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 Lesedauer: 7 Minuten

Die Grenzen des Humors

Ableistischer Humor im Netz

In den letzten Tagen füllte sich mein Social-Media-Feed vor allem mit einem Thema: Die ableistischen Aussagen von Comedian Luke Mockridge und Podcaster Nizar Akremi und Shayan Garcia:

Im Podcast «Die Deutschen» sprechen die drei abwertend über Athlet:innen der Paralympischen Spiele. So sagt zum Beispiel Mockridge: «Es gibt Menschen ohne Beine und ohne Arme, die wirft man ins Becken – und wer als Letzter ertrinkt, der hat halt gewonnen.»

Konsequenzen gefordert

Daraufhin haben Menschen aus der Behinderten-Community reagiert und umgehend Konsequenzen gefordert. Beispielsweise gibt es nun zwei Petitionen: «Stoppt die Diskriminierung durch Ableistische Witze!» und «Kein Platz für Behindertenfeindlichkeit in den Medien!»

Auch diverse Medien wie die Süddeutsche Zeitung oder der Spiegel reagierten und Veranstalter sowie Fernsehsender haben Konsequenzen gezogen: Unter anderem setzt Sat1 eine neue Show mit Mockridge ab.

Warum das für mich einen Bericht wert ist?

Weil die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen unter dem Deckmantel von Meinungs-, Kunst- oder Satirefreiheit auch unter Christenmenschen ein Thema sein sollte.

Definition von Ableismus

Doch was ist Ableismus überhaupt? Ableismus ist, wenn Menschen mit Behinderungen auf ihre Behinderung reduziert und dadurch benachteiligt werden.

Dies kann sich in verschiedenen Formen zeigen. Zum Beispiel durch Vorurteile, ungleiche Behandlung oder das Ignorieren der individuellen Fähigkeiten und Bedürfnisse der betroffenen Personen.

Alle tragen Ableismus in sich

Ähnlich wie bei anderen strukturellen Diskriminierungsformen ist Ableismus etwas, was alle Menschen unbewusst in sich tragen, auch behinderte Menschen.

Letzteres nennt man «internalisierter Ableismus». Es bedeutet, dass Menschen mit Behinderungen die negativen Einstellungen und Vorurteile, die sie von anderen erfahren, verinnerlichen. Sie beginnen, diese negativen Ansichten über sich selbst zu glauben und zu übernehmen.

Aktivist:innen der Behindertencommunity wie Raul Krauthausen, Luisa L’Audace oder Karina Sturm und viele mehr klären mit viel Fachexpertise auf.

Ableismus ist, ähnlich wie beispielsweise Rassismus, oft nur schwer zu identifizieren.

Im Zuge der Sensibilisierung sollten darum folgende Diskriminierungsbegriffe erwähnt werden:

Verschiedene Diskriminierungsbegriffe

 

  • Pity Porn
    Pity Porn beschreibt die Darstellung von Menschen mit Behinderungen auf eine Weise, die Mitleid erregen soll. Dies kann bei nicht behinderten Menschen ein Gefühl der Überlegenheit oder Dankbarkeit für ihre eigene Situation hervorrufen. Solche Darstellungen entmenschlichen die Betroffenen, intensivieren ihre emotionale Belastung, verstärken Stereotypen und fördern die soziale Ausgrenzung.
Comic einer Person im Rollstuhl, die von Passant:innen bejubelt wird.
«Spectators» by the Disabled Life
  • Able Savour-Komplex und Aible Splaining
    Der Able Saviour-Komplex bezieht sich auf die Haltung, dass sich nicht behinderte Menschen als «Retter:innen» von Menschen mit Behinderungen sehen. Sie glauben, helfen oder verteidigen zu müssen, ohne die tatsächlichen Bedürfnisse oder Wünsche der Betroffenen zu berücksichtigen. Able-splaining bedeutet, dass nicht behinderte Menschen behinderten Menschen ihre Behinderungen erklären, sie korrigieren oder ungefragte Tipps geben.
«Gute» Ratschläge
«Du musst nur gesünder essen!» by Sarah Staub
  • Inspiration Porn
    Dieser Begriff, geprägt von der Aktivistin Stella Young (unbedingt TED Talk anhören!), beschreibt die Darstellung von Menschen mit Behinderungen als inspirierende Objekte für nicht behinderte Menschen. Alltägliche Aktivitäten von behinderten Menschen werden als aussergewöhnlich dargestellt, um nicht behinderten Menschen ein gutes Gefühl zu geben.
Meme eines Jungen mit Beinprothesen und ein Motivationsquote
«The only disability in life is a bad attitude» Meme

Witze auf Kosten von Minderheiten?

Dass man keine Witze über Menschen mit Behinderungen macht, die sie als Menschen abwerten, ist zwar grösstenteils Konsens.

Trotzdem gibt es im Verlauf des neuesten Skandals erneut jene Stimmen, die es als diskriminierend bezeichnen, wenn über behinderte Menschen keine Witze gemacht werden:

Jede:r habe das Recht, dass über ihn oder sie gelacht werde, das beinhalte auch behinderte Menschen.

Auch behinderte Menschen haben Humor🤯

Diese Aussagen sind nicht per se falsch, aber brauchen meines Erachtens Differenzierung:

Die Frage, ob bei einem Witz über oder mit Menschen mit Behinderungen gelacht wird oder gegen sie, ist entscheidend.

So divers, wie Menschen mit Behinderungen sind, so divers ist auch der Humor in der Community. Viele Betroffene pflegen einen durchaus schwarzen Humor und können über sich und ihre Situation lachen.

Humor kann sogar hilfreich sein, um Klischees und Diskriminierung aufzudecken.

Der Unterschied jedoch ist, dass Betroffene die Hoheit über diese Art des Humors behalten sollten.

Ein tolles Beispiel hierzu ist Tina Friml, eine Comedian mit Zerebralparese, die scharfzüngig und augenzwinkernd ihren Alltag beschreibt.

Über Klischees lachen

Ein weiteres positives Beispiel stammt aus der TV-Serie «Die Discounter», wo der Filialeiter Thorsten Kruse einen neuen Sicherheitsmann sucht. Nach einigem Hin und Her findet er den perfekten Kandidaten: Ringo.

Als Thorsten Ringo zum Vertragsabschluss einen Handschlag geben will, bemerkt er, dass Ringo eine Körperbehinderung hat. Unangenehm berührt zieht Thorsten seine Hand zurück und stammelt aus Überforderung.

In dieser Situation lachen die Zuschauenden nicht über Ringo und seine Behinderung, sondern über die Überforderung und die Vorurteile des Filialleiters Thorsten.

Sie amüsieren sich über das ableistische Klischee, nicht über den Betroffenen.

Die Grenzen von Humor

Wenn Menschen jedoch herabgewürdigt und behindertenfeindliche Stereotype gezeichnet werden, spricht man von Diskriminierung.

Wenn die Opfer oder die Betroffenen selbst zum abgewerteten Subjekt des Witzes werden, ist die Grenze des Humors erreicht.

Eine Chance für Diskriminierungsbewusstsein

Zurück zur Ableismus-Geschichte um Luke Mockridge und Co: Die Aufmerksamkeit und die daraus resultierenden Konsequenzen sind wichtig.

Menschen mit Behinderungen werden jedoch über diese Podcastfolge hinaus und meistens mit sehr direkten Auswirkungen [1] diskriminiert.

Das derzeitige Momentum ist also auch eine Chance, um in unserer Gesellschaft ein Bewusstsein für Diskriminierung von behinderten Menschen zu schaffen:

Nicht überall ist sie so hör- und sichtbar, wie in dieser Podcastfolge. Oft läuft sie subtil ab. Und sie geschieht selten in vollem, mutwilligem Bewusstsein. Trotzdem passiert sie.

Sensibilisierung und Verbündung helfen

Die Sensibilisierung von nicht behinderten Menschen hilft, diese verletzenden Strukturen aufzudecken und die Zukunft für Menschen mit Behinderungen sicherer und inklusiver zu machen.

Nicht nur bei deplatziertem Humor, auch bei ableistischer Sprache oder Diskriminierung im Alltag.

Darum auch meine Bitte an die geschätzte Leser:innenschaft: Seid unsere Verbündeten.

Bildet euch zu Ableismus und Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen weiter.

Das muss nicht von heute auf morgen perfekt gelingen und braucht durchaus Mut, Durchhaltewille und Reflexionsbereitschaft.

Gemeinsam für eine gerechtere Welt

Sich gemeinsam mit uns Betroffenen für eine gerechtere und diskriminierungsfreiere Welt einzusetzen gelingt am besten in Teilschritten:

Zum Beispiel indem man bei der kommenden Inklusionsinitiative Ja stimmt und den Betroffenen die Deutungshoheit über ihre Themen anerkennt.

Auch und gerade beim Thema Humor.

Denn Humor von und mit behinderten Menschen kann vor allem eins sein: richtig, richtig witzig! [siehe 2]

 

 

Comic zur Verfügung gestellt von Jessica und Lianna Oddi: The Disabled Life.

Sarah Staub ist Pfarrerin in der evangelisch-methodistischen Kirche Schweiz und selbst betroffen von einer multisystemischen Körperbehinderung. Sie veröffentlicht bei RefLab in loser Folge Artikel rund um die Theologie der Behinderung und ihre eigenen Erfahrungen damit. Im RefLab Podcast Stammtisch «Inklusion fängt bei der Sprache an» spricht sie mit der Kommunikations- und Inklusionsexpertin Saphir Ben Dakon über Behinderungen, Barrieren und Aktivismus. Auf Instagram postet sie als «die fromme Häretikerin» regelmässig Illustrationen und Texte. 

 

 

Dieser Artikel wurde u.a. dank Arbeit von Matilda Melitto möglich. Ihr Video zu Mockridge, Akremi und Garcia von Matilda Melitto: Darf Comedy Witze über Behinderung?! | MATILDA (youtube.com)

[1] Beispiele: Behindertenparkplätze verschwinden, trotz Vorgabe ist der öffentliche Verkehr immer noch nicht behindertengerecht, selbstbestimmtes Wohnen wird nach wie vor eingeschränkt usw.

[2] Comedians mit Behinderungen: Toby Käp, Timur Turga, Ninia LaGrande, Tony Bauer, Martin Fromme, Okan Seese, David Stockenreitner, Hannah Gadsby, Ahren Belisle, Maysoon Zayid usw.

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