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 Lesedauer: 5 Minuten

Chicken Patience

Wochenlang tauchte in meinen Social-Media-Feeds ein Verhaltensexperiment mit zwei Hunden auf, einem Siberian Husky und einem Golden Retriever. In einer Wohnküche irgendwo in Brasilien stellt ein Hundehalter ein gebratenes Hähnchen auf den Tisch. Den Hunden läuft sichtlich das Wasser im Maul zusammen. Der Mann schärft den Tieren ein, zu warten, bis er zurückkommt. Die Tiere scheinen zu verstehen und wiederum auch nicht. Das Hähnchen sieht unglaublich verlockend aus.

Die beiden Hunde verfolgen unterschiedliche Strategien: Der Husky wirft aus eisblauen Augen kurze glühende Blicke auf das Fressen. Er zittert vor Erregung und läuft ungeduldig seinem Besitzer hinterher. Währenddessen verharrt der Golden Retriever die ganze Zeit über starr im Dunstkreis des Bratens.

Er hat sich vorgenommen, die Stellung zu halten, aber auf keinen Fall zum Hähnchen hinzublicken. Er will sich die Challenge offenbar nicht noch schwerer machen als sie schon ist.

Den Braten riechen

Mit gesenktem Kopf und angeklappten Ohren vermittelt der Retriever einen gequälten Eindruck, während der Husky mit angespannten Nerven eindrucksvoll den inneren Wolf niederringt. Am Ende gelingt es erstaunlicherweise beiden Tieren, den Fressimpuls zu unterdrücken. Allerdings genehmigt sich der Husky, das knusprige Hähnchen wenigstens abzulecken.

Ich habe mir das wenige Minuten kurze Youtube-Video mehrfach angesehen und kann mich nicht entscheiden, welches der beiden Tiere ich mehr bewundere: das stärker Domestizierte, das sich wie ein Musterschüler beherrscht, auch wenn es weh tut; oder das Wolfsähnliche, das von wuchtigen Instinkten gerüttelt wird und zu einer Kompromisslösung findet: Wenn nicht fressen, dann zumindest lecken.

Corona-Asketen

Ich glaube es ist kein Zufall, dass das Chicken-Patience-Experiment gerade in der Corona-Zeit in Social Media viral geworden ist. Wir können uns alle darin wiedererkennen. Wir laufen täglich an unseren Lieblingsrestaurants vorbei, aber sie haben geschlossen und wir müssen unseren Appetit auf später vertrösten. Wir sehen in Schaufenstern schöne Sachen und tolle Preisreduktionen, aber wissen nicht, wann die Läden wieder aufmachen. Wir treffen Freunde, aber müssen Umarmungen und Küsse um Wochen oder gar Monate verschieben.

Als Corona-Asketen ergeht es uns wie den Tieren im Chicken-Patience-Experiment: Der Verzicht ist nicht freigewählt, sondern aufgezwungen. Aber wir wissen, dass wir da jetzt durchmüssen.

Und wir erhoffen uns eine saftige Belohnung und Kompensation, wenn das Social Distancing und die Corona-Lock- und Shutdowns durchgestanden sind. Immerhin waren wir folgsam und geduldig.

Noch mehr Entsagung? Really?

Sind wir inzwischen nicht alle Entsagungsexperten, Akrobaten des Verzichts, Hungerkünstler? Mehr Fasten brauchen wir sicherlich nicht. Die Seele steckt bereits in der Empfindungswüste. In Teilen droht gar das Empfinden zu verkümmern. Deswegen kommt die liturgische Fastenzeit (17. März bis 3. April 2021) in diesem Jahr wirklich zur Unzeit.

Absurd die Vorstellung, angesichts der weitgehenden sozialen Isolation und des in Teilen de facto Hausarrests sich noch weiter einzuschränken: Vielleicht auch noch auf den Espresso nach dem Mittagessen verzichten, auf Schoggi oder Kontakte auf Social Media?

Zu Social-Media-Fasten siehe hier.

Grossexperiment

Wozu sind religiöse Fastenrituale überhaupt gut? Handelt es sich um mehr als kulturelle Folklore? Gehören die Gebote in Zeiten, als Hungerkatastrophen erwartbar waren und Menschen in wiederkehrenden Ritualen kollektiv Entsagung probten? Der althochdeutsche Wortstamm «fastēn» bedeutet «festhalten». Ein Vorsatz, an den ich mich in der diesjährigen Fastenzeit halten will, lautet: Radikaler Verzicht auf Dinge, die mir Unlust bereiten.

Die Coronazeit ist eine Phase, in der wir uns alle quasi in einem Grossexperiment wiederfinden. Getestet wird unsere Fähigkeit, kurzfristige Befriedigung zugunsten langfristiger Ziele zu unterdrücken.

Wir müssen uns alle in «Chicken Patience» üben – oder auch – angelehnt an ein berühmt gewordenes Experiment aus den USA, an das in der Corona-Zeit häufig erinnert wird – in «Marshmallow Patience».

Marshmallow-Test

Der «Marshmallow-Test» wurde in den 1960er-Jahren im Kindergarten der amerikanischen Eliteuniversität Stanford durchgeführt. Es ging um Impulskontrolle und Belohnungsaufschub. Ein Teil der Kinder zwischen vier und sechs Jahren schaffte es, sich fünfzehn Minuten lang zurückzuhalten, um als Belohnung ein zweites Marshmallow zu ergattern. Ein anderer Teil griff lieber gleich zu und verzichtete auf das Extra-Schaumbonbon.

Die Langzeitbeobachtung ergab, dass Kinder, die sich beherrschen können, später im Leben durchschnittlich erfolgreicher abschneiden. Wenn die Aussagekraft des Marshmallow-Tests seit einigen Jahren ambivalenter gesehen wird, dann aus zwei Gründen: Erstens vernachlässigte das Experiment die soziale Komponente – es wurde von Akademikerkindern auf die Welt geschlossen. Und zweitens bedingt äusserlicher Erfolg nicht automatisch ein erfülltes Leben.

High und Low Delayer

Wir hegen in unserer Kultur eine spontane Bewunderung für Menschen, die sich unter Kontrolle haben, die «fasten» können. Wir sanktionieren die Fähigkeit zum Belohnungsaufschub positiv, zollen dem „High Delayer“ Respekt und schätzen den „Low Delayer“ tendenziell gering.

Neben der Selbstbeherrschung betrachtet die Psychologie aber zunehmend auch das spontane Geniessenkönnen und gelegentliche Kontrollabgabe als wichtige Fähigkeiten.

Zum Survival Kit in Krisenzeiten gehören auch die Fähigkeit zum spontanen Glücklichsein und die Aufgeschlossenheit gegenüber «kleinen Transzendenzen».

Opfer sind nur Vorbereitung

Ich kann mir nicht vorstellen, dass es beim religiösen Fasten tatsächlich darum geht, die Seele in eine Empfindungswüste zu schicken. Vielmehr scheint die Fastenzeit eine Chance der Sensibilisierung zu eröffnen, der Konzentration auf Wesentliches.

Für religiöse Menschen gehört notwendig das Gebet dazu. Verzicht und Opfer sind lediglich die Vorbereitung. Meditation, Yoga oder Qigong sind ebenso Wege innerer Sammlung. Viele Christ*innen kombinieren heute unterschiedliche Kulturtechniken.

Es geht um ein grundsätzliches Innehalten, um einen temporären Stopp. Wozu? Eine Antwort gibt Ferris Bueller: «Life moves pretty fast. If you don`t stop and look around once in a while, you could miss it.» Das Leben bewegt sich ziemlich schnell. Wenn du nicht hie und da innehälst und dich umsiehst, könntest du es verpassen.

 

Hungriger Wolf im Schnee. Photo by Daniel Lincoln on Unsplash

1 Kommentar zu „Chicken Patience“

  1. So gut! Genau diese Gedanken gingen mit in den letzten Tagen auch durch den Kopf. Und beim Nachdenken habe ich beschlossen, in diesem Jahr den Fokus auf das Negative zu fasten (der sich oft so reflexartig einstellt) 🙂

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