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Die Parallelwelt von ASMR [3]: Natur im Ohr

Wenn wir frühmorgens aufwachen und schier nahtlos in Gedanken gleiten, den «train of thought», merken wir oft erst nach einer Weile, dass unsere Gehörgänge die ganze Zeit über gestreichelt werden: vom Gesang der Vögel, die den Sonnenaufgang mit komponierten Strophen und Wechselgesängen begleiten. Wenn sich die Vögel eingesungen haben, gibt es zwischen den Kanons magische Pausen; so als würden alle gleichzeitig einatmen. Bis erneut eine helle Stimme den Ton angibt und die anderen harmonisch einschwingen.

Nichts, glaube ich, gibt uns stärker das Gefühl, im Paradies zu sein, als morgendliche Vogelkonzerte.

100 Prozent ASMR

Die allermeisten Menschen empfinden Vogelstimmen als wohltuend. Im Sommer, wenn die Fenster des Schlafzimmers offen oder gekippt sind, kann ich die feinen Stimmen fast körperlich spüren. Wie ein leichtes und angenehmes Kitzeln oder Kribbeln im Ohr. Oder als ob die Töne durch meinen Kopf gleiten oder sich sogar im Kopf befinden würden. Ausgehend vom Kopf kann sich ein angenehmes Gefühl auf den ganzen Körper ausdehnen. Der Tag beginnt leicht und heiter!

Wäre das Auge nicht sonnenhaft, könnte es die Sonne nicht sehen, bemerkte Goethe. Ähnliches scheint für das Verhältnis von menschlichen Ohren und Vögeln zu gelten. Unsere Ohren scheinen für diese Klänge gemacht zu sein.

Dass wir die Vögel nicht eindeutig orten können, erhöht die Lust. Es vermittelt das Gefühl, in eine Wolke oder ein Bad reizvoller, heller und heilender Stimmen getaucht zu sein, in einen Raum aus Klang.

Liebesvögel

Besonders augenfällig, oder besser ohrenfällig, ist letzteres bei Nachtigallen: den Liebesvögeln der romantischen Literatur. Singt eine Nachtigall, so scheint die Stimme einmal von da und einmal von dort zu kommen, einmal nah und im nächsten Augenblick wieder fern zu sein. Ein faszinierender Effekt und zugleich eine Art von akustischer Camouflage und Schutz für die bodennah brütenden Tiere.

Zu den Sounds, die ein gleichzeitig entspannendes und freudig-erregtes Gefühl auslösen, also ASMR («Autonomous Sensory Meridian Response»), gehören also und vielleicht gerade auch Natursounds. Wenn ich waldbade, die von Bäumen reingewaschene Luft atme und mich für den Sound der Naturumgebung öffne, so ist das gleichzeitig beruhigend und stimulierend – also ASMR in Reinform.

Faszinierenderweise brauchen wir nicht notwendig den realen Wald, das tatsächliche Meeresrauschen, den Wasserfall oder ein Sommergewitter, um beruhigende und beglückende Emotionen zu erleben, sondern es funktioniert auch mit akustischen Konserven.

Wir ergänzen den fehlenden Part intuitiv und hören die Sounds, als ob sie von realen Quellen stammten und nicht zeitversetzt wären. Soundforscher:innen sprechen von eingewilligter Wahrnehmungstäuschung.

Geräusch ohne Ohren

Wenn Vögel im Wald singen und es ist kein Ohr da, um sie zu hören, machen die Vögel dann überhaupt Töne?

So könnte man analog zur bekannten Rätselfrage in Form eines Kōan fragen: «Wenn ein Baum im Wald fällt und niemand ist da, um es zu hören, macht der Baum dann ein Geräusch?» Die Antwort lautet: Ja und Nein.

Ein Geräusch ist etwas, das in unserem Gehirn entsteht, wenn unsere Ohren die Schwingungen von Molekülen wahrnehmen. Es ist eine mentale Repräsentation in unserem Nervensystem. Klänge und Geräusche sind hochgradig subjektive Wahrnehmungen, gleichzeitig aber auch messbare und aufzeichenbare akustische Reize. Sie entführen, täuschen, warnen, beruhigen. Und letzteres umso mehr, je sicherer ich mich wähne.

Der Sound eines Schneesturms in den Bergen kann unglaublich beruhigend sein, wenn man ihn zu Hause im warmen Bett hört; und nicht wie unsere Ahnen durch drastische Wettersituationen in Gefahr gerät, von der Nahrungsversorgung abgeschnitten zu werden. Oder die Aufnahme eines Gewittersturms, wenn ich mich in einer trockenen, schützenden Hütte geborgen weiss.

Und der flirrende Sound des Dschungels ist auf mysteriöse Weise aufregend und beruhigend zugleich, wenn ich ihn mir in optimaler Soundqualität mit Hightech-Kopfhörern zu Gehör und Gemüte führe – mit null Wahrscheinlichkeit, ins Beuteschema eines wilden Tieres zu fallen.

Photo by Didin Emelu on Unsplash

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