Kein Desinfektionsmittel
Letzte Woche musste ich zum Arzt. Nicht wegen Husten, Atembeschwerden oder anderer zur Zeit berüchtigter Symptome, sondern aufgrund anhaltender Rückenschmerzen. Am Eingang des mehrstöckigen Gesundheitszentrums sind die obligaten Schilder angebracht, die vor Ansteckungen warnen, ausserdem ein Desinfektionsmittel-Spender. Als jemand, der schon im normalen Leben in Sachen »Keime und Käfer« nur knapp an der Neurotiker-Grenze vorbeischrammt, mache ich dankbar davon Gebrauch.
Nach mehreren Röntgen-Aufnahmen und zahlreichen Interaktionen mit Radiologiefachpersonen frage ich erneut nach der Möglichkeit, meine Hände zu desinfizieren. Dabei gebe meiner Verwunderung darüber Ausdruck, dass im ganzen Gebäude offenbar nur im Empfang ein entsprechendes Mittel bereitsteht. Die Praxisassistentin erklärt mir dann, dass man die Desinfektionsmittel in den einzelnen Praxen des Hauses in verschliessbare Schränke habe wegsperren müssen – es seien einfach zu viele Fläschchen von Patienten geklaut worden. Kopfschüttelnd meinte sie:
»Ja, wenn’s hart auf hart kommt, schaut jeder nur noch für sich selbst…«
Unterirdische Reflexe
Tatsächlich lassen sich für dieses ernüchterte Statement viele weitere aktuelle Beispiele finden. An mehreren deutschen Grundschulen wurden Palettweise Klopapier und Flüssigseife entwendet, in einer Kinderklinik in Bremen wurde das Desinfektionsmittellager ausgeräumt, Schweizer Spitäler klagen über Diebstähle von Atemmasken. Die Polizei musste in Lebensmittelläden einrücken, um Prügeleien um Grundversorgungsmittel zu schlichten. Die USA verzeichnet einen sprunghaften Anstieg der Waffenkäufe (Waffenläden wurden in den Vereinigten Staaten als »systemrelevant« eingestuft und also auch in der Krise offen gehalten…): Streitbare Bürger bereiten sich auf die Selbstverteidigung im apokalyptischen Chaos vor. Und natürlich sind allen die verstörenden Videos aus australischen Supermärkten vor Augen, auf denen sich hysterische Mütter über einem Berg Klopapier fast die Augen auskratzen.
Dabei erfolgen all diese zwischenmenschlichen Fehlleistungen – nach allem was sich vermuten lässt – noch nicht einmal aus einer tatsächlichen Notlage heraus. Es reicht die hypothetische Aussicht auf eine Notlage, um die niedersten Instinkte im Menschen zu wecken.
Schon die blosse Angst vor persönlichen Nachteilen und Verlusten macht Teilnehmer westlicher Wohlstandsgesellschaften zu egomanischen Hyänen.
Man mag sich gar nicht ausmalen, welche Zustände herrschten, wenn die Nahrungsmittel hierzulande wirklich knapp würden, die medizinische Grundversorgung tatsächlich zusammenbräche, öffentliches Chaos überhand nähme…
Walking Dead
Als Serien-Nerd sind mir da natürlich sofort die Bilder aus berühmten apokalyptischen Fortsetzungsgeschichten auf Netflix und Co. vor Augen – denn cinéastisch haben wir diese Szenarien schon unzählige Male durchgespielt: Die Menschheit wird von Zombies angegriffen (»The Walking Dead«, »Z Nation« u.v.a.), durch Kriege dezimiert (»The Shannara Chronicles«), von einer nuklearen Katastrophe heimgesucht (»The 100«), von Aliens fast ausgerottet (»Falling Skies«) oder von einem Virus dahingerafft (»The Last Ship«, »See« u.a.)… und immer besteht das Spannende darin, zu beobachten, wie sich die wenigen Überlebenden durchschlagen:
Wie organisieren sich Menschen, wenn keine Gesetze mehr in Kraft sind, keine Polizei mehr für Ordnung sorgt und die pure Macht des Stärkeren regiert?
Wie reagieren Menschen auf existenzielle Bedrohungen, wenn sie nicht mehr durch einen funktionierenden Rechtsstaat und soziale Gepflogenheiten im Zaum gehalten werden?
Die genannten Serien-Formate zeichnen durchgehend ein düsteres Bild, voll grausamer Gewalttaten und würdeloser Selbstdurchsetzung.
Wenn es ums nackte Überleben geht, wird jeder jedem zum Wolf. Oder, um ein anderes Tier zu bemühen, das diese metaphorische Abwertung eigentlich nicht verdient hat: In der Not (und manchmal auch ohne Not…) wird der Mensch zum Schwein.
Das Schwein
In seinem aufwühlenden Theaterstück »Der Stellvertreter« thematisiert Rolf Hochhuth die Haltung der katholischen Kirche zur Judenvernichtung im dritten Reich. Die berüchtigte Jägerkellerszene (1. Akt, 2. Szene), in welcher sich die Abgründe menschlicher Grausamkeit auftun, ist mit einem Zitat des Dichters Gottfried Benn (1886-1956) überschrieben:
»Die Krone der Schöpfung, das Schwein, der Mensch«.
Im selben Atemzug wird hier die göttliche Bestimmung des Menschen durch die Feststellung seiner Schandhaftigkeit konterkariert. Und man braucht gar nicht in die dunkelste Zeit des vergangenen Jahrhunderts zurückzublicken, um das Wahrheitsmoment dieser fürchterlichen Aussage anerkennen zu können. Zahlreiche ökonomische, ökologische und humanitäre »Schweinereien« im Grossen wie im Kleinen prägen auch das neue Millennium, und sie werden im Ausnahmezustand der aktuellen Pandemie wie durch ein Vergrösserungsglas vorgeführt.
Zugespitzt auf den Linien der Erfolgsserie »The Walking Dead« könnte man auch sagen: Selbst in einer Zombie-Apokalypse geht die grösste Gefahr nicht von den umherstreifenden Untoten aus, sondern von den eigenen Mitmenschen, die bereit sind, über Leichen zu gehen, um ihre eigene Haut zu retten. Oder auch nur, um ein paar Vorteile daraus zu ziehen.
Aufbrechende Solidarität
Das ist keine erhebende Perspektive – und es ist auch zum Glück nicht alles, vielleicht (theologisch: sicher!) nicht einmal das Wesentliche, was es zum Menschen zu sagen gibt. So leben auch die genannten apokalyptischen Serien natürlich nicht nur von eskalierender Gewalt und Bestialität, sondern viel mehr noch von zwischenmenschlicher Zuwendung, von Vertrauen, Barmherzigkeit und sogar Selbstaufopferung. Alles andere wäre nicht nur himmeltraurig anzusehen – es wäre auch nicht wahrhaftig.
Ja, es gibt ernüchternde Geschichten von Selbstsucht und Rücksichtslosigkeit, auch mitten in der gegenwärtigen globalen Krise. Aber es gibt zugleich unzählige Alternativgeschichten: Berichte von Initiativen zur Nachbarschaftshilfe; Anwohner, die sich organisieren, um den älteren Menschen von nebenan Lebensmittel bereitzustellen. Solidaritäts-Aktionen zugunsten von Friseuren, Restaurantbetreibern und Künstlern, denen im Zuge des Corona-Lockdowns das ganze Einkommen wegbricht. Und während sich die einen bis an die Zähne munitionieren, verschenken in den USA andere ganze Monatsgehälter an ihre finanziell bedrohte Reinigungskraft oder Gärtnerin.
Zudem beweist ein ganzes Heer von Ärzt*innen, Pflegepersonal und Nothelfer*innen landauf landab, dass die Rettung von Menschenleben und die Sorge um die Schwachen und Betagten noch immer jeden Einsatz wert ist.
In manchen Staaten arbeiten medizinische Fachleute sogar ohne ausreichendes Material zum Selbstschutz unermüdlich weiter, und es häufen sich Berichte von Todesfällen unter ihnen: Sie waren bereit, die Sicherung der medizinischen Versorgung mit ihrem Leben zu bezahlen.
Mensch werden
Man wird wohl sagen können:
Wie jede grosse Notlage ruft auch diese Krise sowohl das Schlechteste wie auch das Beste in Menschen hervor.
Und es ist nicht zuletzt der christliche Glaube, der uns mit beidem rechnen lässt: Dass Menschen von Angst getrieben oder von der Gier gezogen ihren niedersten Instinkten nachgeben – aber auch dass Menschen im Angesicht der Not über sich selbst hinauswachsen. Oder vielleicht besser: Dass sie zu sich selbst heranwachsen, zu dem werden, wofür sie geschaffen sind.
Die biblischen Überlieferungen wie auch die christlichen Traditionen werfen in aller Regel keinen verklärten, weichgezeichneten Blick auf den Menschen und seine Möglichkeiten. Sie rechnen vielmehr ausgesprochen unverzaubert mit der Gebrochenheit unserer Existenz und der Ungerechtigkeit zwischenmenschlicher Verhältnisse. Zugleich halten die Kirchen aber seit jeher und mit gutem Grund daran fest, dass Gott seine Menschheit nicht im Stich gelassen hat. Dass diese Schöpfung eben nicht von allen guten Geistern verlassen, sondern vom Schönen, Wahren und Heiligen durchdrungen ist.
Sicher hat die Geschichte der Theologie und Kirche auch tiefschwarze Anthropologien hervorgebracht, die nichts Gutes am Menschen mehr anzuerkennen bereit waren. Manchmal diente eine möglichst pessimistische Sicht der menschlichen Natur auch dazu, das christliche Heilsversprechen attraktiver zu verkaufen. Aber wer die ungebrochene Zuwendung Gottes zu seiner Schöpfung und seinen Geschöpfen ernst nehmen will, der wird sich solcher Schwarzmalerei im Namen des Evangeliums versperren müssen:
Gerade die bleibende Gegenwart Gottes in dieser Welt weckt in Menschen ungeahnte Potenziale und legt frei, wozu wir im Positiven fähig sind – ja, wofür wir eigentlich bestimmt sind.
Worauf wir setzen
Und zum Glück wird im ganz normalen Alltag wie auch in der momentanen Ausnahmesituation deutlich, dass nicht nur Angst und Gier übertragbar sind und zuweilen schneller um sich greifen als das gefürchtete Virus selber. Nein, auch Grosszügigkeit, Empathie, Selbstlosigkeit und Hingabe sind ausgesprochen ansteckende Qualitäten.
Wie befreiend ist doch die Nähe eines Menschen, der sich nicht von der Sorge antreiben lässt, zu kurz zu kommen, sondern der es wagt, sich um andere zu sorgen: Da wird die eigene Empathiefähigkeit aus ihrem Schlaf geweckt! Und wer sich mutig weigert, in der Not die emotionalen Barrikaden hochzuziehen, und sich stattdessen vom Schicksal anderer bewegen lässt – der wird auch andere motivieren, die eigenen Zäune weiter zu stecken.
Überhaupt kann sich jede und jeder darauf gefasst machen, in der Gesellschaft von freigiebigen, angstbefreiten, aufopferungsvollen Menschen nicht unberührt zu bleiben. Und das ist gut so!
Noch einmal also: Wir haben Grund, in einer Pandemie wie im Alltag mit dem Schlechtesten und mit dem Besten zu rechnen, was der Mensch zu bieten hat. Aber wir sollten nur auf das letztere setzen und uns selbst dafür öffnen. Denn auch wir sind nicht von allen guten Geistern verlassen.
2 Gedanken zu „»Die Krone der Schöpfung … das Schwein, der Mensch.«“
Ein eindrücklicher Text! Das von der “Menschwerdung des Menschen” als Zukunftshoffnung, als Utopie, finde ich bei Jesus in seinen Seligpreisungen (Mat.) und an vielen anderen Stellen. Ich bin überzeugt, dass Jesus – im krassen Gegenteil zu Paulus – genau diese “Menschwerdung” im Auge hatte: Ihr sollt (könnt) vollkommen sein, wie euer Vater in den Himmeln vollkommen ist.” – Das – bin ich überzeugt – ist die Botschaft Jesu. Und mit seinem selbst gewählten “Leiden und Sterben” zeigt er das Gegenteil von “Menschlichkeit” mit nicht überbietbarer Deutlichkeit auf. Dass Paulus “an Jesus vorbei” etwas völlig anderes – das “Seelenheil bei Gott” – zum Zentrum gemacht hat, brachte dann eine “Kirche” hervor, welche die Menschenwürde mit Füssen trat. Ein Vorgang, der leider – Kindesmissbrauch etc. – immer noch unerträglich ist, unerträglich sein sollte. Ich bezweifle zwar, dass “Corona” da nachhaltig Besserung bringt.
Danke Reinhard Rolla – ein interessanter und eigenwilliger Kommentar! In der Deutung von Paulus werden wir uns wohl nicht ganz einig werden, aber die Hoffnung auf die Menschwerdung des Menschen halten wir gemeinsam fest!