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 Lesedauer: 7 Minuten

Fast zugrunde gegangen statt hetero geworden

Triggerwarnung: In diesem Artikel sowie im Film «Pray Away» geht es um Diskriminierung von LGBTIQ. Es werden selbstverletzendes Verhalten und Suizid erwähnt. Falls dich diese Themen triggern, überleg dir gut, ob du den Film wirklich schauen oder diesen Artikel lesen möchtest. Falls doch, stelle sicher, dass du mit jemandem darüber reden kannst. Falls du niemanden in deinem Umfeld dafür hast, findest du hier die Online-Seelsorge oder ein offenes Ohr unter Telefonnummer 143 (Dargebotene Hand).

Im Zusammenhang mit Corona wissen wir: Fakten reichen nicht, um Skeptiker*innen von etwas zu überzeugen. Dazu braucht es Emotionen. Noch wirkungsvoller ist es, wenn betroffene Menschen ihre Geschichte erzählen.

So läuft es auch häufig, wenn Christ:innen ihre Ansicht dazu ändern, ob Homosexualität mit Heterosexualität gleichwertig ist.

Manche befassen sich auf theologischer Ebene damit, ob biblische Texte tatsächlich gegen Homosexualität argumentieren, und kommen zum Schluss, dass die sexuelle Orientierung, wie wir sie heute verstehen, nichts mit den Bibelstellen zu tun hat, die gerne dagegen angeführt werden. Bei vielen jedoch gibt die Begegnung mit queeren Christ:innen den Ausschlag, Homo- oder Bisexualität nicht mehr für eine Sünde zu halten. Das Buchprojekt «Nicht mehr schweigen», das vor zwei Jahren durch Crowdfunding ermöglicht wurde, verfolgte diese Strategie.

Und jetzt auch der Netflix-Dokfilm «Pray Away».

Zerrissen bis zur Selbstverletzung

Zum Beispiel Julie Rodgers: Als sie sich als Teenager bei ihrer Mutter als lesbisch outete, brachte sie diese zu einem christlichen «Therapeuten». Sie begann, bei einem sogenannten «Ex Gay»-Projekt mitzuarbeiten, und wurde zu einer gefragten Rednerin. Ihre Message war, dass der korrekte christliche Umgang mit der Homosexualität ein zölibatärer Lebensstil sei.

In «Pray Away» erzählt Julie Rodgers, wie sie als sehr junge Frau in diesen Vorträgen ihre intimsten Gefühle und Erlebnisse öffentlich machte. Mit der Mission, Menschen zu zeigen, dass sie mit ihrer als problematisch erlebten sexuellen Orientierung nicht allein und trotzdem (!) von Gott geliebt seien.

Und wie sie sich dabei so zerrissen und krank fühlte, dass sie begann, sich selber zu verletzen.

Über die Jahre änderte sich ihre Einstellung und sie wurde zu einer Befürworterin für die Akzeptanz queerer Menschen in der Kirche. 2018 heiratete Rodgers. Die Narben auf ihren Schultern von den Verletzungen, die sie sich als junge Frau selbst zugefügt hat, sind in den Aufnahmen, die der Film von ihr im Brautkleid zeigt, gut zu sehen.

Bis der Körper rebelliert

Eine andere im Film porträtierte Person ist John Paulk: Als «erfolgreich umgepolter Schwuler» gründete er zusammen mit einer «Ex-Lesbe» eine Familie und wurde zum Vorzeigemann der «Ex Gay»-Bewegung in den USA. Heute bezeichnet er sein damaliges Leben als Lüge und lebt in einer Beziehung mit einem Mann.

Oder Yvette Cantu Schneider, die jahrzehntelang als «ehemalige Lesbe» für konservative politische und religiöse Anliegen lobbyierte. Dies, bis ihr Körper sie mit Panikattacken ausser Gefecht setzte und sie zwang, ehrlich zu sein mit sich selber. Sie ist nach wie vor glücklich mit ihrem Mann und ihrer Familie, bezeichnet sich aber heute als bisexuell.

Der Film ist nie reisserisch: Regisseurin Kristine Stolakis lässt die Protagonist:innen ihre Geschichte sowie die Geschichte von «Exodus International» erzählen. Leider verzichtet sie dafür weitgehend auf Zahlen, Statistiken oder Studien zur Schädlichkeit von sogenannten «Konversionstherapien». Insofern enthält der Film für alle, die sich bereits mit dem Thema befasst haben und betroffene Menschen und ihre Erfahrungen kennen, wenig Neues. Er bestärkt jedoch die Einsicht, wie traumatisch solche «Therapie»-Versuche sein können, und erreicht durch die prominente Plattform auf Netflix vielleicht auch Menschen, welche bis anhin anders dachten.

Teufelskreis von Scham und falscher Hoffnung

«Pray Away» beleuchtet den Teufelskreis – im wörtlichen Sinn! – von christlichen Konversionstherapien: Indem die heterosexuelle Ehe und die traditionelle Familie als einzig gottgefälliger Lebensentwurf propagiert werden, wird bei bi- und vor allem homosexuell empfindende Menschen Scham und Not ausgelöst. «Ich glaubte, grundschlecht zu sein», so Julie Rodgers. Gleichzeitig wird die Hoffnung geschürt, dass Veränderung der sexuellen Orientierung möglich sei, und paradoxerweise dienen Konferenzen und Veranstaltungen von «Ex Gay»-Organisationen als «safe spaces» für queere Menschen, denn sie fühlen sich nicht mehr allein mit ihrem «Problem». Es entsteht eine enorme Abhängigkeit von den betreffenden Organisationen.

Homosexuelle Gefühle sind in der evangelikalen Welt oft akzeptiert, solange man aktiv dagegen ankämpft. Tritt jedoch mit der Zeit keine Veränderung ein, wird der Kampf zermürbend und die Scham und Not immer grösser. Die Zerrissenheit führt bei vielen zu Selbsthass, Suchtproblemen oder sogar dazu, dass sie ihrem Leben ein Ende setzen.

Homosexualität ist okay – solange kein Sex im Spiel ist

Einige Paradigmen der konservativen Sicht auf Homosexualität, die der Film herausschält:

  • Gelebte Homosexualität ist Sünde, eine integrierte, gesunde Sexualität ist heterosexuell und wird ausschliesslich im Rahmen der Ehe praktiziert.
  • Queer sein ist keine Identität, sondern eine Art und Weise, zu handeln. Wer also keine gleichgeschlechtlichen Handlungen mehr vollzieht, ist nicht mehr gay. Deswegen wird auch von einem «homosexuellen Lebensstil» gesprochen, wie von etwas, wofür man sich entscheidet.
  • Als «verändert» gilt man bereits, wenn man zu einer einzigen Person des anderen Geschlechts eine romantische Beziehung aufbaut. «Du musst dich nicht generell zu Frauen hingezogen fühlen, eine einzige reicht schon. Das ist die Frau, in die du dich verliebst und die du heiratest», erklärt John Paulke im Film.
  • Homophobie ist auch ein wichtiges politisches Instrument: Der Kampf gegen LGBTIQ-Rechte dient Konservativen dazu, ihre Front «zusammenzuschweissen».
  • Bevor Konversionstherapien in Verruf gerieten, beschafften christliche Organisationen Psycholog:innen und Psychiater:innen unzählige Klient:innen. Diese Fachleute bestärkten mit ihren wissenschaftlichen Publikationen wiederum das Argumentarium der christlichen Bewegungen, dass eine Veränderung möglich sei – und sorgten so für «Nachschub» an Klient:innen.

Die Geschichten der Protagonist:innen werden im Film parallel zu Aufstieg und Fall der grössten ehemaligen christlichen «Ex-Gay»-Organisation in den USA erzählt, «Exodus International». 2013 wurde sie nach fast 40-jährigem Bestehen aufgelöst, nachdem die Leitenden einsahen, dass sie mehr Schaden anrichteten als Menschen zu helfen. Dass «to pray the gay away», «die Homosexualität wegzubeten», eben nicht funktioniert, sondern bei vielen unendliches Leid verursacht.

Einer tanzt aus der Reihe

Eine Person, die im Film porträtiert wird, fällt aus der Reihe: Jeffrey McCall, der sich als «ehemals trans» bezeichnet und eine Organisation für «Befreiung» gegründet hat. Seine zarte Stimme und sein sanftes Auftreten kontrastieren mit seinen Aussagen, in denen er den Teufel dafür verantwortlich macht, dass Menschen homosexuelle Gefühle entwickeln, und davor warnt, «seinen Körper zu zerhacken» (womit er geschlechtsangleichende Operationen meint).

So bilden die Auftritte McCalls im Dok-Film Einblicke in aktuelle christliche Bewegungen, welche die «Abkehr vom homosexuellen Lebensstil» als Möglichkeit und als einzig wünschenswertes Ziel für queere Menschen propagieren. Bei den Aufnahmen von einem Treffen der Gruppe, wo die Teilnehmenden zu lautem Gesang auf der Stelle marschieren, läuft es einem kalt den Rücken hinunter.

«Solange es Homophobie gibt, wird es auch Menschen geben, die ‚Heilung‘ von Homosexualität fordern und versprechen.»

So Michael Bussee, Mitbegründer von «Exodus International», der sich bereits drei Jahre nach der Gründung wieder von der Organisation distanzierte.

Konversionstherapien in der Schweiz

In der Schweiz gibt es übrigens nach wie vor zumindest eine, als Verein organisierte, christliche Organisation, welche behauptet, dass die sexuelle Orientierung frei wählbar sei. Auf der Seite mit dem Kontaktformular geben die Betreiber an, eine grosse Menge an Anfragen zu erhalten, und bitten für verspätete Antworten deswegen um Entschuldigung.

Es gibt auch hierzulande immer wieder Menschen, welche angeben, «geheilt» zu sein in dem Sinne, dass sie nun in einer heterosexuellen Beziehung leben. Es überwiegen jedoch die Berichte derjenigen, bei welchen Konversionstherapie – bestenfalls! – wirkungslos blieb, bei denen sie zu Traumata führte oder Menschen durch den impliziten Druck sogar in den Tod trieb.

Dass Homosexualität als minderwertig propagiert wird, schafft nichts als Leid.

«Ich verlor meine Seele, weil ich versuchte, das Richtige zu tun», sagt ein junger Mann in «Pray Away».

Julie Rodgers, welche heute an einer Bibelschule unterrichtet, erwähnt, dass sie Gott unterscheidet von den religiösen Menschen, die sie für ihre Zwecke eingespannt haben. Und sie betont, wie wichtig eine explizit anerkennende Haltung von Kirchen gegenüber queeren Menschen sei: Für viele, welche von Christ:innen unter Druck gesetzt worden seien, sei dies ein essenzieller Teil des Heilungsprozesses.

 

«Pray Away» auf Netflix

Bild: Multitude Films

5 Kommentare zu „Fast zugrunde gegangen statt hetero geworden“

  1. Christian Messner

    „ob biblische Texte tatsächlich gegen Homosexualität argumentieren“ – wer im Streit mit pray-away-Befürwortern auf diese Frage einsteigt, macht einen Fehler.
    ERST kommt nämlich das Bekenntnis zur Liebe unabhängig von der sexuellen Orientierung,
    DANN kann man über die AT-Aussagen dazu streiten – ergebnisoffen!
    SELBST WENN rauskäme, dass im AT alles außer Hetero verworfen wird, muss man zu dem stehen, „was Christum treibet“, zur Liebe. Auf ein autoritäres Verständnis der Bibel als „papiernen Papst“ sollte man sich nie einlassen.

    1. Jürgen Friedrich

      Mir gefällt der Ausdruck ‚Bibel als papierner Papst‘. Dazu gehört auch, dass nicht die Bibel, sondern der Interpret der Bibel die Rolle autoritär übernimmt. Das beanspruchen die Theologen für sich. – Hier ein Gegenmittel:

      Auch wenn es klingt leicht ungezogen,
      hier kommt gereimt ganz ungelogen,
      dass weltweit die Theologen – das Gesicht scheinheilig verzogen –
      logen, dass sich die Balken bogen,
      womit sie sich und Gott betrogen,
      was nunmehr ist hier aufgeflogen.

  2. Hanspeter Siegfried

    @Jürgen Friedrich:
    An Ihrem Kommentar stört mich, dass Sie «den Theologen» unterstellen, bewusst und böswillig gelogen haben und dies immer noch zu tun, um ihre Macht zu festigen. Selbstverständlich waren und sind auch Theolog*innen immer in ihrer jeweiligen Lebenszeit verhaftet, und ihr Denken steht immer unter dem Einfluss der Einschätzungen, die in ihrer Zeit als selbstverständlich gelten – sogar dann, wenn sie gegen ebendiese Einschätzungen rebellieren.
    Aber die theologischen Texte, die ich kenne (zugegeben: nicht sehr viele) atmen sehr oft den Geist einer offenen Auseinandersetzung mit drängenden Fragen, die sich aus der Lektüre der vielen biblischen Bücher und der langen Tradition theologischer Schriften ergeben.
    Wie gesagt: Es gibt lange Zeiten, in denen die Kirchen Teile der Herrschaftsstrukturen waren, und in diesen Zeiten haben viele Theologen aus der Bibel die Legitimität dieser Macht abgeleitet. Aber es gibt eben auch einen Bartolomeu de las Casas, der sich im 16. Jh., sichtbar schockiert von der schrecklichen Gewalt der Europäer gegen die amerikanischen Indigenen, bemüht, aus den christlichen Texten abzuleiten, dass diese Gewalt von Gott nicht gewollt sein kann. Dass er dafür auch Texte von Thomas von Aquin benutzt, zeigt, dass auch im 13. Jh. Theologen schon sorgfältig und offen an ihre Aufgabe gingen.
    Nüüt für unguet!
    H. Siegfried

  3. Pray away und EX-Gay-Bewegungen haben auch beigetragen, mit der Idee, dass „Heilung“ (sic!) geschah, wenn Mann und Frau sich finden, dass die LGBTIAQ+- Community selbst sehr kritisch ist bis heute, wenn eine Person sagt, sie* sei bisexuell und christlich. Man misstraut, dass die Person wirklich bisexuell ist, eher die Person hat sich noch nicht entschieden oder ist noch beeinflusst von der Kirche“. Sodass ich als Bisexuelle Christin, selbst ausgeschlossen wurde von Homosexuellen, zum Beispiel wurde in der St.Gallen Bisexuelle zum ersten queeren Gottesdienst in 2019 im Kirchenbote und auf Flyer der Kantonalkirche nicht eingeladen, als erklärt wurde, was queer bedeutet! Damals geschah auch dieser Aussschluss in der Community selbst bei Rückfrage. Es ist ganz schwierig in der Ostschweiz als Bisexuelle anerkennt zu werden in der Kirche, man akzeptiert, gleichgeschlechtliche Liebe erst sehr langsam (und teils nur, weil man muss aufgrund staatlicher Gesetze und kirchlichen Regelungem in der Evangelischen oder reformierten Kirche), aber dann nur bei Homosexuellen. Die Communities tun sich schwer, Bisexuelle und insbesondere christliche Bisexuelle als Teil der Community anzuerkennen, ein Mitgrund liegt sicher auch an Pray-away und Ex-Gay. Sodass es doppelt schwierig wird!

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