was ich mit Ihrer Kritik anfangen soll: Niemand muss sich zum Christentum halten, niemand muss den christlichen Inkarnationsgedanken wertschätzen – aber wer es tut, hält damit fest, dass Gott sich in einem konkreten Menschen in Raum und Zeit, in eine historisch kontingente Situation hinein inkarniert hat. Ich hätte keine Probleme mit einem Gott, der zur Frau wurde, ich fände das in vieler Hinsicht sogar sehr stimmig. Jesus war aber nach allem was wir wissen ein Mann. Das bedeutet aber wohl nicht, dass nur Männer von ihm lernen oder nur Männer sich mit ihm identifizieren könnten – oder dass er nur für Männer sein Leben hingeben konnte. Wer die Inkarnation auf solche Weise identitätspolitisch vereinnahmt, stösst überall auf Probleme: Jesus war ja nicht nur ein Mann, er war ein Israelit – er war also modern gesprochen weder weiss noch schwarz, er war auch nicht behindert, nicht autistisch, nicht akademisch gebildet usw. Wenn Jesus nur seinesgleichen etwas zu bedeutet hätte, hätte er gar niemandem etwas zu bedeuten.
Vielen Dank für die Antwort! Ich schätze den christlichen Inkarnationsgedanken sehr, allerdings nicht in der enggeführten Form einer religiösen Legende, die sich aufgrund ihrer Entstehung in einem patriarchalen Umfeld vor 2000 um eine männliche Person rankt. Es ist mir leider nicht möglich, Gott derart klein zu denken, dass er sich nur in diesem einen Wanderprediger inkarniert haben sollte. Was aber nicht heisst, dass ich diesen Mythos mit seiner spirituellen Wahrheit, die er birgt, nicht wertschätze. Allerdings ist das Zentrum desselben von Anfang an nicht die Geburt und Inkarnation, sondern der Tod und die Auferstehung. Die Evangelien sind ja nichts anderes als Passionsgeschichten mit einer etwas lang geratenen Einleitung. Der Clou der Sache ist für mich, dass wir in diesem gekreuzigten Menschen Gott selber sehen. Und um diesen Fakt weiter verständlich zu machen, braucht es dann die Lehre der Inkarnation. Von daher verstehe ich das Ganze. Ob ich glaube, dass Gott sich in einem Mann mit Namen Jesus von Nazareth, der in der Pubertät einen Bart bekommen hat, inkarniert hat, ist meiner Ansicht nach völlig zweitrangig und in dem Falle, wo ich es für eine historische Tatsache ansehe sogar höchst hinderlich. Die mythische Person Jesus von Nazareth ist für mich wie ein Brennglas, in welchem sich alle Gotteserfahrungen und Hoffnungen, die sich im Laufe der Religionsgeschichte Israels herauskristallisiert haben bündeln. Sozusagen ein religiöser Bouillonwürfel für die Heiden. Die Juden, welche in ihrer Tradition gross geworden sind, brauchen diesen Bouillonwürfel nicht, sie haben ja schon die Suppe. Ok, ist jetzt vielleicht eine etwa plumpe Metaphorik, mir fällt in der Schnelle nichts besseres ein 😉
Danke für die Replik! Ich glaube hier gehen unsere Überzeugungen sehr weit auseinander. In gewisser Weise würde ich zwar auch sagen wollen, dass Inkarnation in einem viel weiteren Sinne geschieht – überall, wo sich der Geist Gottes in dieser Welt Ausdruck verschafft, überall, wo Gott in Menschen Raum gewinnt, findet «Inkarnation» statt. Aber diese ganzen Inkarnationen Gottes werden ermöglicht und zusammengefasst in der ultimativen Inkarnation und Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus. Und ja, das ist ein höchst partikulares Ereignis, dessen Historizität für meinen Glauben schlechterdings entscheidend ist.