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 Lesedauer: 9 Minuten

Schöne Alleinsamkeit

Mein Mietshaus in der Stadt Zürich passt genau in die Statistik, nach der knapp die Hälfte der Haushalte in der Schweiz Einzelpersonenhaushalte sind. Die zweithäufigste Konstellation: leben zu zweit.

Da sind die beiden alleinerziehenden Mütter, ein Ehepaar ohne Kinder und die Jungs von der Studi-WG. Alles völlig normal gemäss den Daten. Trotzdem ist mir bei diesen Nachrichten mulmig. Die Statistiken werden zwar so neutral wie möglich kommuniziert. Dennoch ist es eine Schlagzeile wert, dass viele Menschen allein leben. Drei Mal so viele wie vor 30 Jahren.

Ist das erfreulich? Besorgniserregend? Problematisch? In meinem Kopf geistern viele verschiedene Gedanken dazu herum.

Das Erfreuliche

Die Statistik zeigt, dass Menschen allein leben können und dürfen. Dass empfinde ich als positiv. Es zeigt, dass diese Lebensform gesellschaftlich akzeptiert ist.

Wir glauben Menschen, wenn sie sagen, dass sie gern allein leben.

Wir glauben Menschen, wenn sie sagen, dass sie als WG, Paar oder Eltern kein gutes Team (mehr) sind oder die Beziehung trotz vielen Versuchen nicht mehr stimmt. Und wir können nicht nur diese Erkenntnisse zulassen, sondern auch ihnen entsprechend handeln, ohne dass wir gesellschaftlich geächtet werden. Das ist wichtig.

Das Kritische

Gleich darauf die Kritik: Sind diese Gedanken zu rosarot? Wie hoch ist der Stress, sich als alleinerziehende Mutter finanziell über Wasser zu halten? Und klar hat jede Person ein Risiko, wenn sie ein Date mit nach Hause nimmt, aber ist eine WG nicht sicherer?

Ausserdem: Wenn wir alle so darauf fixiert sind, dass es für uns persönlich stimmt, finden wir dann noch ein kollektives Miteinander? Sehen wir es noch als Option, dass unsere Bedürfnisse kompatibel sind mit denen von anderen, auch wenn wir reden, verhandeln und Kompromisse finden müssen?

Manchmal befürchte ich, dass wir sorgloser im Umgang mit Menschen geworden sind. Wir glauben, dass wir – Apps und unendlichen Möglichkeiten in Städten sei Dank – jederzeit neue Menschen finden, die besser zu uns passen.

Wir behandeln Menschen wie Dienstleistungen, denen wir Sterne-Bewertungen verpassen: Zwei von Fünf, nicht genügend für die Zeit und die Energie, die man hineinsteckt. Im schlimmsten Fall machen wir Schluss per WhatsApp oder ghosten Menschen. Diese Entwicklungen finde ich besorgniserregend.

Das Besorgniserregende

Denn die Daten zeichnen kein Paradies: Studien belegen, dass auch viele junge Menschen sich einsam fühlen. Wir sind digital so verbunden wie noch nie und fühlen uns trotzdem einsam. Obwohl Schweizer:innen im Schnitt vier enge und acht weitere Freund:innen haben und diese mehrmals im Monat sehen, fühlen sich rund ein Drittel der Teenager und jungen Erwachsenen laut der Befragung des Gottlieb Duttweiler Instituts einsam.

Das ist verheerend: Einsamkeit ist so schädlich wie 15 Zigaretten am Tag, sagen Forschungen.

Streicheln wir lieber unsere Handys als unser Gegenüber, wie die Journalistin Anna Miller in ihrem Buch «Verbunden» schreibt? Sie beschreibt dieses Verhalten zwar im Paarbeziehungs-Kontext, wenn beide abends im Bett übers Handy scrollen, anstatt miteinander zu kuscheln. Aber es trifft auch in freundschaftlichen Kontexten zu: Wie oft sind wir mental wirklich anwesend, wenn wir zum Kaffee abgemacht haben? Wie oft unterbrechen wir Gespräche, blicken aufs Smartphone, weil irgendeine Mitteilung aufpingt – und sei es die belanglose Info, dass morgen in der Migros Bananen in Aktion sind?

Kein Wunder, dass wir von aussen betrachtet sehr beschäftigt und eingebunden wirken, aber uns innerlich unverbunden fühlen. New York hat inzwischen Dr. Ruth Westheimer, eine bekannte Sexualtherapeutin, zur Botschafterin gegen Einsamkeit ernannt. Wir haben nämlich wirklich ein Problem mit Einsamkeit. Wie viel trägt Alleinleben dazu bei?

Zwischenfazit

Ich würde sagen: Eine Portion. Denn es kommt auf die Qualität des Alleinseins an. Dass jemand allein lebt, sagt weder etwas über den Beziehungsstatus einer Person aus noch darüber, wie sozial eingebunden sie ist. Alleinlebende können freundschaftlich, romantisch und/oder sexuell eingebunden sein und sich nicht einsam fühlen. Und umgekehrt können Paare, die zusammenleben, sich isoliert oder einsam fühlen.

Alleinleben ist eine Lebensform, kein Problem an sich.

Es definiert nicht per se den Grad an Einsamkeit. Man weiss schliesslich selten auf den ersten Blick, ob äussere Umstände oder persönliche Entscheidungen zum Alleinleben geführt haben. Trotzdem lässt sich nicht wegdiskutieren, dass Alleinleben zumindest die räumliche Distanz zu Menschen erhöht.

Und ich so?

Natürlich ist es leicht, sachlich und analytisch übers Alleinleben zu schreiben. Da kann man sich selbst wunderbar raushalten. Aber wie geht es mir persönlich damit, dass ich seit fast 2,5 Jahren allein lebe? Ich muss zugeben, die Studie trifft einen empfindlichen Teil in mir. Natürlich kenne ich Momente, wenn ich abends oder am Wochenende allein zu Hause bin, in denen ich gerne Menschen um mich hätte. Insbesondere im Herbst und Winter. Zudem schreibe ich diesen Artikel in einer Phase, in der mir das Alleinleben gerade ziemlich schwerfällt.

Als alleinlebende Person ist einem bewusst, was für ein Privileg zwischenmenschliche Beziehungen sind. Denn sie sind nicht automatisch da. Ich kann zwar bewusst planen, ob und wann ich Menschen sehen will. Das ist ebenfalls ein Privileg, um das mich manche beneiden. Aber ich muss mir eben genauso bewusst soziale Interaktionen schaffen. Sei es durch Hobbies, Freund:innen, Familie oder sonstiges. Manchmal habe ich die Energie dazu, manchmal eher weniger.

Die Nuancen des Alleinlebens

An vielen Tagen bin ich gerne unterwegs, treffe Menschen, mache Sport, habe Freiwilligen-Engagements oder Hobbies. An manchen Abenden bin ich zu Hause, zahle Rechnungen, erledige Orga-Kram oder den Haushalt. An manchen Wochenenden schreibe oder telefoniere ich mit Freund:innen, lese ein Buch oder spiele Fangen mit den Katzen. Ich würde sagen, ich habe ein reiches, erfülltes Beziehungsnetzwerk und ein schönes Leben. Aber es gibt in diesem Potpourri immer wieder Zeitfenster, in denen niemand Zeit hat. Auf der Suche nach Verbundenheit sitze ich dann auf dem Sofa, scrolle durch Instagram und fühle mich am Ende neidisch, traurig oder leer.

Meistens passiert es, wenn ich am wenigsten damit rechne. Und natürlich miauen mich genau dann die Katzen unzufrieden an, weil sie – kein Witz! – eifersüchtig auf den Screen sind, mit dem ich meine Einsamkeit ausblenden will.

Trotzdem möchte ich nichts am Alleinleben ändern. Jedenfalls vorerst nicht.

Alleinleben in einer günstigen Wohnung bietet viel Freiheit in meiner Lebensplanung. Ich kann unkompliziert Menschen zu mir einladen. In meinem Freund:innenkreis bin ich als diejenige bekannt, die gerne Glühweinparties schmeisst. Ausserdem findet in meinen vier Wänden kein zwischenmenschlicher Stress statt.

Es ist ein Ort, an dem ich mich einfach nur wohl und geborgen fühle – und manchmal halt einsam.

Alleinleben hat viele Nuancen. Es kann Geschenk, Frust oder schlichte Tatsache sein. Mit Menschen zusammenziehen, führt zudem nicht automatisch zu mehr menschlicher Nähe oder bringt erfüllte Beziehungen mit sich.

Tipps gegen Einsamkeit

Was hilft, wenn ich mich einsam fühle in meinen vier Wänden und gerade niemand verfügbar ist?

  • Eine Sport-Lektion, notfalls auch zu Hause auf der eigenen Matte: Kaum etwas erdet und verbindet mich so mit mir selbst wie eine achtsame Yoga-Lektion. Danach ist allein Nachhausekommen oder der Abend allein zu Hause viel weniger schlimm.
  • Nach draussen gehen: Ich liebe allein zu wandern. Ich mache mich dann für eine definierte Zeitdauer zur wichtigsten Person in meinem Leben. Ich frage mich, wie es mir geht, lasse meine Gedanken schweifen und muss auf niemanden Rücksicht nehmen. Ich spüre meinen Körper, die frische Luft, nehme die Natur bewusst wahr und verbinde mich mit dem Fleck Welt, auf dem ich unterwegs bin. Wenn die Zeit knapper ist, tut es auch ein Spaziergang im Wald.
  • Ich kümmere mich auf sehr praktischer Ebene um ein wohliges Zuhause: Ich entsorge Abfall, Altglas oder den Kompost, sortiere eine Schublade oder erledige sonst etwas, das liegen geblieben ist. Kürzlich habe ich an einem Samstagmorgen meine Kaffeemühle von oben bis unten grundgereinigt. Sehr meditativ und zufriedenstellend.
  • Gemütlichkeit: Ich stecke Lichterketten ein, zünde Kerzen an, suche eine schöne Playlist auf Spotify und koche etwas Leckeres. Aktuelle Freude: Weihnachtsmusik hören und Zimtschnecken backen. Alternativ hilft eine warme Dusche mit einem wohlriechenden, schaumigen Etwas.
  • Kommunikation aufräumen: Wem habe ich in der Hektik des Alltags vergessen zu antworten? Bei wem wollte ich mich schon längst melden? Hat jemand gerade eine stressige Phase und freut sich womöglich über eine kurze Aufmunterung? Mir hilft das, vor Augen zu führen, dass ich jetzt, temporär, alleine bin, aber grundsätzlich ein wunderbares Netz an Menschen habe, die gern Zeit mit mir verbringen.

Am liebsten würde ich schreiben, dass man damit sämtliche Momente eliminiert, in denen man sich einsam fühlt. Aber das stimmt nicht. Wie der Autor Daniel Schreiber in «Allein» sinngemäss schrieb:

Es gibt die Momente, in denen man glaubt, dass man an seiner eigenen Einsamkeit erstickt. Diese Momente muss man aushalten.

Früher oder später tauchen sie hinterlistig auf. Ausweinen hilft. Eine Freundin sagt dazu:

Solche Momente sind wie Gewitter. Sie ziehen vorbei.

Wir haben kein Recht darauf, dass andere immer für uns da sind. Gleichzeitig ist es legitim, spätabends einen Herzensmenschen anzurufen und zu sagen:

«I feel like sh*t.» Ist schon mehrfach vorgekommen.

Trotzdem möchte ich, abschliessend, für die Kunst des Alleinseins plädieren, in der ich mich beharrlich übe. Ich erlebe Menschen, die sich Zeit für sich selbst nehmen, als solche, die in zwischenmenschlichen Gesprächen präsent, offen und zugewandt sind. Bei mir besteht da ein kausaler Zusammenhang: Nehme ich mir keine Zeit für mich selbst, spüre ich viel mehr das Bedürfnis nach einem Gegenüber, das sich für mich interessiert. Wenn ich mich hingegen für mich selbst interessiere, schenke ich mir selbst diese Aufmerksamkeit und bin nicht nur im Sende-, sondern auch im Empfangsmodus bei Mitmenschen.

Ja, Alleinsein braucht Mut, sich selbst, Langeweile oder unangenehme Gefühle auszuhalten und sie auch mal mit sich selbst auszumachen. Und logisch brauchen wir Gemeinschaft.

Wir Menschen sind nicht dafür gemacht, Inseln zu sein. Doch wer nicht allein sein kann, verpasst wohl eine der wichtigsten Beziehungen: die zu sich selbst.

Deshalb bleibt es ein beständiges Herausspüren, in welche Beziehung ich gerade treten will. Zu mir selbst, zu anderen oder eine Mischung aus beidem. Alleinleben hin oder her.

 

Foto von Matheus Bertelli auf Pexels

3 Kommentare zu „Schöne Alleinsamkeit“

  1. Danke für den Text, in dem ich mich an vielen Stellen wiederfinde. Ich stolpere über den Begriff „Alleinleben“ – ich würde für mich viel mehr von einem „Alleinwohnen“ sprechen. Wohnen tu ich allein, leben aber nicht.

  2. Katharina Hürlimann-Siebke

    Ihr werdet sicher überrascht sein, wieso dieses Thema bei mir vorkommt und wie ich als (gläubige) Atheistin zur Quelle RefLab komme? Recht einfach: Für dieses Portal schreiben engagierte, junge kluge Menschen, interessanterweise viele davon Frauen, über uns berührende Themen, für die es in den Tagesmedien oder auf Aufmerksamkeit konditionierte Medien kaum Platz hat. Bei RefLab oder auch in den Magazinen meines lieben Freundes und Verlegers Anton Ladner vom Die Medien Verlag wird Achtsamkeit, Respekt und Spiritualität thematisiert und lebendig.

    Interessant daran ist, dass es sich hier um Medien aus und für christliche, konkret reformierte und katholische Kreise handelt, jene, die ja gerade so unter Veränderungsdruck stehen. Dass uns Religion in der heutigen Zeit noch etwas zu sagen hat, lebensnah ist und bleibt, bin ich überzeugt. Unsere christlichen Wurzeln liegen tiefer, basieren auf mehr als auf Kreuzzügen, Machtmissbrauch, Frauenfeindlichkeit … Nur müssen wir uns dranmachen, den Schutt der Geschichte und Auswüchse wegräumen, ehrlich und konsequent vor unserer eigenen Haustür kehren. So können uns und auch anderen die Weisheiten unserer Vorfahren wieder erreichen und uns im Alltag Wegweiser und Lebenshilfe sein.

  3. Spannender Text: gilt auch immer mehr für Menschen im 3. Lebensabschnitt; die machen das aber oft, weil „umziehen“ bzw. „ausziehen“ oder neu „zusammen ziehen“ in finanzieller Sicht nicht lohnt, oder emotional und sozial viel Energie brauchen würde à la „alter Baum verpflanzen“ usw.; Meine Frage hier ist aber auch: wenn jede bzw. jeder so lebt, wie er bzw. sie will, weil das heute sozio-ökonomisch möglich ist, wohin führt das? Ich kenne eine erfolgreiche Singlefrau mit eigenem Haus, die selber sagt: „Ich kann gar nicht mehr mit jemandem zusammenleben bzw. zusammen wohnen- wirkliche Partnerschaft mit Kompromissen ist für mich gar nicht mehr möglich!“ Sich und seine Bedürfnisse selber zurück nehmen, Kompromisse machen, anderen Raum lassen- dieses Übung- bzw. Erfahrungsfeld entfällt hier.

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