Less noise – more conversation.

 Lesedauer: 4 Minuten

Der Zauber des Alltäglichen

Schon lange bevor «Achtsamkeitsübungen» zum Trend wurden, haben die Kirchen diese Praxis des Gegenwärtigseins geübt – und es gibt guten Grund, sie neu zu entdecken. Heute geht es um den Zauber des Lebens, den wir in der Geschäftigkeit des Alltags zu verpassen drohen…

Junges Talent

Die Geschichte hat sich vor einigen Jahren in Washington DC ereignet. Es geht um Joshua Bell. Seine Eltern haben gemerkt, dass ihr Sohn eine außerordentliche Begabung hat, als er vier Jahre alt war. Er war von Musik so begeistert, dass er ein Gummiband an seiner Kleiderkommode befestigt hat und damit klassische Kompositionen spielte, indem er die Spannung des Gummibandes veränderte…

Die Eltern dachten: Wir müssen diesen Jungen zum Musikunterricht anmelden – und diese Entscheidung hat sich ausgezahlt: Joshua Bell wurde zu einem der bekanntesten und gefeiertsten Violinisten der Welt.

Bis heute füllt er die größten Konzertsäle der Welt und spielt auf einer echten »Stradivari« – eine Geige, die 1730 gebaut wurde und als die beste Geige der Welt gilt. Das Instrument kostet etwa dreieinhalb Millionen Dollar…

Urbanes Experiment

Aber das alles ist nur die Vorgeschichte: Vor einigen Jahren macht nämlich die Zeitung »Washington Post« eine empirische Studie zur Wahrnehmungsfähigkeit von Menschen mitten im Alltag.

Die Verantwortlichen dieser Studie kommen auf die Idee, Joshua Bell in unauffälliger Alltagskleidung in die Eingangshalle einer U-Bahn-Station zu stellen und ihn zur Rush-Hour dort spielen zu lassen. Sie wollen herausfinden, wie die Leute darauf reagieren.

Was passiert, wenn einer der besten Violinisten der Welt auf einer der besten Geigen der Welt einige der schönsten klassischen Stücke der Musikgeschichte spielt – in einer U-Bahn-Station beim Werktagsbetrieb?

Und Joshua Bell hat mitgemacht – obwohl einige führende Konzertmusiker davor gewarnt haben: Das gibt einen Menschenauflauf, haben sie prophezeit. Solche einzigartige Musik von einem Meister gespielt wird Massen von Zuschauern anziehen und ein Chaos verursachen…

Verkannter Meister

Und hier steht er also, Joshua Bell in einem verzogenen Pullover im Untergrund der U-Bahn. Es gibt ein Video im Zeitraffer, das die 45 Minuten zusammenfasst, in denen Bell hier acht Stücke von Johann Sebastian Bach spielt.

In dieser Zeit betreten 1097 Leute diese U-Bahn-Station – und laufen stracks… an ihm vorbei.

Normalerweise bezahlen die Leute hunderte von Dollar für einen Sitz in den vordersten Reihen, um Joshua Bell zu hören – und hier ist er kostenlos zu hören. (Die Akustik in dieser Unterführung soll übrigens erstaunlich gut gewesen sein.)

Aber niemand nimmt Notiz.

Kein Einziger applaudiert.

In den Dreiviertelstunden halten nur sechs Leute überhaupt an, um einige Sekunden länger zuzuhören, und 20 Leute werfen ihm etwas in den Geigenkasten, ohne ihren Schritt zu verlangsamen.

Eine Frau erkennt ihn, weil sie kürzlich ein Konzert von ihm besucht hat, und gibt ihm 20 Dollar – ansonsten kommen in dieser Zeit gerade mal 12 Dollar und 37 Cent zusammen.

Himmlische Musik

Der Meister höchstpersönlich spielt – aber niemand schenkt ihm Aufmerksamkeit. Die Musik des Himmels erfüllt den Raum – aber alle sind zu beschäftigt, zu gestresst, zu abgelenkt um überhaupt zuzuhören…

Es gibt eine breite Tradition christlicher Spiritualität, die von der Überzeugung lebt:

Der Meister spielt auch in unserem Leben. Die Musik des Himmels, die Stimme Gottes erfüllt auch unseren Alltag.

Die Schönheit der Natur, der Geruch frischen Kaffees, die Umarmung eines Freundes, ein überraschender Sommerregen, sonnendurchflutete Kirchenfenster, eine ganz alleine genossene Mahlzeit, das freundliche Lächeln eines Passanten, das Zwitschern der Vögel, der kühle Abendwind, von mir aus auch eine anschmiegsame Katze oder ein Hundewelpen: Das Leben schenkt uns unzählige Momente, denen ein eigener Zauber innewohnt – aber viel zu oft gehören wir zu denen, die achtlos vorbeigehen. Zu denen, die die Gegenwart des Schönen, des Guten, des Wahren – ja: des Heiligen – nicht wahrnehmen, weil sie selbst nicht in der Gegenwart sind.

Anregung

Identifiziere an diesem Tag einen Moment des alltäglichen Zaubers und lass ihn bewusst auf dich wirken – oder besser: lass ihn dich einholen…

 

Illustration: Rodja Galli

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