«Ich wür ja gern, abr ich han äfach kei Ziit», wie oft höre ich diesen Satz.
Zu oft.
«Wänns dänn widr echli ruhiger isch, dänn machi dänn widr meh Yoga / Meditation / Spaziergäng / wasauimmer». Und wenn sich die Leute mal echlii Zeit nehmen, dann sollte sich aber bitte der innere Frieden in zwei bis fünf Minuten einstellen. Geklickt werden die irrwitzig kurzen Meditationen und Yogatutorials, der Rest versandet im irgendwo im Internet.
Wüki etz?! Du kannst nicht mehr Zeit für dich selber, für die Pflege deiner Gesundheit inside and out investieren als ein paar Minuten? Sonen Blödsinn! Klar, zwei Minuten sind besser als nichts. Und ich habe auch viel Verständnis für die Gehetzten dieser Welt. Doch wenn nicht jetzt, wann dann? Sagen sie schon seit immer, die Weisen und Gescheiten dieser Welt. All die Mystiker*innen vor uns. Es ist genau jetzt und genau hier, dein Leben und nirgendwo sonst. Es passiert nicht später dann oder war früher mal. Es ist jetzt. Drum finde ich eigentlich:
Yogastunden oder Meditationen sollten mindestens zwei Stunden lang sein. Damit wir uns so richtig ausbreiten können.
Doch damit stelle ich mich quer gegen das Diktat der Gesellschaft, schnell und effizient auch noch das innere Wohlbefinden abzuhööglen.
Egal wie viel Dreck im Fluss – das Wasser ist stärker
Dabei ist das Gefühl, keine Zeit zu haben ist auch kein besonders angenehmes, richtig? Das ist schon mal ein guter Hinweis darauf, dass es Blödsinn ist. Blödsinn, den uns unsere Konditionierung und Widerstände in den Weg schmeissen. Das ging mir diesen Sommer im Tessin auf, während dem jährlichen Retreat mit meinen Schülerinnen: Ich stand in einem Bach und schaute dem Fluss des Wassers zu. Egal wie viel Holz, Laub oder Steine sich da im Bachbett ansammelten – das Wasser war immer stärker. Wasser schleift selbst die höchsten Berge ab. Es braucht ein bitzli Zeit dafür, klar, aber schlussamänd ist das Wasser die stärkste Kraft hier.
Für mich wurde da so richtig konkret klar, wie das Leben oder die Quelle selbst immer das stärkste Ding hier ist.
Mögen da noch so viele Widerstände meinerseits, noch so viel Konditionierung oder eingeschliffene Traumata im Weg stehen. Letztlich gewinnt das Leben, gewinnt die Quelle allen Seins.
Wie tröstlich, wie erleichternd. Ich kann mich noch so wehren, das ist der Quelle so lang wie breit. Früher oder später wird sie mich in ihrem Strom mittragen.
Vor lauter Hindernisse sehe ich das Eigentliche nicht mehr
Was das mit dem dicht getakteten Alltag zu tun hat? Well. Jedes Mal, wenn ich glaube, dass ich zuerst dies und jenes erledigen muss, bevor ich zum Beispiel in die Badi gehen kann – bei jedem Mal schmeisse ich nachli mehr Grümpel in den Bach. Stelle mich gegen die Strömung.
Jedes Mal, wenn ich mir selbst die Geschichte glaube von «ich habe keine Zeit», identifiziere ich mich mit dem Felsen im Bachbett. Oder gar mit dem Berg.
Was wie gesagt, nicht sehr angenehm ist. Weil ich dann all die anderen Hindernisse sehe und den Fluss aus den Augen verliere. Dann ist da nicht nur die deadline für eine Arbeit, die unbezahlten Rechnungen oder Menschen, die etwas von einem erwarten – sondern auch der Keller, der entrümpelt werden sollte, lange schon, der aufgeschobene Zahnarzttermin und sowieso einmal alles, was man noch sollte. Platz zum Atmen? Vergisses. Platz zum einfach Sein? Vergisses.
Was ist mir wirklich wichtig?
Wenn ich mich aber ab und an getraue, trotz Terminen in die Badi zu gehen, trotz deadlines, äfach TROTZDEM – dann schaffe ich Platz zum Atmen und Sein. Und merke, dass die Welt nicht untergeht. Vielmehr noch, dass sich die Arbeit am nächsten Tag oder sogar am gleichen Abend wie von selbst erledigt. Weil ich auf den richtigen Zeitpunkt dafür gehört habe. Kairos sagen sie dem in der Bibel. Hang on a second, kairos im Arbeitsleben?! Spinnt die etz total? Nope. Alles hat seine Zeit. Sagen schon die Weisen und Gescheiten im Ersten Testament. Erzählt mir der Bach im Tessin.
Nehmen wir uns doch die Zeit für jene Dinge, die uns wirklich wichtig sind. Zeit für uns selber. Zeit mit lieben Menschen. Niemand stirbt und sagt: Zum Glück habe ich so viel gearbeitet. Davon bin ich zimli überzeugt. Das ist das einzige, was ich bereue, in meiner eigenen sehr direkten Erfahrung mit dem Tod eines liebsten Menschen. Dass ich nicht mehr Zeit mit ihm verbracht habe. Weil ich so überzeugt war, «ich wür ja gern, abr ich han äfach kä Ziit». Sonen Blödsinn.
Illustration: Rodja Galli
4 Gedanken zu „Keine Zeit – sonen Seich!“
Hi, ich mache den 7Tage1Song Podcast und hätte richtig Lust zu deinem Beitrag eine Folge zu machen und zwar zum neuen Song von Gentleman „Time Out“ bin selbst Berufsschulpfarrer und meine SuS habe ich beim Ergebnis immer im Blick aber auch die Kolleginnen und Kollegen- also einfach Mail schreiben
Hallo Christoph
Schön, inspiriert dich dieser Beitrag zu einer Podcastfolge! Deine Aufforderung “einfach Mail schreiben” ist allerdings nicht ganz klar: Fragst du uns an für eine Kollaboration oder worum geht es dir da?
Merci für die Klärung und herzlich in die neue Woche
Danke für die treffenden Worte!
Persönlich hilft mir die App “mindbell”. Man kann sie so einstellen, dass mehrmals am Tag eine Klangschale ertönt. Der Klang wie aus einer anderen Welt lädt mich ein zum Innezuhalten und Durchatmen. Manchmal entsteht ein kurzes intensives Gebet , mitten am Tag, mitten in der Arbeit. Kairos!
Eine halbe Minute genügt, manchmal habe ich Lust auf mehr. Es tut so gut!
Und intuitiv weiss ich dann oft besser, was die nächsten Schritte sind: weiterfahren oder aufräumen, das Email noch heute beantworten oder nicht, meinem alten Vater telefonieren…
Und es ist ansteckend, inzwischen haben ein paar meiner Kolleginnen das app auch schon installiert. “Ora et labora” in moderner Ausführung.
Danke für den Hinweis, mindbell kenne ich noch gar nicht! Das könnte ein hilfreiches Werkzeug sein für meine Klient*innen, die immer wieder sagen “ich weiss xy ja eigentlich schon, vergesse es aber oft im Alltag”. Und wie du sagst: schon eine kurze Rückverbindung macht klarer, was nun ansteht, wonach mir wirklich ist.