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 Lesedauer: 6 Minuten

Der Unruhestifter

Nachdem ich letztes Jahr meine erste Predigt gehalten habe, gab mir jemand das Feedback, zu versuchen, „Jesus-zentrierter“ zu predigen. Bezeichnenderweise wusste ich genau, was die Person meinte. Auch wenn der Predigttext aus dem Alten Testament stammte, der hebräischen Bibel, wo Jesus noch kein Thema ist (jedenfalls nicht explizit, wie manche einwenden würden).

Manche Christ*innen erwarten, dass jede (!) Predigt darauf zuläuft, dass Jesus Christus’ Tod und Auferstehung uns von der Schuld unserer Sünden befreit und wir dies ausdrücklich annehmen müssen, um danach und vor allem nach dem Tod ein Leben in Gottes Liebe führen zu können. Schlicht und einfach: Meine Predigt erfüllte dieses Kriterium nicht.

Die einzige Wahrheit

Das hat einen einfachen Grund. Und zwar frage ich mich schon sehr lange: Was hat dieser Jesus eigentlich mit mir zu tun?

Dass Jesus von Nazareth gelebt hat und als Wanderprediger und Wunderheiler durch die Gegend zog und Anhänger*innen um sich scharte, ist historisch ziemlich gut belegt. Aber warum war er so besonders? Und warum soll er für meinen Glauben heute zentral sein?

Es gibt diverse Interpretationen, zwischen denen man wählen kann. War Jesus ein Menschenfreund, ein spiritueller Lehrer, oder der Mensch gewordene Gott? Was mich abschreckt: Alle, die ihre Wahl bereits getroffen haben, scheinen „ihre“ Option für die einzig Wahre zu halten – und alle anderen für falsch. Und zwar vehement!

Prügelmönche in Jesu Namen

Das war schon so, als Jesus noch auf der Erde lebte. Die einen hielten ihn für den gottgesandten Weltveränderer, die anderen hielten ihn für einen gefährlichen Hochstapler. Der römische Schriftsteller Sueton nannte Jesus zu Recht einen Unruhestifter. Ein Konzil im 5. Jahrhundert erhielt den Übernamen „Räubersynode“, weil die eigens dazu vom Bischof mitgebrachten Mönche Vertreter der gegnerischen Ansicht auf der Strasse verprügelten. Die klugen (oder zumindest machtbewussten) Männer der Kirche stritten erbittert darüber, ob Jesus Christus denn nun ein Mensch oder ein Gott oder sogar beides war – und wenn letzteres, wie genau.

Die Debatte, wer Jesus war, wird also seit knapp 2000 Jahren heftig geführt. Abwechslungsweise wurden die Vertreter der unterschiedlichen Meinungen in diversen Synoden und Konzilien exkommuniziert, rehabilitiert und zum Unterschreiben von Bekenntnissen gezwungen. Auch im 20. und 21. Jahrhundert könnten die Positionen, die Theolog*innen vertreten, teilweise nicht weiter auseinanderliegen. War Jesus nun der einzige Mensch mit einem ungetrübten Gottesbewusstsein? Der glücklichste Mensch, der je gelebt hat? War er Gottes Sohn, oder sogar der erwählende Gott selbst?

Opfertod am Kreuz – für mich?

Ich bin mit einem Bild von Jesus aufgewachsen, das vor allem sein Leiden am Kreuz betonte (oder jedenfalls ist mir speziell das hängengeblieben). Ich erinnere mich an einen Karfreitagsgottesdienst, als ich etwa zehn, elf Jahre alt war. Es gab wohl an diesem Tag keine Sonntagschule, sodass ich mit meinen Eltern in die Kirche ging. In der Predigt wurden anhand von historischen Belegen die Kreuzigungsmethoden der Römer geschildert. Das hat mich so bewegt, dass ich in meine Kinder-Comic-Bibel unter das Bild des sterbenden Jesus am Kreuz das Datum hingeschrieben habe, und soweit ich mich erinnere, einen Satz, dass ich dankbar sei, durch seinen Tod gerettet zu sein. „Durch seine Wunden sind wir geheilt“, heisst es beim Propheten Jesaja.

Heute ist mir dieses Opfer-Vergebungs-Schema fern. Deswegen ist auch mein Bild von Jesus wieder undeutlicher geworden. Oder schillernder – wie ein Vogelschwarm, der in Bewegung ist und unterschiedliche Bilder formt.

„Jesus“ und „Christus“

Im Theologiestudium lerne ich unterschiedliche dieser Bilder kennen. Wovon sprechen wir überhaupt?

Eine kurze Auslegeordnung: „Jesus von Nazareth“ meint den historischen Menschen Jesus, Sohn von Maria und Bruder von Jakobus, Zimmermann und Wanderprediger. „Christus“ ist nicht sein Nachname, sondern drückt aus, was die Leute in ihm sahen und welche Hoffnung sie auf ihn setzten: „Christos“ ist die griechische Übersetzung des hebräischen „Maschiach“, „Messias“, was „Gesalbter“ bedeutet. Gesalbt wurden in Israel vor allem die Könige, als Zeichen ihrer göttlichen Berufung und zur symbolischen Übertragung von Kraft, Segen und Schutz.

In den Jahrhunderten der griechischen und römischen Herrschaft über Israel, in die Jesus hineingeboren wurde, hatten die Juden zwar auch Könige. Aber diese vermochten die Unterdrückung nicht zu beenden. Und so hing das Volk an einem hoffnungsvollen Gedanken: Irgendwann würde sie jemand aus ihren eigenen Reihen befreien, nach dem Vorbild des glorreichen Königs David. Die Anhänger von Jesus deuteten diese Hoffnung auf ihn. Auch wenn er sie auf anderen Ebenen als auf der politischen erfüllte, nämlich auf der gesellschaftlichen und der religiösen.

Aktivist, BFF oder kosmische Weltkraft

So setzte sich die Bezeichnung „Christus“ durch – und wurde bald mit philosophischen Konzepten der Antike angereichert. Man ging so weit, im Menschen Jesus das Wesen Gottes zu verorten, das bereits vor der Schöpfung der Welt vorhanden war, und das sich auch in der physikalischen Kraft zeigt, welche die Welt im Innersten zusammenhält. „The Christ is God’s active power inside of the physical world“, drückt es heute der Mystiker Richard Rohr aus.

Andere hielten und halten hingegen vor allem an der sozialen Botschaft von Jesus und ihrer Sprengkraft fest, heute etwa der christliche Aktivist Shane Claiborne, der Obdachlosen Essen verteilt und aus Sturmgewehren Gartenwerkzeuge herstellt.

Und irgendwo dazwischen sind diejenigen, bei denen Jesus wie ein unsichtbarer, aber nicht imaginärer Freund wirkt, mit dem sie über alles mögliche reden. Dessen Namen sie auf T-Shirts drucken und dem sie Songs widmen, bei denen man denken könnte, es seien romantische Liebeslieder.

Was stimmt den nun?

Die Sicherheit, mit der viele ihre Position vertreten, schüchtert mich ein. Als angehende Theologin habe ich das Privileg (und die Aufgabe!), zu unterscheiden zwischen dem, was ich historisch weiss, und dem, was ich glaube. Im Bewusstsein, dass auch der Glaube sich verändert. Nun – ich bete seltenst zu Jesus; viel näher stehen mir momentan Gott-Schöpfer-und-Bewahrer und die Heilige Geistkraft. Deswegen kann ich auch nicht „Jesus-zentriert“ predigen.

Dennoch ist Jesus Christus Dreh- und Angelpunkt meiner Auseinandersetzung mit dem Glauben. Vielleicht bleibt deswegen Suetons Schilderung von Jesus als Unruhestifter die treffendste von allen. Fast 2000 Jahre später finde ich sie in dem schillernden Satz wieder, mit dem Karl Barth beschrieb, wie Jesus, seine Lehre und seine Taten das Leben vieler Menschen auf den Kopf stellte: „Möge ihre Ruhe ihre Unruhe sein und ihre Unruhe ihre Ruhe!“ [1]

 

[1] Karl Barth, Der Römerbrief (Zweite Fassung). 5. Auflage, München 1929, S. 7.

Foto: Johannes Heun (Twitter)

6 Kommentare zu „Der Unruhestifter“

      1. Ein guter Artikel. Mir geht es ähnlich wie dir bei der Frage. Früher hätte ich die Antwort noch gewusst, aber unterdessen bin ich mir auch nicht mehr sicher. Ich verspüre jedoch einen inneren Drang, mich festzulegen. Wahrscheinlich sollten wir einfach lernen, mit offenen Fragen zu leben…

        1. Evelyne Baumberger

          Danke für deinen Kommentar! Ich habe erst jetzt gemerkt, dass du keine Antwort erhalten hast, das tut mir leid. Ja, ich glaube, wenn man den Umgang mit offenen Fragen lernt – bzw. das Sein im Moment -, hat man einen Schlüssel entdeckt. Aber es ist nicht einfacher, als mit klaren Richtlinien zu leben… Alles Gute dir!

  1. Hallo Evelyne, Herzlichen Dank für diesen so persönlichen und mutigen Artikel. Und, das darf ich als Ü-70 er sicher sagen, er spiegelt ein durchdachtes und reflektiertes Verhältnis zu theologischen Fragen wider, was bei jungen Menschen nur selten zu finden ist. Bei mir brauchte es jahrzehntelanges Grübeln und Suchen, um zu ähnlichen Ergebnissen zu kommen.- Zwei Ergänzungen zur Thematik. Richard Rohr hat seine Sichtweise auch theologisch neu justiert, wenn er schreibt“ „Im 4. Jahrhundert wurde das Christentum zur offiziellen Religion des Römischen Reiches, und seitdem müssen wir transzendenten Wahrheitsansprüchen zustimmen (Jesus ist Gott, Gott ist dreifaltig, Maria war Jungfrau usw.), statt die praktischen Schritte menschlicher Erleuchtung zu erleben … Die Theorie hat den Sieg über die Praxis davongetragen.“ (Richard Rohr, Zwölf Schritte der Heilung. Gesundheit und Spiritualität. Herder 2016, S. 15)
    Darüber hinaus sollte man genau schauen, was der Ausdruck „Sohn eines Gottes“ in der römischen Antike bedeutete. Das Christentum hat sich keinen Gefallen getan, damit einen Zusatz zum Kaisertitel, der von Senat auf Antrag verliehen wurde, auf Jesus zu übertragen. Die Missverständnisse häufen sich und zeigen sich am schlimmsten bei „Weihnachten“.
    Ich wünsche dir weiterhin viel Mut und Freude am Entdecken und Reflektieren theologischer Themen für eine tragfähige Praxis heute.
    Manfred Spieß, Oldenburg. Twitter @matjes49

    1. Evelyne Baumberger

      Lieber Manfred, danke für deinen ausführlichen Kommentar!
      Guter Hinweis mit dem Terminus „Sohn Gottes“. Das ist ja auch etwas, was in vielen Gemeinden „wörtlich“ genommen wird, weil man den historischen Hintergrund nicht kennt bzw. ignoriert. Richard Rohr: Ich weiss nicht, ob man Transzendenz und Immanenz, „Praxis“ und „Theorie“ so trennen kann. M. E. gehören der Glaube an einen Gott und das, was Rohr „menschliche Erleuchtung“ nennt, zusammen. Habe aber das von dir zitierte Buch nicht gelesen und kann es deswegen nicht sauber einordnen.
      Danke für die Ermutigung! Auch dir alles Gute auf deinem Weg. Schön, dass du in den vergangenen Jahrzehnten überhaupt die Geduld hattest, zu grübeln und zu suchen. Das sind für mich Vorbilder.
      Herzlich – Evelyne

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