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Der Krieg der Welten

Die Science-Fiction-Literatur entstand (nicht zufälligerweise), als die Industrialisierung umfassendere Lebensreiche der Gesellschaft tangierte. Disruptive Technologien boten den Nährboden für fantastische Geschichten: Zeitmaschinen, Reisen zum Mittelpunkt der Erde, zum Mond oder 20’000 Meilen unter dem Meer. Mensch, Maschine und Fantasie verschoben die Grenzen des Machbaren.

Die Errungenschaften der Wissenschaft wurden auch damals sowohl als Chance als auch als Bedrohung für die Menschheit angesehen. Die Schriftsteller der Zeit spielten gekonnt mit diesen neuen Möglichkeiten und Ängsten. Was Jules-Gabriel Verne für Frankreich und Kurd Laßwitz für Deutschland taten, setzte Herbert George Wells für England um: Sie alle wurden Pioniere einer neuen Literaturgattung.

Wenn uns die Fiktion einholt

«Krieg der Welten» (Originaltitel: The War of the Worlds) ist eines der bedeutendsten Werke von H. G. Wells. Das Buch wurde 1898 veröffentlicht, 1901 ins Deutsche übersetzt und mehrmals verfilmt. Die wohl bekannteste Filmadaption stammt von Steven Spielberg aus dem Jahr 2005.

Als Hörspiel (inszeniert von Orson Welles) sorgte eine auf dem Roman basierende Reportage im Jahr 1938 für Irritationen in New York. Denn unter den Hörenden gab es Leute, die einen tatsächlichen Angriff Ausserirdischer für authentisch hielten.

Das Buch neu interpretiert

«Mit einem unendlichen Behagen schlenderte die Menschheit mit ihren kleinen Sorgen kreuz und quer auf dem Erdball umher, in gelassenem Vertrauen auf ihre Herrschaft über die Materie. Es ist möglich, dass die mikroskopischen Lebewesen unter dem Brennglas dasselbe tun.» (* Seite 9)

So leitet H. G. Wells im Buch seine Geschichte ein. Das Vereinigte Königreich wird von Marsianern in dreibeinigen Kampfmaschinen angegriffen. Diese kündigen sich mit einem Feuerstrahl am Himmel an:

«Am nächsten Tag jedoch stand davon nichts in den Zeitungen, ausgenommen eine kleine Notiz im „Daily Telegraph“. Die Welt verharrte in Ignoranz über eine der größten Gefahren, die jemals die menschliche Rasse bedroht hat.» (* Seite 15)

Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie die ersten Informationen über eine mögliche Pandemie durch die Welt gingen und bald in Vergessenheit gerieten, als würden sie nur Wuhan betreffen. Ein paar Monate später war die Welt nicht mehr dieselbe: Lockdown, Hamsterkäufe, überfüllte Spitäler und maskierte Gesichter. Die Bedrohung kam zwar von weit weg, betraf nun aber das Leben aller.

Im Keim erstickt

Das irdische Militär ist im «Krieg der Welten» hoffnungslos überfordert. Die ballistische Technologie der Eindringlinge ist zu weit fortgeschritten. Die führende Spezies auf der Erde wird über Nacht zur verfolgten Art. So schnell können sich die Hierarchien ändern.

Paradoxerweise sind es die Bakterien und Keime, welche letztlich die Erde von den Marsleuten retten:

«Diese Krankheitskeime hatten seit Anbeginn der Dinge ihren Tribut von der Menschheit gefordert – bereits von unseren vormenschlichen Ahnen, seitdem Leben auf unserm Planeten bestand. Aber durch die natürliche Auslese unserer Gattung hatten wir die Widerstandskraft gegen sie entwickelt […] Durch den Tod von Millionen Menschen hat sich der Mensch sein Erstgeburtsrecht auf der Erde erkauft, und trotz aller fremden Eindringlinge ist sie sein; sie ist sein, und wären die Marsleute auch zehnmal so mächtig, als sie sind. Denn die Menschen leben weder vergeblich, noch sterben sie vergeblich.» (* Seiten 313 f.)

Die Evolutionstheorie von Charles Darwin prägte nicht nur wissenschaftliche Diskurse, sondern auch die Literatur. Im «Krieg der Welten» finden wir diese Theorie wieder. Die Menschheit überlebt den Angriff nur, weil sie sich im Verlauf der Jahrtausende am besten den Gegebenheiten angepasst hat. Das Überstehen der früheren Krankheitswellen gibt uns den entscheidenden Vorteil, die Ausserirdischen sind hingegen auf irdische Viren und Bakterien unvorbereitet und sterben, das Vereinigte Königreich kann zur Normalität zurückkehren.

Die Impfvorreiter

Zurück zur Aktualität: Der britische Premierminister Boris Johnson ist im letzten Jahr an Covid-19 schwer erkrankt, um anschliessend zu genesen und mit einer guten Portion Demut wieder seine Arbeit fortzusetzen. Seine Betroffenheit hatte wahrscheinlich einen Einfluss auf die forsche nationale Impfstrategie, denn kein anderes Land impft schneller in Europa als England.

«Die Qual war vorbei. Noch heute sollte mit der Heilung begonnen werden. […]. Der Puls des Lebens sollte nun wieder in den leeren Gassen schlagen, immer stärker und stärker anschwellend, und sich über die verlassenen Plätze ergießen. Was die Zerstörung auch betroffen hatte, die Hand des Zerstörers war verdorrt. Die Hand des Zerstörers war verdorrt! Alle diese elendigen Trümmer, diese schwarzen Gerippe von Häusern, die so unheimlich auf das sonnenbeglänzte Gras des Hügels starrten, sie werden bald widerhallen von den Hämmern der Wiedererbauer und fröhlich erklingen unter dem Klatschen der Kellen. Bei diesem Gedanken breitete ich meine Hände zum Himmel aus. In einem Jahr, dachte ich – in einem Jahr…» (* S. 318).

Und nach der Pandemie?

Nun haben wir die Möglichkeit, die Pandemie zu bekämpfen. Die Wissenschaft gibt uns mit der Impfung die entsprechende «Waffe», um den Eindringling zu besiegen. Aber was wird nach der Pandemie geschehen? Welche Schlüsse ziehen wir für die Zukunft? Werden wir demütiger und dankbarer sein? Trauen wir den Wissenschaften künftig mehr zu?

«Auf jeden Fall aber, ob wir nun einen zweiten Einfall erwarten können oder nicht, mussten unsere Begriffe von der Zukunft der Menschheit durch diese Ereignisse eine totale Änderung erfahren. Wir sehen heute ein, dass wir unseren Planeten tatsächlich nicht als einen sozusagen eingezäunten und sicheren Wohnort für die Menschheit betrachten können; wir können das unerhörte Heil oder Unheil, das unvermutet aus dem Weltraum auf uns hereinbrechen kann, nie vorhersehen.» (* Seiten 334 f.)

Nein, wir können selbst das unerhörte Unheil, dass auf der Welt auf uns zukommt, nicht antizipieren. Wir können nur kreativ darauf reagieren. Und manchmal ist unsere Rettung mikroskopisch klein oder sogar intangibel, wie eine revolutionäre Idee.

 

* Literatur: Krieg der Welten, H. G. Wells (1898).

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