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Hexen als neue Ikonen des Feminismus. Eine kritische Betrachtung

Mit Hexen kenne ich mich nicht besonders gut aus. In den Kinderversionen der Märchen, die ich als Kind las, waren Hexen «gfürchige» und böse Figuren.

Oft kinderlose, hässliche Stief- oder Schwiegermütter. Oder alte Frauen, die die Not anderer ausnutzten, ihnen schaden oder sie aus Eifersucht töten wollten.

Maximal untauglich als Rollenvorbild.

Neuinterpretation einer Figur

Im letzten Jahrhundert hat sich das Bild von Hexen gewandelt. Feministische Forscher:innen haben die Hexe rehabilitiert. Heute sind Hexen in der Popkultur angekommen. Menschen haben begonnen, sich als Hexen zu identifizieren – aus neuen Gründen:

Sie zelebrieren Hexen als die ersten Feministinnen, die eigenständig und unabhängig lebten und Schönheitsideale unterliefen.

Ob sich die feministische Identifikation auf Hebammen bezieht, die auch Abtreibungen durchführten, auf soziale Rebellinnen (um nur zwei mögliche Deutungen zu nennen), oder auf eine Mischung aus beidem, ist nicht vollständig geklärt. Nicht selten sind die neuen, selbsterklärten Hexen Menschen, welche sich für Gleichberechtigung, Inklusion und Diversität einsetzen.

Mir ist diese Identifikation zugegebenermassen etwas suspekt. Wieso reicht nicht einfach der Begriff Feministin? Was macht eine Hexe so besonders, oder anders gefragt: zur besseren Identifikationsfigur? Die aktuelle «Neue Rundschau», eine Anthologie aus dem S. Fischer Verlag, nähert sich dieser Figur an.

Für Feminist:innen sind Hexen Ikonen, für traditionell-religiöse Menschen abschreckend. Dies lässt sich am Mix der Begriffe auf dem Buchcover ablesen: Zusammen mit dem Oberthema der Hexen werden Okkultismus, Geschlecht, Gewalt und Spiritualität genannt. Insbesondere Okkultismus dürfte Christ:innen abschrecken; der Begriff steht für nichtgöttliche Mächte, die in Anspruch genommen werden.

Was Hexen ausmacht

Der Start des Buchs ist feministisch. Robin Morgans Manifest der feministischen Organisation «Women’s International Terrorist Conspiracy from Hell» – kurz W.I.T.C.H. – aus den 1960er-Jahren interpretiert die Hexe als feministische Galionsfigur.

Das Manifest ist bewusst provokant verfasst: «Alles, was repressiv, ausschliesslich auf das Männliche ausgerichtet, gierig, sittenstreng, autoritär ist: Das ist eure Zielscheibe.»

Als Waffen gegen dieses Männliche sollen Theater, Satire, Magie, aber auch Pistolen und Katzen dienen. Ich atme erleichtert auf, als ich recherchiere, dass W.I.T.C.H. nicht durch Gewalt auffiel, sondern mit kapitalismuskritischen Aktionen, in denen sie beispielsweise verkleidet die Wall Street verhexten. Das ist mir sympathisch.

Das Männliche als Gesamtes zu verurteilen, trifft es für mich nämlich nicht auf den Punkt. Auch wenn in patriarchalen Strukturen sicher mehr Männer Machtpositionen innehatten und unsere Gesellschaft prägten, halte ich Männlichkeit als Ganzes nicht für toxisch.

So rätsle ich weiter, weshalb man sich für feministische Anliegen als Hexe identifizieren soll.

Eine queere Hexe im 16. Jahrhundert

Mehr Verständnis dafür löst der Beitrag von Kim de l’Horizon aus.

In Alice Samuel, 1593 als Hexe betitelt und gemeinsam mit Mann und Tochter gehängt, findet die nonbinäre Autorperson eine nicht geschlechterkonforme Figur.

Alice Samuel wurde posthum auf ein Hexenmal untersucht, das sie als Hexe identifizieren sollte. Der Gefängniswärter und seine Frau fanden im Intimbereich «a little lump of flesh». Ob übergrosse Klitoris, ob Mikropenis, fest steht: Die Wirkung, die der Prozess an Samuel hatte, hatte gesellschaftspolitisch Einfluss. So brachte der englische König im «Witchcraft Act» von 1604 Hexerei in Verbindung mit dem Teufel.

Kim de l’Horizon wiederum rehabilitiert Alice Samuel als geschlechtsfluide Verbündete und schliesst damit an «Blutbuch» an, in dem als Hexen betrachtete Frauen bereits eine wichtige Rolle spielen. Ausserdem studiert de l’Horizon selbst Hexerei und identifiziert sich als Hexe. In Anbetracht der Geschichte mit Alice Samuel durchaus nachvollziehbar.

 

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Das 1×1 der Hexennarrative

Mit einem 1×1 der Hexennarrative geht es bei Jarka Kubsova und Madeline Miller weiter. Beide schildern die historischen und gesellschaftlichen Gefüge, in denen der Hexenbegriff geformt wurde. Wie sich religiöse Narrative über Hexen wandelten, die anfänglich als kirchenkritische Frauen galten, die Pakte mit dem Teufel schlossen, hin zu gesamtgesellschaftlichen Urteilen an Frauen, welche im 16. und 17. Jahrhundert mit dem Tod endeten.

Miller zitiert die Suffragete Matilda Joslyn Gage, die behauptete, Hexenverfolgung sei der Ausdruck einer tief verwurzelten Frauenfeindlichkeit. Als Gedankenexperiment solle man den Begriff der Hexe durch den Begriff «Frau» ersetzen.

Miller verleiht diesem Punkt Nachdruck mit ihrem Buch «Ich bin Circe». In der Reinterpretation von Homers Odyssee gibt sie der Zauberin Circe gute Gründe, weshalb diese Männer in Schweine verwandelt: Die Männer wollten sie vergewaltigen, Circe wehrt sich.

Für Miller wie für Kubsova ist das Label der Hexe wirksam, um Frauen, die Ungerechtigkeiten nicht akzeptieren, gesellschaftlich zu ächten oder sie aus dem Weg zu schaffen.

Hexenverfolgung bleibt real

Fast will ich mich damit trösten, dass Todesurteile der Vergangenheit angehören. Doch Leo Igwe von der «Advocacy for Alleged Witches» schreibt in seinem Beitrag, dass in vielen afrikanischen Ländern die Verurteilung als Hexe – von der übrigens auch Männer betroffen sind – eine ernsthafte Bedrohung darstellt. Igwe schildert Fälle, in denen Menschen als Hexen bezeichnet und getötet wurden.

Zwar mussten die Täter:innen teilweise ins Gefängnis, doch insbesondere in ländlichen Gegenden gebe es wenig Regulationen. Anders als in Europa habe die Modernisierung die Hexenverfolgung nicht beendet. Dementsprechend wünscht Igwe sich global mitgetragene Lösungen, um Hexenverfolgung zu beenden und keine Klischees wie «In Afrika sind Menschen nun mal abergläubisch».

Das Problem mit den Heilsteinen

Auch Elissa Washuta aus den USA holt Hexen in die Gegenwart.

Washuta beschreibt, wie sie als indigene Person mit der Geschichte ihrer verfolgten Vorfahren ringt, gleichzeitig aber feststellen muss, dass sich Menschen indigene Praktiken wie Kräuter-Verbrennen oder Steine unkontextualisiert aneignen.

Dieser Punkt schwappt ganz eindeutig in meinen Lebenskontext: Dieselben Rituale, die Washuta beschreibt, haben auch in der Schweiz Hochkonjunktur. Weisse Menschen verdienen aktuell viel Geld, in dem sie Heil- oder Energiesteine verkaufen und Rituale kommerzialisieren, die sie nur unvollständig kennen.

Einige Beispiele: Wasserflaschen oder Duftkerzen mit einem Rosenquartz, der Liebe und Beziehung fördern soll, oder einem Bergkristall, der für Klarheit steht. Auch Schmucklabels verkaufen Ringe und Halskette mit Steinen, die für Positivität und das Verarbeiten der Vergangenheit stehen. All das zu gesalzenen Preisen.

Ich schlucke. Ich besitze solche Duftkerzen und Ringe, wegen des Dufts, wegen der schönen Steine. Die Zuschreibungen fand ich immer Unsinn. Dass sie Tradition haben, darum habe ich mich nicht gekümmert.

Gleichzeitig verliert die indigene Bevölkerung in den Amerikas ihren Lebensraum oder lebt in Armut. Während ihre Rituale und Praktiken aufgewertet werden, fliessen die Einnahmen nicht in ihre Gemeinschaften.

Feministin oder Hexe oder beides

Die Lektüre schüttelt mich durch. Dafür erscheint mir die Antwort auf die Frage, ob ich mich nach der Lektüre jetzt lieber als Hexe denn Feministin identifiziere, hinfällig.

Erstens ist der Begriff der Hexe bis heute kein neutraler. Für manche, insbesondere in westeuropäischen Ländern, ist es ein Begriff, dessen Urteil sie umkehren und darin Inspiration und Stärke finden, ihre Identität auszuleben. Für andere ist es eine kulturelles Erbe, das sie belastet oder dessen Urteil ihr Leben bedroht.

Zweitens empfinde ich den Begriff für die aktuellen Herausforderungen von Gleichberechtigung in der Schweiz als ausschliessend. Das Bild der Hexe ist ein weibliches oder ein queeres, je nach Leseart.

Das Männliche wird als Gegner, als Feind verstanden. Das ist kein Bild, das dazu verhilft, dass wir uns als Gesellschaft verbindend engagieren.

Doch gerade in diesen Tagen und Zeiten der Polarisierung hätten wir es nötig, dass auch Männer sich für Gleichberechtigung einsetzen, oder dass Schwangerschaftsabbrüche legal bleiben. Das sind keine Themen, die nur Frauen, queere Menschen oder Hexen etwas angehen.

Neue Rundschau: Okkultismus, Geschlecht, Hexen, Gewalt, Spiritualität, Fischer 2023

Bild: Veranstaltung eines zeitgenössischen W.I.T.C.H.-Ablegers in den USA (Wikimedia Commons). 

5 Kommentare zu „Hexen als neue Ikonen des Feminismus. Eine kritische Betrachtung“

  1. Ich habe noch nie verstanden, warum man mit negativ belegten Narrativen versucht, positive Aufmerksamkeit zu bekommen. Meine Vermutung ist, dass eine positive Resonanz vom Gegenüber garnicht gesucht wird sondern in erster Linie die Aufmerksamkeit stiller Gleichgesinnter. Das funktioniert bestimmt auch, die erforderliche Zustimmung einer Mehrheit, die zum erreichen von nachhaltigen Veränderungen in einer demokratischen Gesellschaft nun mal nötig ist, bekommt man so allerdings nicht, wie man aktuell an den Reaktionen auf die Provokationen der „Letzten Generation“ sehen kann. Wenn die Auswahl der Mittel offensichtlich nicht zielführend ist, weshalb ändert man dann nicht die Strategie? Aus Tradition? Weil man das Image mag? Ich vermute bei den neuen „Hexen“ eher letzteres.

  2. In meiner Kindheit las ich „Die kleine Hexe“ von Otfried Preussler. Es mag in einem solch intellektuellen Forum wie Reflab lächerlich tönen, doch hatte das Buch zur Folge, dass der Begriff „Hexe“ für mich nie negativ besetzt war. Hexen sind einfach in irgendeiner Weise besondere, interessante Frauen. Wenn Feministinnen sich heute als Hexen bezeichnen, beeindruckt mich dies nicht. Ich empfinde es einfach als grössenwahnsinnig und lächerlich – und als Missbrauch des Leids, das Frauen während der Hexenverfolgungen erleiden mussten.

  3. Grüezi.
    Vielen Dank für diesen spannenden Artikel. Ich bezeichne mich selbst auch als Hexe. Dies, weil ich seid Jahren einen Spirituellen Weg verfolge, der weit ab vo Christlichen glauben ist. Den Titel Hexe (oder Hagazussa/ Heckenreiter) spricht mich aus vielen Gründen an. Keiner davon hat mit Feminismus zu tun. Ich kenne persönlich auch Männer, die sich als Hexe bezeichnen. Dies meist aus Solidarität mit all den Frauen und Männern die über die Jahrhumderte aus unterschiedlichen Gründen unter diesem Namen verfolgt, gefoltert und getötet wurden.

  4. Danke für den spannenden Artikel über die Rolle der Hexen im Feminismus!
    Gerne verweise ich in diesem Zusammenhang auf das Buch Hexen: Glaube, Verfolgung, Vermarktung von Wolfgang Behringer. In dem kompakten Büchlein legt der Historiker einen historisch fundierten Überblick über die Hexen dar, deren Verfolgung, aber auch deren Wirkungsgeschichte. Gemäss Behringers Recherchen erlebte der Mythos Hexen eine erste Rehabilitierung durch die NS Propaganda als «Hüterinnen alten Wissens». Laut der NS Propaganda habe die Kirche die Hexen als Bedrohung empfunden und sie darum verfolgt. Dass gerade Anhänger einer Ideologie, welche ein sehr patriarchales gesellschaftliches Ideal vertrat, die ersten waren, welche Hexen rehabilitierten entbehrt, im Blick auf deren Rolle als Ikonen des Feminismus, nicht einer gewissen Ironie…
    Wie auch immer – das Fazit des Artikels hat mich berührt und gefreut. Mit ganzem Herzen kann ich die Erkenntnis, dass wir gemeinsam (Männer und Frauen) die Zukunft gestalten müssen, nur bejahen. Ja, Unterdrückung, gerade auch patriarchale, muss ein Ende finden. Sie kann und darf aber nicht durch ein neues, ebenfalls einseitiges System abgelöst werden. Vielleicht liegt gerade da die Chance der Kirche konstruktiv beizutragen: Versteht der theologisch gedeutete Begriff der Freiheit nicht einfach als ein befreit werden von, sondern viel mehr ein befreit werden zu. So wie wir Menschen nicht einfach von Schuld befreit, sondern in die versöhnte Gemeinschaft mit Gott und unseren Mitmenschen hinein befreit werden (siehe Exodus und Apostelgeschichte), so geht es auch im Geschlechter- und Klassenkampf nicht lediglich um ein Freiwerden von Unterdrückung, sondern darum, in eine versöhnte Gemeinschaft ehemaliger Opfer und Täter hinein befreit zu werden. Dazu muss freilich das Unrecht beim Namen genannt werden. Die Heilsarmee leistet diesbezüglich bereits seit 1850 Pionierarbeit. Meine Hoffnung und mein Gebet ist, dass wir es als Kirche nicht nur puncto Feminismus und Emanzipation, sondern grundsätzlich immer wieder schaffen, prophetisch die Werte des Gottesreiches zu entdecken und zu leben.

  5. Annette Spitzenberg

    Danke für diese differenzierte Rezension. Persönlich bin ich der Überzeugung, dass noch viel aufgearbeitet werden müsste und sollte bezüglich der Hexenverfolgungen und der damit einhergehenden Misogynie, gerade auch in der Theologie. So wie ja auch versucht wird, der Antijudaismus aufzuarbeiten. Und ja, leider ist dies auch heute ein Thema, ausserhalb Europas, aber auch hier bei uns. Da sind transgenerative Traumata nach wie vor aktiv. Auch ich wäre in den entsprechenden Zeiten als Hexe verbrannt worden. Und auch ich bin der Meinung, dass solche Aufarbeitung nur gemeinsam gelingt. Wenn sich jefrau als Hexe bezeichnet, sehe ich dies als eine Art Reclaiming: Der Begriff, der früher ein Todesurteil bedeuten konnte, wenn man dessen bezichtigt wurde, wird nun für einen selbst verwendet. Genauso hat auch die queere Szene immer wieder abwertende Zuschreibungen als stolze Selbstbezeichnung übernommen (z.B. das Wort „dyke“ für Lesbe). Wenn die Selbstbezeichnung als Hexe provoziert, so ist das wohl eher das Problem derjenigen, die sich dadurch provozieren lassen. Auch das Bekenntnis, Feministin zu sein, kann ja schliesslich provozieren. Und ich darf gerne daran erinnern, dass auch bei der Einführung des Frauenstimmrechts (über das Männer bestimmten!), Frauen vorgeworfen wurden, sie würden zu sehr provozieren. Ich fände es auch schön, wenn die Überwindung patriarchaler Strukturen ganz in Harmonie vonstatten ginge. Und ich würde mir auch wünschen, dass dies allein mit Selbsteinsicht darin ginge, dass sie letztlich auch die Männer in Rollenbilder drängen. Doch ich halte Provokation für manchmal leider unerlässlich resp. unausweichlich, da es meistens jemenschen gibt, der sich provozieren lässt.

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