Herbst 2002: Meine Grossmutter feierte einen hohen runden Geburtstag, also kam die gesamte Verwandtschaft mütterlicherseits zum Festessen zusammen. Die etwa 40 Personen begrüssten sich und beim Apéro folgte das übliche Abfragegespräch: «Wo arbeitest du schon wieder?», «Gehen die Kinder schon zur Schule?», «Wo seid ihr in den Sommerferien gewesen?». Ich gab brav Antwort, suchte nach passenden Gegenfragen und vor allem nach einem weiteren Glas Weisswein.
Laminierter Stammbaum
Nach einer knappen Stunde gespielten Interesses wurden wir zu Tisch gebeten. Wie bei allen anderen Eingeladenen auch, lag auf dem mir zugewiesenen Platz als Tischset ein laminierter Stammbaum: Von den Eltern der Grossmutter bis zu ihren Urenkel*innen war alles übersichtlich notiert, einzig die in der letzten Generation bereits erfolgten Scheidungen sorgten für empfindliche grafische Störungen auf dieser Tafel der Blutsgemeinschaft. Ich stierte auf dieses Fortpflanzungsgerüst, das Bedeutung behauptete, für mich jedoch völlig bedeutungslos blieb. Ich hatte mit all diesen Menschen schlicht kaum etwas zu tun, sie waren entweder geographisch meilenweit oder ideologisch gar Lichtjahre von mir entfernt.
Der laminierte Stammbaum gab definitiv ein falsches Beziehungsversprechen ab.
Arpachschad zeugte Schelach, Schelach zeugte Eber …
Ich musste kurz an die vielen biblischen Stammbäume denken, d. h. an all diese männerzentrierten Versuche, über meist fiktionale Abstammungslinien alles Mögliche zu begründen und zu legitimieren: Herkunft, Identität, Kontinuität, Bedeutung, Anspruch auf Land und Herrschaft etc.
Diese biblischen Genealogien sind durchaus interessantes Futter für religionssoziologisch und literarisch Interessierte oder auch ein verzweifeltes Spielfeld für fundamentalistisch gesinnte Stammbaumzeichner*innen.
Egal, für mich hatte sich diese patriarchale «Arpachschad zeugte Schelach»-Legitimationsprosa schon lange erledigt, genauso wie der vor mir liegende laminierte Stammbaum dekonstruiert war. Und so tat ich, was man mit schlechter, aufdringlicher Tischsetwerbung eben tut: Ich drehte das Blatt um.
«Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder?»
Das Umdrehen der Stammbaumseite war natürlich nicht gerade taktvoll, man mag es aus der Distanz gar als leicht infantil oder trotzig empfinden. Ich jedenfalls erinnerte mich in diesem Moment an die Geschichte, als Jesus seine nach ihm rufende Mutter und Brüder schroff abgewiesen und gefragt haben soll: «Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder?»
Diese Frage, gefolgt von der Aussage «Wer den Willen Gottes erfüllt, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter» erfuhr ich damals als befreienden Ausdruck purer Antigenealogie, als Abfuhr an alle Stammbaumkalligraf*innen, als Rückweisung jeglicher Bedeutungs- und Machtübertragungsphantasien durch Fortpflanzung oder Handauflegen: bis heute.
Natürlich weiss ich bis heute nicht, was das mit dem Willen Gottes ist, ich kenne höchstens ungefähr meine Kriterien von Freundschaft und Treue. Und da ziehe ich – mitunter schmerzhafte – klare Grenzen, selbst oder gerade gegenüber den eigenen Blutlinien.
Bild: Alexis Fauvet auf Unsplash
1 Gedanke zu „Blutlinien“
Jesus konnte unglaublich schroffe Aussagen zu den Familienbindungen machen: “Wer … nicht Vater und Mutter, Frau und Kinder, Bruder und Schwestern… hasst, kann nicht mein Jünger sein” Lk 14, 26 (vgl. M1 10,37). Das ist wohl auf dem Hintergrund der damals geforderten Familien- und Stammesloyalität zu verstehen. Wir erleben heute. wie Stammesgesellschaften Mühe haben rechtsstaatliche Verhältnisse zu schaffen. Heute geht vom Nationalismus eine ähnliche Blockade aus.