Dein digitales Lagerfeuer
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 Lesedauer: 6 Minuten

Einsamkeit: Eine stille Krise unserer Zeit

Es gibt viele Einsamkeiten. Und Phasen im Leben, da sind wir Menschen näher an der Einsamkeit gebaut. Wenn der/die Lebenspartner*in stirbt, wenn der Beruf wegfällt, in den Irrungen und Wirrungen der Adoleszenz, nach einem Umzug, im Alter.

Es gibt also die klassischen einsamen Lebensphasen und die Einsamkeitsmomente im Leben:

Die Einsamkeit im Sportunterricht, wenn immer mehr Klassenkamerad*innen schon in ein Team gewählt wurden und man nur noch darauf hofft, nicht als letztes gewählt zu werden. 

Oder die Einsamkeit, nachts allein an der Haltestelle zu stehen und zu hoffen, dass die 10 Minuten doch nur noch 2 Minuten sein mögen. 

Die Einsamkeit, jeden Morgen allein Kaffee zu trinken.

Jeder Mensch kann dieser Liste vermutlich noch seine persönlichen Einsamkeiten hinzufügen. Wie lauten deine?

Herausfordernd

Letzte Woche war ich auf einer Einsamkeitstagung. Wir waren bestimmt um die 100 Menschen, die sich der Einsamkeit nähern wollten. In der Hoffnung auf Lösungen, Ideen, praktische Hinweise, wie wir als Gesellschaft der Einsamkeit ein bisschen mehr Gemeinsamkeit entgegensetzen können.

«Einsamkeit als gesellschaftliche Herausforderung»: Das war der Titel.

Denn was im Wording bereits festgestellt wird: Einsamkeit ist ein Problem. Und als solches liegt es aktuell im Trend. Niemand will einsam sein, alle sind es ab und zu, regelmässig, immer wieder, vielleicht auch öfter als noch vor der Pandemie.

Wir kennen dieses unangenehme Gefühl, eine Leere im Bauch, eine Selbstverunsicherung und tiefe Traurigkeit.

Die Einsamkeit, die eigenen Gefühle nicht teilen zu können.

Unsexy

Wenn Artikel sich mit Einsamkeit beschäftigen, sind die dazugestellten Bilder häufig geprägt von gedeckten Farben und trostlosen Szenerien. Allein die Bilder zu betrachten ist deprimierend.

Ich sehe Menschen, die aus Fenstern starren, alte Menschen, Menschen, die allein im Wald, am Meer stehen oder hocken. Der Kopf ist gesenkt, der Blick ist abgewandt. Die Einsamkeit ist bildsprachlich eine sehr deprimierende Angelegenheit.

Auf der Tagung diskutieren wir, welche Strukturen es braucht, um betroffene Menschen zu erreichen. Die Sozialarbeiter*innen, die mit mir im Workshop sind, sprechen von Netzwerken, von Gruppen und Treffs. Alles Angebote gegen die Einsamkeit, Ideen gegen die deprimierenden Bilder in den Köpfen.

Aber ich spüre eine gewisse Resignation in Bezug auf das Thema. Denn wo ganz gross Einsamkeit draufsteht, geht niemand hin. Das sind zumindest die Erfahrungswerte. Die Scham ist zu gross. Wer outet sich schon freiwillig als einsam.

Die Einsamkeit allein in ein Restaurant zu gehen und zu dem Kellner zu sagen: Ein Tisch für eine Person, bitte. Die Einsamkeit am anderen Ende der Leitung, wenn niemand abhebt.

Ich spreche mit einem Kollegen in der Pause. Wir denken über Projekte nach, in denen Menschen mit gleichen Leidenschaften zusammengebracht werden, egal wie alt oder jung. Später frage ich mich, ob ich selbst bei einem solchen Projekt mitmachen würde. Ich bin mir nicht sicher.

Selbstgemacht

Vielleicht helfen ein paar Zahlen, um die Einsamkeit besser greifen zu können: Die Statista Studie von 2017 ermittelt, dass sich 38% der Schweizer*innen manchmal bis häufig einsam fühlen. Nach der Schweizerischen Gesundheitsbefragung 2022 sind es sogar 42% der Schweizer*innen, die sich mindestens manchmal einsam fühlen. Dabei variieren die Zahlen, je nach Erhebung.

Was jedoch überall zu beobachten ist, ist ein prozentualer Anstieg der Einsamkeitserfahrungen. Mehr leere Bäuche, mehr Traurigkeit, mehr Einzeltische. Aber auch mehr alleinstehende und alleinwohnende Menschen.

Die Einsamkeit nach einer Trennung, wenn die Hälfte der Möbel plötzlich aus der Wohnung verschwunden sind.

Ich persönlich richte mich durchaus gerne in meinem Alleinsein ein.

Fühlen wir uns wirklich immer einsamer, oder werden wir einfach immer mehr zu Einzellern und unsozialen Individuen? Halten wir die sozialen Dissonanzen einfach weniger gut aus?

Der Soziologe Albert Scherr betont in seinem Referat die Ambivalenz des Themas. Eine These ist, dass wir ein

«gewisses Maß an Einsamkeit nicht auch als unverzichtbare Kehrseite der Freiheit akzeptieren [müssen], die durch die Befreiung aus traditionellen Zwangsgemeinschaften ermöglicht wird.»

Resonanzlos

Ich habe keine klassische Familie mit Kind(ern) gegründet. Vielleicht bin ich später einsamer, weil ich mich schon früh dazu entschieden habe, keine Kinder zu bekommen. Ich weiss es nicht. Denn eine eigene Familie schützt auch nicht zwingend vor Einsamkeit.

Einsamkeitserfahrungen zu machen, scheint zum Mensch-Sein dazuzugehören. Wir können nicht nicht in Beziehungen sein. Dass bedeutet aber auch das Scheitern, die Störungen und den Abbruch dieser zu riskieren.

Physische Nähe zu anderen Menschen ist nicht gleichbedeutend mit der Abwesenheit von Einsamkeit. Ich kann viele Freundschaften pflegen, mich täglich mit unterschiedlichsten Menschen umgeben und trotzdem das Gefühl haben, ich bin furchtbar allein auf dieser Welt.

Billy Joel singt in seinem Song «Piano man»:

And the waitress is practicing politics; As the businessmen slowly get stoned; Yes, they’re sharing a drink they call loneliness; But it’s better than drinkin’ alone.

Zu zweit ist man vielleicht weniger allein, aber nicht zwingend weniger einsam. Zumindest nicht der Businessman und die Kellnerin aus dem Song von Billy Joel.

Die Einsamkeit, alleine einen Drink zu nehmen.

Es geht um Resonanz, oder anders formuliert, um die Resonanzerfahrungen in den Begegnungen, die ich habe. Beziehungen, die mir spiegeln: Ich verstehe dich, ich sehe dich, du bist wertvoll.

Aber auch die kurzen Gespräche in meiner Lieblingsbuchhandlung, wo mir der Verkäufer personalisierte Leseempfehlungen gibt. Oder das Gespräch mit meiner Kollegin auf dem Balkon, kurz vor der nächsten Sitzung. Diese kleinen informellen Klönschnacks, wie man in meiner Heimat zu sagen pflegt.

Zukunftsfähig?

Aber reichen schon ein paar mehr Klönschnacks und gut gemeinte Initiativen? Ich weiss es nicht. Ich habe keine Lösung und auch die Ideen, die mein Kollege und ich auf der Tagung gesponnen haben, werden vermutlich Ideen bleiben.

Ob die Einsamkeit nur eine kurze Konjunktur hat oder sich in unseren Bäuchen festsetzt?

Was sicherlich hilft ist ein kleiner Check Up mit sich selbst und den Menschen, die mir nahestehen. Eine Resonanzraumanalyse. Wie viele Katzen sind im Haushalt vorhanden? Mit welchen Küchengeräten führe ich intensive Gespräche? Wie viele einzelne Socken habe ich im Schrank?

 

Foto @unsplash

 

Seit dem 26. Mai läuft die Aktionswoche Einsamkeit vom Kompetenznetz Einsamkeit. Das Kompetenznetz Einsamkeit ist eine deutsche Initiative die von der Bundesrepublik gefördert wird. Seit 2024 gibt es in Deutschland auch einen Einsamkeitsmonitor. Eine in der Schweiz national koordinierte Initiative gibt es in dieser Form noch nicht.

Fabienne Iff hat fürs RefLab bereits einen Artikel über das Allein Leben geschrieben. Ihren Artikel lest ihr hier.

Johann Hinrich Claussen spricht in seinem Podcast Draussen mit Claussen über Einsamkeit in der Corona Pandemie als Leiden unserer Zeit. Seinen Podcast hört ihr hier.

4 Gedanken zu „Einsamkeit: Eine stille Krise unserer Zeit“

  1. Einsamkeit
    obwohl wir als Teil des Ganzen mit Gottes Schöpfung verbunden sind?
    Einsamkeit hat viel mit unserem einseitigen Denken zu tun.
    In unserem Dasein gibt es zwei Möglichkeiten auf dem bisherigen hocken zu bleiben oder einen neuen Aufbruch zu wagen.
    Und das beginnst schon im Allerkleinsten.
    Was uns nicht hilft, ist weiterhin einfach nur abzuwarten, dass sich da etwas verändern könnte
    JETZT können wir uns für das Eine oder Andere entscheiden – licht oder dunkel

    Antworten
  2. Einsamkeit
    obwohl wir als Teil des Ganzen mit Gottes Schöpfung verbunden sind?
    Einsamkeit hat viel mit unserem einseitigen Denken zu tun.
    In unserem Dasein gibt es zwei Möglichkeiten auf dem bisherigen hocken zu bleiben oder einen neuen Aufbruch zu wagen.
    Und das beginnt schon im Allerkleinsten.
    Was uns nicht hilft, ist weiterhin einfach nur abzuwarten, dass sich da etwas verändern könnte
    JETZT können wir uns für das Eine oder Andere entscheiden – licht oder dunkel

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  3. Ich lebe schon seeeehr lange in meinem Dorf, darum kenne ich viele Menschen.
    Das ist mein Kapital:
    Nach meiner Zeit als Lehrerin und der Arbeit in der Kirchenpflege habe ich ein Nachbarschaftsnetz gegründet um niemand allein zu lassen, es sei denn, dass jemand das will.
    Wir sind inzwischen über 40 Personen, die mitknüpfen am Netz gegen Einsamkeit und mehr als doppelt so viele die einbezogen wurden.
    Wir haben ganz verschiedene Einsätze: von den beiden über 90 jährigen, die Freundinnen geworden sind bis zum Oberstufenkind, das einen Vorkindergärtner begleitet.

    Sowohl auf der Homepage der Kirche als auch jener der politischen Gemeinde ist unser Angebot aufgelistet. Auch mit Flyern machen wir immer wieder auf uns aufmerksam. Von Nachbern werden wir auf Personen hingewiesen, die uns ev, gerne anfragen würden.
    Sio wird unser Netz immer grösser und es ist trafähig.
    Wir machen auch regelmässige Treffe um von unseren Erlebnissen zu berichten.

    All die Kontakte, die ich knüpfen kann machen mich sehr glücklich.

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  4. Liebe Janna
    Dieser Artikel hat mir soo gezeigt, dass ich mit diesem dumpfen Einsamkeitsgefühl offenbar nicht alleine bin.wie du vielleicht erinnern kannst, lebe ich in einer schönen Wohngemeinschaft mit sehr netten Leuten zusammen. Trotzdem fühle ich ganz tief in mir die Einsamkeit.
    Ich versteh sie nicht richtig, denn ich bin nicht oft alleine, aber ich fühle mich so.

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