Lieber Grossvater
Bei Deiner Beerdigung sprach der Pfarrer von einem weiten Weg über den grossen Fluss.
Ich habe eher das Gefühl, Du seist ins Nachbardorf gezogen. Ich frage mich, ob ich Dich nicht sogar besuchen kann. Einfach ins Tram steigen. Ein paar Stationen fahren, oder eine Weile zu Fuss, an der Aare entlang.
Weiter Weg über den Fluss
Auch von der Erinnerung an Dich wurde gesprochen. An Ostern hast Du mit Wonne Nester und einzelne Eier versteckt. Grossmutter führte Protokoll über sämtliche Verstecke. Aber wenn ich daran denke, so kommt es mir nicht vor, als würde ich an etwas Vergangenes denken. Es könnte ebenso gut etwas Kommendes sein. Beim Gedanken an die Osternester sehe ich Deine verschmitzten Mundwinkel, die Faltenkränzchen um Deine Augen.
Wer kann sagen, dass das nicht gerade jetzt stattfindet?
Dass Du mir ein Zeichen gibst aus Deinem Landhaus ohne Postadresse? Vielleicht heckst Du in diesem Moment Verstecke aus. Für später.
Letzte Worte
Beim letzten Telefongespräch haben wir Dir vom Wetter in Italien berichtet, von der Menschenmenge vor der Accademia in Florenz, den tausend Regenschirmen. Und Du hast von der Entstehung eines Liedes erzählt. In der Nacht ein Gewitter. Am Morgen dann alle Strophen da. Du hast uns befohlen, unsere Hochzeitsreise zu geniessen. Und am Schluss hast Du gesagt:
«Danke für alles.»
Wir haben einen Blumenkranz für Dich fertigen lassen. «Menschen, die wir lieben, hinterlassen Setzlinge in unseren Herzen», liessen wir auf die weisse Schleife schreiben. Aber das hast Du vielleicht schon gesehen. Und all die anderen Blumen, ein halber Blumenladen.
Apropos Blumen
Wie sehen eigentlich die Blumen im Nachbardorf aus, Grossvater? Und die Bäume? Musst Du sie dort auch schneiden? Was ist mit den Enten und den Bienen? Fütterst Du sie? Wie schmeckt der Honig bei Dir? Vielleicht tust Du ja einfach, was Du schon immer getan hast. Vielleicht machst Du einfach weiter. Mit dem Unterschied, dass Du Dich nicht mehr über die Krankenkassenprämien aufregst.
Überhaupt denkst Du nicht mehr ans Geld. Weisst Du noch, als wir uns das letzte Mal gesehen haben, da habe ich Dir doch gesagt, Du sollest nicht so viel ans Geld denken? Und dann erzählte ich Dir von den vier Baumfalken, die ich über der Aare gesehen hatte. Jetzt hast Du hoffentlich auch ausgiebig Zeit, Vögel zu beobachten.
Immer mehr habe ich das Gefühl, es sei alles gar nicht so viel anders bei Dir. Nur eben ein wenig langsamer.
Du hast ja jetzt alle Zeit der Welt. Oder täusche ich mich da? Bist Du womöglich manchmal sogar in höchster Eile und Aufregung, um uns rechtzeitig einen wichtigen Hinweis zu geben, ein Zeichen, eine Hilfe, einen Auftrag, eine Warnung? Auf jeden Fall werde ich versuchen, achtsam zu bleiben.
Es grüsst Dich herzlich aus naher Ferne, Deine Enkelin Beate
Bern, den 24. November 2024
PS: Und nun, lieber Grossvater, werde ich, mit einem Ohr bei Dir, ein wenig Klavier spielen. Das Stück, das ich begonnen habe, als Du umgezogen bist. Wenn ich dann auch ins Nachbardorf komme, werde ich es Dir vorspielen (du darfst natürlich auch schon jetzt zuhören, wenn das geht). Und das neue Vogelbuch bringe ich Dir mit. Erinnere mich zu gegebener Zeit bitte daran.
Die Autorin und Theologin Beate Krethlow ist derzeit Vikarin am Berner Münster. Bei RefLab erschienen von ihr lyrische Miniaturen: «Rosa Haut», «Tag und Nacht», «Einen Vogel haben», «Zwei Stücke vom Kuchen» und «Bestandesaufnahme eines Schreibtisches oder: rosa Talar».
Foto von Kate Macate auf Unsplash
2 Gedanken zu „Brief an meinen Grossvater“
So schön, so passend
Hallo OPA Emil
Ich erinnere mich an Dich
So schön!
Denke
Dein Enkel Detlef
Danke für die schöne Rückmeldung! Es freut mich sehr, wenn mein Brief Raum öffnet für eigene Erinnerungen, eigene Briefe. Herzlich, Beate