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 Lesedauer: 5 Minuten

Der Lieblingspullover mit Flecken und Löchern

Die Kleinstadt, in der ich über zehn Jahre gelebt hatte, fühlte sich an wie ein Lieblingspullover: Riecht vertraut, ist bequem, aber auch ein bisschen abgetragen. Ich kannte die Abkürzungen durch die Stadtmauer, die kleinen Krämerläden, wusste, wer von meinen Freund*innen am Wochenende wann etwa in welchem Lokal zu finden sein würde. Ich liebte die Samstage, an denen man am Morgen mal zum Flohmarkt in die Stadt geht und dann mit den verschiedensten Leuten hängen bleibt bis zum Apéro am frühen Abend, bevor man nochmals nach Hause geht, um sich für den Ausgang umzuziehen.

So sehr ich diese Stadt liebte, ich fühlte mich dort mit der Zeit blockiert. Ich konnte mich nicht weiterentwickeln. Zudem waren dort auch ein paar Dinge passiert, die ich gerne aus meinem Lebenslauf gestrichen hätte. Nichts Schlimmes, bloss die üblichen unglücklichen oder unnötigen Liebesgeschichten. Es war wie mit dem Lieblingspullover: Man zieht ihn an kalten und deprimierten Tagen gerne an, um sich geborgen zu fühlen, aber da sind auch die zwei, drei blöden Löcher und der Fleck, der trotz Waschen nicht mehr weggeht. Irgendwann gibt man den Pulli dann doch in die Kleidersammlung.

Die einzige Konstante im Leben

Und so war es für mich auch mal an der Zeit, wegzugehen. Den Ausschlag gab eine neue Arbeitsstelle. Am Anfang war ich noch jedes Wochenende wieder „zu Hause“. Bis ich atemlos und dünnhäutig wurde und merkte, dass mich dieser Spagat zerreisst. Der Kontakt zu einigen früheren Freund*innen wurde loser, dafür fasste ich Fuss am neuen Wohnort.

„Veränderungen sind die einzige Konstante im Leben“, heisst es. Einigen fällt das leichter zu akzeptieren als anderen. Die einen suchen Veränderungen regelrecht, während die anderen sie soweit möglich verdrängen. Manchmal sind Veränderungen an der Zeit und der Abschiedsschmerz ist erträglich. Manchmal treffen sie einen aber auch ungewollt, aus dem Nichts und mit voller Wucht.

Wo standest du vor zehn Jahren im Leben? Wo stehst du heute? Und wo wirst du wohl in zehn Jahren sein? Gleich bleibt vieles nicht.

Lebenslanges Unterwegssein

Das gilt auch für die Spiritualität. Glaubst du noch das gleiche wie vor zehn Jahren? Kaum. Lebensereignisse prägen und lassen einen die eigenen Glaubenssätze hinterfragen, etwa: „Gott beschützt mich vor schlimmen Ereignissen“ oder „Wenn ich etwas Schlechtes tue, bestraft mich Gott“. Sätze wie diese werden entsorgt wie ein alter Lieblingspullover, der nicht mehr passt, wenn sie sich über längere Zeit nicht mehr bewahrheiten.

Ändert sich die Wahrheit deswegen (sofern man das überhaupt so nennen mag)? Kaum. Es sind nur unsere Annäherungen an sie, die wir hinter uns lassen, weil wir klarer sehen. „Wir sehen Gott in dieser Welt wie durch einen trüben Spiegel“, schrieb Paulus in der Bibel.

Glaube ist ein Prozess, ein lebenslanges Unterwegssein. Die einen gehen diesen Weg entlang der knappsten Stationen, die sie kennen – Taufe, Konfirmation, Hochzeit –, andere setzen sich immer wieder aktiv damit auseinander. Keines davon macht dich per se zu einem besseren Menschen.

Doch ich glaube, dass Spiritualität zu einem ganzheitlichen Menschsein dazugehört. Dass es hilfreich ist, sich damit auseinanderzusetzen, woran man glaubt, und hin und wieder zu reflektieren, was den eigenen Glauben prägt.

Banaler als grosse Lebensereignisse, aber genauso bedeutsam sind zum Beispiel auch Gewohnheiten und Lebensumstände, die sich ändern. Plötzlich will Weihnachten wieder gefeiert und der Sinn ergründet werden, weil Kinder da sind. Du lernst eine Arbeitskollegin kennen, die Muslima ist, und erfährst zum ersten Mal aus erster Hand, wie jemand den Islam lebt. Oder du trennst dich von der Partnerin, die aktive Kirchgängerin ist, und musst dir überlegen, wie wichtig dir selbst eigentlich Kirche ist.

Gott im Spiegel

Als Theologiestudentin bin ich in Vorlesungen und Büchern ständig mit neuen Impulsen und Gedanken konfrontiert. Auch Gespräche über Gott, Weltanschauungen, spirituelle Praxis gehören zu meinem Alltag. Deswegen verändert sich mein Glaube stetig. Nicht immer grundlegend, aber doch merklich. Ein zentraler Punkt ist zum Beispiel die Person Jesus Christus, und was er für mich für eine Bedeutung hat. Manchmal hinterfrage ich mich auch, und zweifle, ob das, was ich sage und schreibe, tatsächlich stimmt.

Anstatt, dass mir das Angst macht und Unsicherheit auslöst („Was kann ich denn überhaupt noch glauben?!“), sehe ich das aber entspannt. Gott ist mit mir auf diesem Weg unterwegs. Ist nicht das die einzige Konstante im Leben? Gott ist so viel grösser als jede Vorstellung, die ich von Gott haben kann. Und alles, was ich zu wissen meine, ist durch meine Lebenserfahrungen, meine „Bubble“, meine Persönlichkeit geprägt. Das sorgt für die Trübheit im Spiegel und vielleicht auf für den Winkel, mit dem ich diesen Spiegel Gott zudrehe.

Dabei steht Gott direkt neben mir. Ist bei mir, in mir, in anderen, zwischen uns. Zu nahe, um scharf gesehen zu werden, schimmert aber immer wieder durch, nimmt uns in den Arm, flüstert uns ins Ohr. Wenn ich hinhöre, hinspüre, erahne ich, wie Gott ist – und sehe dadurch auch mich selbst im Spiegel klarer. Und je nach Lebenssituation ist das Bild von uns beiden anders.

Glaubenstagebuch führen

So alle zwei Monate schreibe ich auf, was mich gerade beschäftigt und worüber ich anders denke als noch vor einiger Zeit. Ein „Glaubenstagebuch“, um meine Auseinandersetzung besser nachvollziehen zu können. Völlig unspektakulär, einige Zeilen in einem Word-Dokument. „Journaling“, wie Tagebuchschreiben auf Englisch heisst, ist im Zuge des Achtsamkeitstrends wieder in geworden. Warum nicht alle paar Wochen eine Seite dem eigenen spirituellen Weg widmen?

  • Wie hat Spiritualität, der Glaube an Gott, an eine höhere Macht, an das, was uns Menschen verbindet, dich geprägt?
  • Was wäre anders gewesen, wenn du diese Überzeugungen nicht hättest?
  • Welche Rituale berühren dich, welche lassen dich kalt?
  • Welche Aussagen anderer Menschen haben deine Meinung über Gott geändert?
  • Gibt es Texte, Videos, Lieder, die dich an entscheidenden Punkten begleitet haben?
  • Mit welchen Fragen willst du dich in nächster Zeit intensiver auseinandersetzen?

Bild: Richard Jaimes/Unsplash

2 Kommentare zu „Der Lieblingspullover mit Flecken und Löchern“

  1. …und schon wieder ein so typischer Evelyn Text, mit Tiefgang und Tiefsinn! Danke. Schön ist Deine Bildsprache, schön aber auch die sehr konkreten Sätze und Aufzählungen, die nicht mit “undsoweiter” in Nebel aufgelöst werden. Einfach schön, wie Du denkst und wie Du das beschreiben kannst.
    Danke
    Andreas

  2. Ja, das erlebe ich auch so….vor 10 Jahren….und heute….Tagebuch schreiben ist nicht so mein und trotzdem schreibe ich manchmal Erlebnisse, Fragen auf….sehr gut.

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