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 Lesedauer: 6 Minuten

Böse beten (2): Ich mach’ aus dir ein Mandala!

Im ersten Teil von «Böse beten» ging es um die Rachepsalmen der Bibel oder wie es in der neueren theologischen Literatur weniger verfänglich heisst: «Feindpsalmen». Einige solcher Schriften befinden sich im Kanon, andere wurden aussortiert.

Der Beitrag löste in Sozialen Medien eine rege Diskussion aus. Angesichts eskalierter Gewalt im Nahen Osten denken gegenwärtig viele über den Umgang mit Ohnmacht und Rachegefühlen nach.

Ausflug nach Ostindien

Ich möchte euch in Teil 2 von «Böse beten» zu einem kulturenvergleichenden Spaziergang einladen. Sie führt uns ins ostindische Gebirgsland, ins entlegene Bundesland Arunachal Pradesh. Bekannt ist das Gyuto-Kloster. Seit dem 15. Jahrhundert praktizieren dort Mönche tantrischen Buddhismus.

Gyuto-Mönche begleiten den Dalai Lama, wenn es um den zeremoniellen Teil seiner Lehre geht.

Tantra wird im Westen häufig verkürzt gesehen als Umgang mit Sexualenergien (wie Kamasutra). Dabei handelt es sich um ein komplexes System aus Schriften, Praktiken, Erkenntnislehren und Kulten. Manches davon älter als der Buddhismus.

Göttinnen der Finsternis

Archaisch mutet die Verehrung doppelgesichtiger weiblicher Gottheiten an, erotisch-liebend und verschlingend. Sigmund Freud sollte später von Eros/Thanatos sprechen. Zur ebergesichtigen Varahi wird so gebetet:

«Oh Ebergesichtige, Ebergesichtige. Du Herrin Finsternis, verfinsternde Herrin, Verehrung Dir. Die Du Gefangenschaft bist und gefangen hältst, Verehrung Dir. Du Verschlingen und Verschlingende, Verehrung Dir.»

Eine schamanische Freundin kam gerade von einem indigenen Summit aus Arunachal Pradesh zurück, einem Aktiviste:innentreffen, als ich sie um einen Ratschlag im Umgang mit Angstgegnern bat. Tatsächlich war das Thema auch bei dem Summit aufgekommen.

Von der Lebensader abgeschnitten

Es war bei dem Treffen um Pläne des mächtigen chinesischen Nachbarn gegangen, das grösste Wasserkraftwerk der Welt zu bauen und am Himalaya entspringende Quellen umzuleiten. Am Fluss Brahmaputra, dessen Oberlauf in Tibet Yarlung Tsangpo heisst, leben entlang seiner Ufer in Indien und Bangladesch hunderte Millionen Menschen. Diese treibt wegen des eskalierenden Wasserkriegs brennende Sorge um.

Im tantrischen System gebe es Meditationsformen spezifisch für den Umgang mit lähmenden und die Seele konsumierenden Zornenergien und Ängsten, erklärte meine Freundin. Und verriet mir diese Anleitung für ein Mandala, bei dem es um etwas anderes geht als um mindful coloring: Man legt im Geiste aus Bestandteilen des Bildes, das man von seinem Angstgegner in sich trägt, ein Ornament:

Oberlippe, Unterlippe, Daumennagel

«Stelle dir deinen Angstgegner bildlich vor… Stelle dir nun vor, dass du im Wasser stehst und die einzelnen Glieder deines Gegners um dich herum als Ornament legst. Du kannst mit Augen, Augenbrauen, Oberlippe, Unterlippe beginnen, so kleinteilig, wie möglich. Fingernagel des Daumens, oberes Fingerglied, unteres Fingerglied und so fort.»

Der zweite Teil der Übung geht so:

«Wenn du fertig bist, zoome heraus und überblicke das Ornament, das du im Wasser gelegt hast… Zoome noch weiter heraus und versuche, auch das grössere Bild zu sehen. Rings um das Mandala, das du gelegt hast, befinden sich in Kreisen weitere Mandalas: von jenen Menschen, die der Person geschadet haben, die dir schadet, und von jenen, die zuvor diesen geschadet haben und so fort, ein riesiges Mandala.»

Aktive Imagination

Tantrische Übungen zielen auf Verschiebung von Perspektiven, Veränderung des Bewusstseins, Aufstieg vom Materiellen zum Ideellen, Erkennen von Illusionen, Gewinnung von Autonomie und letztendlich Transformation von Wirklichkeit, die wiederum verändertes Bewusstsein schafft.

Die deutsch-schweizerische Religionswissenschaftlerin Annette Wilke spricht bei derartigen Formen der Umkodierung der Wahrnehmung von «Aktiver Imagination». Sie hat sich eingehend mit dem tantrischen Ritualmanual Parasurama-Kalpasutra auseinandergesetzt.

Nicht für jedermann

Ich glaube nicht, dass es sinnvoll ist, derartige Formen von radical meditation auszuprobieren, wenn man die dahinterliegende Philosophie nicht kennt. Ich kann mir aber vorstellen, dass der Angstgegner durch die mentale Übersetzung in ein Ornament, das sogar schön sein kann, einen Gutteil seines Schreckens und der bannenden Macht verliert.

Bei allen kulturellen Unterschieden fällt als Gemeinsamkeit mit den Feindpsalmen der Bibel ins Auge: Auch dort geht es nicht nur darum, im Rachegebet eine Entlastung auf der Gefühlsebene zu erfahren, sondern um die Wiederherstellung der Verhältnismässigkeit und Souveränität.

Bösen Bann lösen

Noch eine zweite Brücke zur jüdisch-christlichen Überlieferung lässt sich ziehen: Ist das Mandala aus Feinden und Feinden der Feinde nicht auch eine eindrucksvolle Illustration dessen, was wir Erbsünde nennen? Jene intergenerationellen Schuld- und Verletzungszusammenhänge, die bewusstem und unbewusstem menschlichen Erleben und Handeln tief eingeschrieben sind. Und deren Bann zu durchbrechen, unendliche Erleichterung und Frieden schafft.

Wenn ihr Erfahrungen und Tipps habt im Umgang mit Angstgegnern und diese teilen mögt, nutzt gerne die Kommentarspalte.

Der letzte Teil der Trilogie zu «Böse beten» vertieft in einer Woche das Thema Angstgegner und trägt den Titel: «Füttere deinen Dämon!»

 

Reaktionen auf «Böse beten» Teil 1, kurz zusammengefasst

Die Reaktionen auf Facebook und Instagram lassen sich grob in drei Lager unterteilen. Solche, für die böse beten auf gar keinen Fall in Frage kommt, solche, die es ausprobiert und für hilfreich befunden haben und solche, die die Diskussion für komplett gestrig halten:

«‹Böses Beten› ist genauso nutzlos wie ‹gutes Beten›. Leute, kommt endlich im 21. Jahrhundert an!»

Im Lager derjenigen, die böse Beten für verfehlt halten, lassen sich zwei Argumentationsstränge unterscheiden. Erstens der Verweis auf das christliche Liebesgebot inklusive Feindesliebe. Aus dieser Perspektive haben einige ausgerufen:

«Ach du meine Güte, das könnte ja nicht ferner von den Worten Jesu sei», «Segnet, die euch fluchen», «Selig sind die Sanftmütigen», «Ich richte nicht, Gott richtet» etc.

Zweitens der Hinweis auf die Karma-Vorstellung:

«All das Negative, das man aussendet oder jemandem wünscht, kommt wieder auf einen selbst zurück!», «Ich denke nicht, dass es sinnvoll ist, negative Schwingungsmuster zu manifestieren. Dunkelheit kann nicht durch Dunkelheit überwunden werden, nur Licht kann das… 🙏🏽🤗🕯️»

Eine eher magische Vorstellung von Gebet scheint auf, wenn argumentiert wird: Böse beten gehe nicht, weil dasjenige, worum man bitte/was man «beschwöre» tatsächlich genauso eintrete; also sei nur bitten oder danken zulässig.

Bei jenen, die es o.k. finden, in Extremsituationen Rachepsalmen heranzuziehen, begegnet umgekehrt Misstrauen gegenüber der Forderung, absolut gut und Gott stets dankbar sein zu müssen, denn …

«… was ist, wenn ich diese Liebe grad nicht spüre? Dann darf ich auch schimpfen, sogar mit Gott.»

Aber man solle in jedem Fall versuchen, über «böse beten» hinauszugelangen:

«Rachepsalmen? Ich denke ja, aber möchte nicht darin stecken bleiben.»

Danke fürs Mitdenken und Kommentieren!

 

Foto von Intricate Explorer auf Unsplash

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