Less noise – more conversation.

 Lesedauer: 4 Minuten

Momente im «Dazwischen»

Alltägliche Wartezeiten

»Stille« hat nicht nur mit der Abwesenheit von akustischen Reizen zu tun, sondern auch mit der Reduktion von Ablenkungen:

Die Stille, in der wir uns selber aushalten und uns gerade damit der Gegenwart Gottes aussetzen, ist noch nicht automatisch hergestellt, nur weil wir die Fenster schließen, um den Motorenlärm draußen zu halten.

Ein massiver Störfaktor für Momente der Stille sind in unserer Zeit zweifellos all die elektronischen Möglichkeiten, die sich uns anbieten, um uns zu zerstreuen, uns abzulenken, uns mit fremden Gedanken zu füllen.

Man könnte auch so fragen: Was haben folgende Orte gemeinsam: (1) Eine Bushaltestelle (oder die Haltestelle einer Straßenbahn oder U-Bahn); (2) eine Parkbank zur Mittagszeit; (3) das Innere eines öffentlichen Verkehrsmittels (Bus oder Strassenbahn…); (4) ein Tisch in einem Restaurant, bevor die Getränke und das Essen serviert wurden; (5) eine Toilette; (6) ein Stau auf einer Autobahn; (7) das Wartezimmer eines Arztes oder Therapeuten; (8) ein Sofa im Wohnzimmer zu Hause; (9) eine Badewanne?

Momente dazwischen

Die Antwort liegt auf der Hand: Die genannten Situationen und Orte stehen für jene Zeiten in unserem Alltag, in denen wir freiwillig oder unfreiwillig eine Pause einlegen.

Das sind Momente zwischen unseren aktuellen Aufgaben, Verpflichtungen und Beschäftigungen – jene oft kurzen Gelegenheiten, in denen keiner etwas von uns will und wir die Möglichkeit haben, durchzuatmen, »bei uns selbst anzukommen«, ein Stück Ruhe zu erleben.

Im Leben jedes Menschen gibt es solche Momente – auch der beschäftigteste Hausmann muss einmal aufs Klo, jede noch so gestresste Managerin muss einmal etwas essen, und auch der überfordertste Student kann den Bus nicht beschleunigen, auf welchen er auf dem Weg zu Uni wartet.

Verhinderte Atempausen

Und es sind genau diese Zeiten unseres Alltags, die wir in den letzten zehn Jahren verloren haben – oder besser: geopfert haben auf dem Altar der Kommunikations- und Multimediakultur.

Sämtliche Atempausen unseres Lebens haben wir geradezu strategisch aufgefüllt, manchmal richtiggehend zugemüllt mit den Schlagzeilen von Gratiszeitungen, mit Meldungen von Facebook und Twitter, der Überprüfung der Mail-Eingänge, dem Versuch, noch kurz die Highscore im Lieblingsgame zu toppen, und natürlich mit dem Fotografieren auch der belanglosesten Situationen unseres Lebens – zur Verwertung auf den Sozialen Medien.

Und abends, wenn wir uns nach einem vollen Tag ein entspannendes Bad gönnen, dann darf natürlich auch das Smartphone nicht fehlen. Eine neue Generation von Smartphones hält jetzt auch den Kontakt mit Wasser aus und kann also in der Badewanne verwendet werden – die Hersteller versprechen sich starke Absätze, und es ist ja auch genau, was uns verzweifelt gefehlt hat: die Möglichkeit, auch in der Badewanne noch zu posten und Mails zu checken…

Bewusster Umgang

Um ein Missverständnis auszuräumen: Ich habe nicht vor, in ein undifferenziertes kulturpessimistisches Technologie-Bashing einzustimmen, das an den Fortschritten unserer Zeit kein gutes Haar lässt und das Internet mitsamt allen Mobiltelefonen, Computerspielen und Fernsehern als Teufelszeug verurteilt.

Nein: Wir verdanken den technischen Mitteln unserer Zeit enorm viel, und es ist aufregend und begeisternd, im 21. Jahrhundert zu leben!

Aber wenn wir die bemerkenswerten technischen Errungenschaften unserer Zeit benutzen wollen, ohne von ihnen benutzt zu werden, dann müssen wir unseren Umgang mit ihnen bewusst durchdenken.

Dann müssen wir uns klar machen, was diese Gadgets und Informationsquellen mit unserem Leben machen – und wie wir verhindern können, dass sie uns etwas Essentielles rauben.

Anregung

Leg am besten gerade jetzt dein Handy für einige Minuten zur Seite und geniesse die dir geschenkte Zeit, um den aktuellen Moment wahrzunehmen und wertzuschätzen.

Hinweis

Vom 9. bis 19. Juni findet in Zürich ein Festival zum Entdecken der Stille statt – unter dem Titel «STILLES ZÜRICH 2022»: Herzliche Empfehlung, die grösste Stadt der Schweiz mal von einer ganz anderen Seite kennen zu lernen…!

 

Illustration: Rodja Galli

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