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 Lesedauer: 5 Minuten

«Es ist sicher nicht zu früh»

Ich steige an einem Sommertag den kleinen Weinhügel zur reformierten Kirche von Stäfa hinauf. Stäfa ist eine Zürichsee-Gemeinde. Sie liegt an der sogenannten «Goldküste», dem von Zürich aus gesehen linken Seeufer, das mit gehobenem Lebensstil und Reichtum assoziiert wird.

Vom Kirchenvorplatz aus eröffnet sich ein weiter Blick auf den glitzernden See und die langgestreckte Bergkette dahinter. Um die Kirche herum flattern Schmetterlinge und summen Bienen. Zu meinen Füssen liegen Villen und Bauernhöfe. Es ist paradiesisch.

Blühende Visitenkarte

Die Kirchgemeinde hat rund um das im Ursprung romanische Gotteshaus eine ausgedehnte Wildblumenwiese angelegt und Insektenhotels zur Pflege der Biodiversität aufgestellt. Das krabbelnde und flatternde Kirchenbiotop zeigt an, dass der Kirchgemeinde das Klimathema ein wichtiges Anliegen ist.

Die Wildblumenwiese ist eine Art Visitenkarte für Kirche als lernende Community.

Das Vorbild hat ausgestrahlt. Nachdem Margeriten, Schlüsselblumen und Johanniskraut knospten, wollten auch die nicht religiös gebundenen Nutzer:innen des an der Kirche gelegenen Dorffriedhofs eine Wildwiese. Nun summt und brummt es doppelt. Die beiden Wildwiesen nehmen dem Friedhof viel von seiner Schwere, finde ich, aber letztlich ist es Geschmackssache. Manche hätten die Flächen lieber akkurat gemäht und Rabatten statt Wildwuchs, sagt der Kirchenpfleger.

Grüner Güggel flieg!

Die Kirchgemeinde Stäfa gehört zu den umweltbewussten Vorzeigegemeinden. Sie hat früher und gründlicher als die Mehrheit der christlichen Kirchgemeinden der Schweiz das Klimathema auf die Agenda genommen. Sie ist inzwischen als Gemeinde mit einem Umweltmanagementplan doppelt zertifiziert: mit der Auszeichnung «Grüner Güggel» des ökumenischen Vereins Oeku ­– Kirchen für die Umwelt. Der nächste Schritt ist jetzt die CO2-Neutralität:

«CO2-Neutralität ist die logische Folge des Grünen Güggels und der aktuellen Situation. Wir müssen handeln. Klimaneutralität bis 2030, 2050 ist fast ein Muss», sagt der Umweltbeauftragte Andreas Erni und der Kirchenpfleger Fredi Ziegler pflichtet ihm bei: «Es ist sicher nicht zu früh.»

Die beiden legen den Entwurf einer Umwelt- und Energie-Charta auf den Tisch vor dem Gemeindehaus. Darin sind Umweltziele definiert. Mit der Charta ist Stäfa dem Gros der Kirchgemeinden voraus, das gerade erstmalig zertifiziert wurde mit dem «Grünen Güggel» oder dies anstrebt – und dann erst weiter überlegt, was der nächste Schritt ist.

Umwelt-Charta

Die Charta ist im Entwurfsmodus und wird auf der Basis der Unterlagen der 2000 Watt Gesellschaft entwickelt. «Sie soll noch dieses Jahr durch die Kirchenpflege diskutiert und verabschiedet werden. In Zusammenarbeit mit Oeku soll die Charta auch anderen Kirchgemeinden zur Verfügung gestellt werden», sagt der Umweltbeauftragte von Stäfa.

Oeku, gegründet 1986 in Bern im Jahr der Tschernobyl-Katastrophe, bearbeitet schwerpunktmässig die Themen Schöpfungsspiritualität, Umweltpraxis und mischt sich immer wieder auch umweltpolitisch ein. Vor allem seit Fukushima hat die Stimme des Vereins an Gewicht deutlich zugenommen. Kirchgemeinden werden von Oeku bei der Einführung von Umweltmanagementsystemen mit Know-how unterstützt.

Zur Klimaavantgarde gehören neben der Kirchgemeinde Stäfa auch Meilen, Dübendorf-Schwerzenbach, Winterthur-Veltheim oder Bülach. Bülach hat sogar noch bevor es das kirchliche Umweltsiegel Grüner Güggel gab (das Pendant zum Grünen Hahn in Deutschland) schweizweit als erste Kirchgemeinde die ISO 14001 Zertifizierung eingeführt.

Zeit läuft davon

Inzwischen durchlaufen Kirchgemeinden im Kanton Zürich die recht aufwändigen Umweltzertifizierungsformalitäten als «Konvoi». Als Symbolbild für den Umweltkonvoi findet sich auf der Website der Reformierten Landeskirche ein Wildentenschwarm.

Die Geschwindigkeit der schleichend und sprunghaft zugleich verlaufenden Klimaerhitzungskatastrophe aber macht es schwer, Schritt zu halten. Die Charta, der sich Stäfa verpflichten möchte, geht beispielsweise noch von einer Begrenzbarkeit der Erderwärmung bei 1,5 Prozent über dem Niveau des vorindustriellen Zeitalters aus. Bereits in den kommenden vier Jahren aber könnte diese Grenze überschritten werden (hier ein Bericht der NZZ).

Als Handlungsziel steht in der Charta: «Wir übernehmen eine Vorbildfunktion und rufen unsere Kirchgemeinde-Mitglieder, Lieferanten und Dienstleistungserbringer dazu auf, ebenfalls für diese Handlungsleitsätze einzustehen und sie bei ihren Aktivitäten umzusetzen.»

Selbstorganisation und Systemwechsel

Im Entwurf der Umwelt- und Energie-Charta von Stäfa steht auch, Christinnen und Christen hätten mit Blick auf die Schöpfungsbewahrung ein «Wächteramt gegenüber Politik und Gesellschaft». Zugleich aber heisst es einschränkend, «dass die Menschheit nicht vollkommen ist und wir nicht alles kontrollieren können».

Einseitige Appelle an die Eigenverantwortung tragen zu einer Depolitisierung bei und werden der Sachlage nicht gerecht: den systemischen Problemen. Gleichzeitig braucht es Einzelne, die sich engagieren und Communitys, die sich selbst organisieren.

Wie schwer es fällt, gesamtgesellschaftlich zu Umstellungen zu gelangen, zeigt sich gerade jetzt angesichts der kriegsbedingten Energiekrise. Und wie wenig Einzelne bereit sind, auf Gewohnheiten zu verzichten, macht das Post-Pandemie-Flugchaos in diesem Sommer deutlich.

Viele haben offenbar den Eindruck, eine Flugreise verdient zu haben, ökologischer Fussabdruck hin oder her.

Umgekehrt zeigte die Pandemie aber auch, zu welchen einschneidenden Veränderungen Gesellschaften tatsächlich in der Lage sind; und wie sogar zuvor unmöglich Scheinendes auf einmal doch möglich ist.

Christliches Wächteramt

In der Umwelt- und Energiecharta ist also von einem christlichen Wächteramt die Rede.

  • Was für ein Wächteramt können Christ:innen ausüben? Ein starkes oder eher ein schwaches?
  • Welche Rolle können Kirchen, die selbst in der Krise stecken, bei der Klimarettung spielen?
  • Gehört Umweltengagement zur christlichen Matrix oder gibt es – auch das kann man gelegentlich hören – für Kirchen «grössere Probleme» als den Klima-Burnout?
  • Und in welchem Verhältnis stehen strukturelle Bedingungen und Eigenverantwortung?

In Stäfa funktioniert die Umsetzung von Massnahmen bisher gut. Eine Erdsondenheizung wurde angeschafft und installiert. Beim Apéro gibt es schon länger statt Orangensaft Apfelsaft von Apfelbauern aus Stäfa. Und auf Flugreisen verzichtet die Kirchgemeinde künftig, wenn die Kirchenpflege der Charta zustimmt.

Was an CO2 weiter ausgestossen wird, möchte die Kirchgemeinde kompensieren. Eine Möglichkeit ist, das über den kirchlichen Kompensationsfonds «Klima-Kollekte» oder andere Organisationen zu tun. Konkret heisst das: Kirchgemeinden zahlen für Umweltsünden freiwillige Geldbussen. Kompensation muss man sich leisten können. Wohlhabende Gemeinden sind da sicherlich im Vorteil. Aber das Ziel ist auch dort: Umweltsünden künftig vermeiden.

Ein Dossier des RefLab zum Thema «Climate Chance», das laufend ergänzt wird, findet sich hier.

Fotos: Johanna Di Blasi

3 Kommentare zu „«Es ist sicher nicht zu früh»“

  1. Jürgen Friedrich

    Leben ist nicht schwierig, weil die Vergangenheit dich festhält, sondern weil du gedanklich immer wieder in die Vergangenheit zurückkehrst und in ihr verweilst. Lass das vergangene einfach los. Es fließt von selbst davon wie Wasser. Dein wahres selbst ist nicht der Fluss der Erinnerung, sondern es betrachtet in aller Ruhe die Strömung vom Ufer aus, um im zeitlosen Moment der Wirklichkeit die Gegenwart in Zukunft und Vergangenheit zu verwandeln. WIRKLICHKEIT ist die Summe aller gedacht Herr Gedanken.

  2. Martin Rothauser

    Eine korrekte Bilanz ist immer ausgeglichen, es gibt KEINE positive Bilanz! Bitte kämpft gegen Food-Waste, Verschmutzung durch Plastik und für nachhaltigen Konsum, aber hört bitte auf mit dieser unsäglichen Heuchelei und Hybris, dass der Verzicht der Kirchgemeinde Stäfa auf Flugreisen das Klima nachhaltig retten werde oder auch nur irgendwie positiv beeinflusse. So wichtig seid ihr nicht und NIEMAND wartet auf Euch, dass ihr mit gutem Beispiel vorangeht. China baut im Moment über 200 neue Flughäfen und ihr glaubt, mit Apfelsaft die Welt zu retten? Ohne Hochtechnologie, die im grossen Stil CO2 aus der Atmosphäre filtern kann und uns hilft, mit dem Klimawandel umzugehen, wird die Zukunft schwierig, da führt kein Weg vorbei. Eure Massnahmen, die den CO2 Ausstoss von Stäfa um ein 1000stel Promille reduzieren, wirken für mich nur lächerlich.

  3. Johanna Di Blasi

    Danke fürs genaue Lesen. Eine «positive Bilanz ziehen» lautet im Deutschen zwar tatsächlich eine Redewendung, streng genommen aber haben sie mit ihrem Hinweis recht. Wieso es aber lächerlich sein soll, den ökologischen Fussabdruck möglichst gering halten zu wollen, kann ich nicht nachvollziehen. Was wäre denn die Alternative?

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