Dein digitales Lagerfeuer
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 Lesedauer: 5 Minuten

Die Parallelwelt von ASMR [2]: Besuch von der Candy Fee

«Darf es ein Hair-Spa für deinen Tiefschlaf sein? Schau, ich massiere dir etwas Schaum in dein Haar. Oder lieber Parfum? Das hier riecht wirklich sehr frisch. Und für dich gibt es natürlich auch nur das Beste! Deshalb sprühe ich dir etwas drauf. Jetzt hab ich aus Versehen in dein Gesicht gesprüht. Da hab ich aber direkt mein Wattepad, einmal Äuglein zumachen…»

Schier endlose «individuelle» Behandlungen warten auf dem Amateurvideokanal Youtube auf Menschen, sie sich etwas einlullen lassen möchten. Es sind sozusagen Gutenachtgeschichten für Erwachsene. Millionen Menschen interessieren sich dafür. Sie wollen aber nicht Abenteuer, Märchen oder Neuigkeiten hören, sondern ganz im Gegenteil: möglichst inhaltsleeren, aber quasi-persönlich adressierten Talk und minimale Geräusche wie Rascheln oder Knistern.

Die häufigsten ASMR-Behandlungen oder auch «Rollenspiele» versetzen das imaginäre Gegenüber in Spa-Ressorts, Arzt-Praxen oder in den Frisiersalon. Auch ins Märchenreich kann man sich entführen lassen, z.B. von der Candy Fee Heather Feather, einer er erfolgreichen ASMR-Künstlerinnen. Sie setzt feine Klicklaute ein und binaurale Effekte, um ihre Fans in Trancetunnel zu entsenden.

Simulation von Nähe

Die Anpassung eines Gentleman-Massanzugs, «extra für dich», nimmt eine Dreiviertelstunde in Anspruch. Eine junge Frau streicht in einem ASMR-Rollenspielvideo mit überlangen Fingernägeln über Anzugstoff, befingert Seiten- und Innentaschen, berührt einzeln die Knöpfe. Danach nimmt Maria Mass am unsichtbaren Gegenüber, stets beruhigend in das Spezialmikrophon flüsternd. Schließlich raschelt sie mit braunem Schneiderpapier – die Community ist im Siebten Himmel; fast 9,5 Millionen Aufrufe des Videos.

Ganz offensichtlich lässt sich menschliche Nähe und Vertrautheit bis zu einem gewissen Grad auch virtuell herstellen. Gerade Flüstern assoziieren wir mit intimer Nähe und davon sind ASMR-Videos voll (wie ich im ersten Teil dieser Serie näher ausführte). Die Abkürzung steht für «Autonomous Sensory Meridian Response».

Solche Videos helfen ohne Zweifel, analoge Nähe- und Berührungsdefizite zu kompensieren. Aber das Phänomen erschöpft sich nicht darin, denn es werden Empfindungen ausgelöst, die in dieser speziellen Form offenbar an das virtuelle Medium geknüpft sind.

Attention Induced Head Orgasm

In einem früheren Stadium hieß das ASMR-Phänomen noch AIHO: «Attention Induced Head Orgasm» – oder «namenloses Gefühl». Experimente von Forscher:innen haben gezeigt, dass bei ASMR zwei Zentren im Gehirn gleichzeitig stimuliert werden, die sonst meist getrennt aktiv sind: die Areale für Beruhigung und Erregung. Darüber hinaus wurde auch in Arealen erhöhte Aktivität ermittelt, wo Gefühle des sozialen Zusammenhalts angesiedelt sind.

Der Musikwissenschaftler David Huron (Ohio State University) grenzt ASMR von Chills ab, also Gänsehautgefühlen. ASMR sei meist länger anhaltend und hänge wohl mit der Wahrnehmung von Gefahrenlosigkeit und altruistischer Aufmerksamkeit zusammen. Es ist also eine ausgesprochen komplexe Emotion oder Wahrnehmung, und, auch das haben Studien gezeigt, kein sexuelles Gefühl.

Eine Nähe des ASMR-Phänomens gibt es möglicherweise zum «Grooming» der Primaten, also der sozialen Fellpflege, die Tiere einen an Euphorie grenzenden Lustgewinn beschert. Im Fall von ASMR handelt es sich aber ausschliesslich um virtuelle Berührungen. Man kann es sich als ein Gekraultwerden auf dem digitalen Affenfelsen vorstellen.

Ganz zentral dabei ist die Laut- und Klangebene. In vertraute Sonosphären, also Geräuschwelten eingebettet zu sein, gehört zum menschlichen Leben und Glück seit Urhordenzeiten dazu (u.a. berührt der Philosoph Peter Sloterdijk das Thema in seiner Sphären-Triologie).

Monster vertreibt Angst

Während Forscher noch rätseln, testet die ASMR-Community immer neue Rollenspiele und Geräusche, die bei dafür empfänglichen Menschen Kribbeln und Wohlbehagen auslösen. Zu den einfallsreichsten ASMR-Künstlern, die mir bei meinen Recherchen untergekommen sind, gehört Ephemeral Rift. Er legte sich z.B. in einem grünen Reptilienkostüm in die Badewanne, um im ASMR-Stil zu blubbern und ein Quietscheentchen zu drücken: Ein ironisches Monster, das Angst vertreiben möchte.

Als eigenes Genre hat sich «Unintentional ASMR» herausgebildet: zufällig entstandene Beruhigungsvideos wie z. B. Geräusche, die durch coole muslimische Martial Art entstehen, Anweisungen des Zen-Meisters Thich Nhat Hanh, wie man schlechte Gewohnheiten ablegt, oder softe Kommentare des prominenten amerikanischen TV-Malers Bob Ross zur Wahl seiner Farben und Pinsel.

Gottgeflüster

Auch Gottesdienste und Bibellektüre haben grosses ASMR-Potenzial. Hier sind Teile eines Gottesdienstes als AMSR-Video aufbereitet worden, mit Rascheln, Hostie knabbern, Gebetsformeln murmeln, Hantieren mit einem Tuch und mit Wasser. Kommentare lauten:

«I’m kind of agnostic, but these ceremonies is nevertheless fascinating and admirable to me. And this is excellent ASMR, I got such tingles!»

(«Ich bin zwar Agnostiker, aber diese Zeremonien sind trotzdem faszinierend und bewundernswert für mich. Und das ist exzellentes ASMR, ich habe so ein Kribbeln bekommen!»)

«I’ve to admit that these parts of mass are 100% ASMR material.»

(«Ich muss zugeben, dass diese Teile der Messe zu 100% ASMR-Material sind.»)

Und auch das kann beruhigen: von Ohr zu Ohr geflüsterte Sätze aus der Bibel, gemixt mit Kirchenmusik, Feuerknistern, Hobbypredigen und Gewittertönen in der Ferne. Ein dankbarer Kommentar lautet:

«Whenever I feel my depression coming through, I watch your videos. You’ve helped a lot. Thank you.»

(«Wann immer ich meine Depression spüre, schaue ich mir Ihre Videos an. Sie haben mir sehr geholfen. Danke!»)

Die Welt der kleinen beruhigenden Geräusche ist etwas, das es zumindest mitzubedenken gilt, wenn im Zuge der Etablierung von Digital Churching nach medienadäquaten Formen gesucht wird.

Im letzten Teil der Serie geht es kommende Woche um den Zauber von Naturgeräuschen.

In ihrem Vlog hat meine Kollegin Evelyne Baumberger kürzlich das Thema parasozialer Beziehungen behandelt.

Photo Karolina Grabowska, Pexels.

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