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 Lesedauer: 7 Minuten

Die Suizidhölle

Die Hölle scheint derzeit eine beliebte Metapher in der Musik zu sein: Letztes Jahr sang sich Lil Nas X nach seinem Grammy-prämierten «Old Town Road» in noch grössere Bekanntheit, als er mit «Montero (Call me by your name)» seine Homosexualität thematisierte. Das Musikvideo arbeitet mit biblischen Metaphern. So lässt sich Lil Nas X von der paradiesischen Schlange verführen, wird gleich Jesus hingerichtet und landet am Schluss in der Hölle. Mit jenen Bildern, mit denen seine Queerness verurteilt wurde, übt er Kritik an diesen Vorstellungen und überwindet sie: Mit seinen sexuellen Verführungskünsten tötet er am Ende des Videos den Teufel – tänzerisch leicht. Aktuell wurde das Lied 1,2 Milliarden Mal gehört. Es gilt als Hymne auf queere Selbstbestimmung.

Und jetzt Stromae und die Hölle als Metapher für Suizidgedanken: Eigentlich könnte man denken, dass das nicht gerade ein Thema ist, bei dem massenhaft Leute zuhören wollen. Zu negativ. Zu überfordernd. Aber bereits in den ersten Zeilen räumt Stromae damit auf, dass er der Einzige sei, der Suizidgedanken kennt: «J’suis pas tout seul à être tout seul». Er ist nicht alleine damit, dass er sich alleine mit Suizidgedanken fühlt. Viele andere hätten diese Gedanken schon vor ihm gehabt.

Tabu oder steril

Damit spricht Stromae etwas an, dass einem nahe geht: Obwohl es politisch zum guten Ton gehört, über mentale Gesundheit zu reden und vor allem darüber zu sprechen, dass man mehr darüber reden sollte, redet kaum jemand offen darüber. Denn die Konsequenzen sind verheerend:

Nicht selten wird die Belastbarkeit derer angezweifelt, die zu ihrer psychischen Erkrankung stehen.

Es gilt als Ausschlusskriterium im Beruf, wenn man zugibt, dass man einen Klinikaufenthalt gemacht hat oder psychisch angeschlagen ist. Unter Betroffenen kann das Gefühl entstehen, Menschen zweiter Klasse zu sein. Eigentlich ironisch, weil alle betonen, wie wichtig «Mental Health» ist. Aber eben nur auf eine sterile Weise, in der am Ende alles wieder geordnet in der Schachtel landet und feinsäuberlich ins Regal eingeordnet werden kann. Besprochen, bewältigt, weiter geht es! Am besten so schnell wie möglich! Wir sind weit davon entfernt, dass unsere Gesellschaft einen Umgang mit dem Thema Suizid gefunden hätte. Dabei ist Suizid keinesfalls ein gesellschaftliches Randphänomen. Umso mehr braucht es Menschen wie Stromae, die darüber singen. Ihr Prominentenstatus schützt sie ein wenig mehr davor, in eine Ecke abgedrängt zu werden, nur noch «der mit den Suizidgedanken» zu sein. Über Suizidgedanken redet bis heute nur, wer nichts zu verlieren hat. Dabei singt Stromae: «Et si j’comptais combien on est? Beaucoup» Wenn er zählen würde, wie viele von Suizidgedanken betroffen sind: Viele!

Keine Angeberei

Dabei geht es nicht darum, Suizidgedanken als lebensnotwendige Erfahrung zu begreifen. Niemand muss und sollte zwingend einmal im Leben die Erfahrung gemacht haben, nicht mehr leben zu wollen. Stromae betont im Lied: «J’ai parfois eu des pensées suicidaires et j’en suis peu fier.» Er ist nicht stolz darauf, dass er Suizidgedanken kennt. Er glorifiziert sie nicht. Für Betroffene muss es absurd klingen, das überhaupt betonen zu müssen. Jede Person, die auch nur im Entferntesten einmal daran dachte, dass es ihr jetzt gerade in diesem Moment nichts ausmachen würde, vom Bus überfahren zu werden, ist in der Lage, die Schamwelle nachzufühlen, die über jemanden hereinbricht, wenn er*sie ernsthaft über Suizid nachdenkt: Wie kann man es wagen, nicht leben zu wollen? Wer gibt bitte freiwillig auf? Das gilt als Loser-Mentalität.

Es passt nicht in das Selbstbild unserer Gesellschaft, nach dem eine Person stark, souverän und Roger-Federer-like mit psychischen Herausforderungen wie mit Tennisbällen umgehen soll.

Suizidgedanken sind nichts, womit man bei Freund*innen angibt. Es sind eher die heimlichen Gespräche, in denen jemand überfordert vor einer Tasse Kaffee sitzt und herumdruckst, dass er*sie so gar nicht mehr klarkommt. Bis klar wird: Das Gegenüber weiss weder ein noch aus und hält das Leben gerade für nicht besonders lebenswert. Die wenigen Menschen, die offen über ihre Erfahrungen reden, berichten auch davon, dass sie glaubten, die Welt wäre ohne sie ein besserer Ort.

Höllische Einsamkeit

Suizidgedanken sind nichts Glamouröses. Nichts, womit sich jemand Aufmerksamkeit erkaufen will. Sie werden aus einer Verzweiflung geboren, in der es scheinbar keine andere Lösung mehr zu geben scheint: «On croit parfois que c’est la seule manière de les faire taire». Betroffene glauben, der einzige Weg, Suizidgedanken loszuwerden, sei, Suizid zu begehen. Dass das alles andere als eine grossartige, erlebenswerte Erfahrung ist, gipfelt bei Stromae in der Aussage «Ces pensées qui me font vivre un enfer».

Suizidgedanken machen das Leben zur Hölle. Das ist die Realität.

Und Suizidgedanken werden noch viel mehr zur Hölle, wenn eine betroffene Person wie Stromae das Gefühl hat, die einzige Person zu sein, die das kennt.

Eine Lösung, eine Ermutigung bietet Stromae keine an. Nur die Realität: «Et je sais vraiment pas quoi faire de toi». Er weiss nicht, was er tun soll. Soll er einfach nachdenken? Genau das sei das Problem, singt er am Schluss: «C’est bien le problème avec toi». Letztlich gibt es keine sinnvollen Worte für eine derartige Extremerfahrung. So lässt sich Stromaes Lied deuten. Wie soll das auch gehen? Wie lässt sich erklären, dass ein Leben sich nicht lebenswert anfühlt, egal, wie es nach aussen wirkt? Darf ein prominenter Sänger wie Stromae sagen, dass ein Kampf in seinem Kopf tobt? «Ist das nicht undankbar?! Der hat doch Alles?!», denken sicherlich viele.

Fragile Grenzerfahrung

Das Beispiel von Stromae zeigt: Suizidgedanken können jede Person treffen. Absolut jede. Egal wie privilegiert er*sie ist. Dort, wo wenig finanzielle oder soziale Ressourcen vorhanden sind, natürlich weitaus mehr.

Aber niemand ist grundsätzlich geschützt vor Suizidgedanken.

Wir Menschen geben sehr viel auf unsere psychische Stabilität, auf unsere Fähigkeit, mit allem klarzukommen, die Dinge allein zu bewältigen. Wie fragil dieses Konstrukt ist, zeigt sich in Grenzerfahrungen. Plötzlich geschieht etwas, der Druck wird zu gross und am Morgen liegt man im Bett und fragt sich: «Wofür genau stehe ich eigentlich auf? Ergibt das Leben einen Sinn? Ergibt das Leben so einen Sinn, wie ich es lebe?»

Gründe für derart tiefe Existenzfragen gibt es viele. Man kann an sich selbst verzweifeln, an Erfahrungen, aber auch an der Welt und ihren Ungerechtigkeiten. Stromae fragt: «Est-ce qu’y a que moi qui ai la télé?» Hat nur er einen Fernseher? «Et la chaîne culpabilité?» Schuldgefühle? Ist es nur er, Stromae, dem die Geschehnisse dieser Welt trotz sicherer Distanz zu nahe gehen? Der Einzige, der droht, an sich selbst und der Welt zu verzweifeln?

Doppelte Scham

Suizidgedanken sind nichts, wofür sich irgendeine Person schämen müsste. Erst das schambehaftete Doppel von Suizidgedanken, die an das Gefühl gekoppelt sind, die einzige Person im Universum zu sein, die das je gefühlt hat, machen Suizidgedanken zu jenem grausamen Folterinstrument, von dem Stromae singt.

Es ist nichts damit getan, wenn wir sagen, wir sollten mehr über psychische Gesundheit reden. Die Frage ist vielmehr, wie wir Signale setzen und Räume schaffen, in denen klar ist, dass man darüber reden darf und dass keine nachteiligen Konsequenzen zu befürchten sind. Auch wenn und besonders dann, wenn eine Person Suizidgedanken noch nicht überwunden hat.

Falls du dich alleine fühlst und dir die Gedanken in diesem Artikel bekannt vorkommen: Rede mit jemandem darüber. Wenn du niemanden kennst, der in Frage kommt, hier ein paar mögliche Adressen:

SCHWEIZ: Tel. 143 oder 143.ch (für Erwachsene) und 147 oder 147.ch (für Jugendliche). Unter www.seelsorge.net gibt es E-Mail-Seelsorge der Kirchen.

DE: Telefonseelsorge 0800 111 0 111 und 0800 111 0 222 (beide gebührenfrei) oder www.telefonseelsorge.de.

Du kannst dich auch direkt an eine Pfarrperson oder Diakon:in wenden, sie sind seelsorgerisch geschult, oder an deine Hausärztin/deinen Hausarzt.

Foto: Unsplash/Road Trip with Raj

2 Kommentare zu „Die Suizidhölle“

  1. Ich möchte einfach nur Danke sagen. Du/Ihr geht auf dieser Seite selbstverständlich mit nicht selbstverständlichen Themen um. Großes Lob, großes Dankeschön.

  2. „Es gilt als Ausschlusskriterium im Beruf, wenn man zugibt, dass man einen Klinikaufenthalt gemacht hat oder psychisch angeschlagen ist.“ — Ich hatte mal einen Chef, der dermaßen wohlwollend und entgegenkommend auf meine offenkundig gewordene ‚instabile psychische Lage‘ reagierte, dass ich mir hinterher eingestehen musste, dass ich es bin, der nicht realisieren will, wie es um mich bestellt ist. — „Nachteilige Konsequenzen befürchten“? Nö, dafür war dieser gute Mann einfach zu sehr außerordentlich gut. Auch davon muss erzählt werden. —

    „Suizidgedanken machen das Leben zur Hölle. Das ist die Realität.“ — Hier wäre im Einzelfall auch und gerade in seelsorgerlicher Absicht (Seelsorge im weitesten Sinne) die Umkehrung dieses Gedankens womöglich einen Versuch wert: Die Hölle macht das Leben zu einem einzigen Suizidgedanken. DAS ist die Realität. — Freilich führt das dann die Betroffenen (Seelsorger[in] und Belastete[n]) in ‚theologische Gewässer‘. Wobei sich ohne allzu große Verstehensschwierigkeiten lebensnahe Anknüpfungspunkte finden lassen dürften: Markus 15,34.

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