Dein digitales Lagerfeuer
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 Lesedauer: 6 Minuten

Das Erwachen meiner Alpen-DNA

Vielleicht muss ich erst etwas ausholen. Letzten Sommer habe ich einen dieser «woher kommen meine Gene»-Test gemacht.

Ich wusste, dass meine Familie, sowohl mütterlicher- als auch väterlicherseits, seit ewig in der Schweiz lebt. Meine US-Freunde jedoch meinten, alle Europäer seien ein Gemisch, niemand sei wirklich Italienerin oder Franzose – oder eben Schweizerin.

Die DNA-Testresultate bestätigten allerdings, was ich bereits wusste: Meine Gene sind zu 95 % aus der Schweiz, mehr noch, aus dem Kanton Bern.

Daraus ziehe ich keinen National-Stolz, im Gegenteil.

Ich finde es eher etwas seltsam, aus einer derart langen Reihe von Schweizer:innen entstanden zu sein. Ja, ich leite mir daraus keine nationale Identität ab, zumindest keine, die von Grenzen auf einer Karte definiert wird.

Jahrtausende lang in den Bergen unterwegs

Trotzdem fühlt es sich gerade so an, als habe sich dieses Genmaterial aktiviert. Es war bei meiner ersten Tour in den Bergen, als ich merkte: Oh wow, das fühlt sich so vertraut an – als hätte sich mein Körper Jahrtausende in den Bergen bewegt.

Seither ergaben sich einige Bergabenteuer und die Beziehung zum Land, zur Erde hier hat sich verändert.

Ich fühle mich fast krank, wenn ich nicht regelmässig umgeben bin von der Bergwelt, den Felsen, dem Schnee im Winter, den Mineralien, die die Luft mit einer ganz eigenen Energie füllen.

Eine Atmosphäre kreieren, die mich bis ins Knochenmark nährt.

Grenzen und Kristalle

Ich kann zum Beispiel auf einer Wintertour echt an meine Grenzen kommen. Die Finger frieren selbst in Handschuhen ein, jeder Schritt ist eine Verhandlung mit meinem gesamten Wesen. Und wenn ich aber wieder zuhause bin, fühlt es sich an, als wäre nichts geschehen.

Meine Gspändli erholen sich tagelang während ich bereits von der nächsten Gelegenheit träume, wieder loszuziehen.

So genährt fühle ich mich, so zuhause fühle ich mich in dieser Umgebung.

Die Momente, in denen ich Bergkristalle finde, zählen zu meinen glücklichsten Momenten ever. Völlig unerwartet tauchen die Kristalle auf, als spontane Geschenke der Erde – und mein Herz fliesst über vor Dankbarkeit und Liebe.

Es scheint, als sagte der Berg zu mir: Du gehörst hierher.

Und ich fühle mich zuhause, wie noch nie an einem Ort, fühle mich «gemacht» aus demselben Material wie diese Bergmineralien.

Sehnsucht nach «Dihei»

Wenn ich also von einem Erwachen meiner Schweizer Gene spreche, meine ich eigentlich das Erwachen eines Gefühls der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Art Landschaft.

Natürlich ist der Alpenraum dabei nicht auf die Schweiz begrenzt. Er hat aber je nach Tal, je nach Region seine ganz eigenen Ausprägungen. Die französischen Alpen sind nicht die italienischen, die kleinen Bergstämme haben sich über die Jahrhunderte ja auch bewusst voneinander abgegrenzt und unterschiedliche Traditionen gepflegt. *

Ähnlich, ja. Aber nicht gleich.

Und es ist etwas ganz Neues für mich, mich so stark in eine Tradition oder Kultur eingebettet zu fühlen.

Ein wunderbares Gefühl.

Gerade heute dachte ich daran, wie sehr ich mich immer nach diesem «Dihei», nach diesem Gefühl der Zugehörigkeit gesehnt hatte. Wie ich mich lange nicht so recht zuhause fühlte, weder in diesem Land, noch auf dieser Erde. Wie schön, angekommen zu sein.

Was, wenn wir entwurzelt werden?

Aus meinem eigenen Gefühl vom Angekommensein, frage ich mich, wie es wohl ist, wenn sich jemand so zugehörig fühlt – aber nicht in jener Landschaft, an jenem Ort leben kann. Sei das, weil Krieg herrscht, es keine Arbeit gibt oder etwa der Klimawandel zur Umsiedelung zwingt.

Was macht das mit Menschen, wenn sie ihren uralten Lebensraum verlassen müssen?

Es ist eine Sache, aus Freiheit umzusiedeln im Wissen, stets zurück gehen zu können. Doch aus Not? Das muss unendlich hart sein.

Ich erinnere mich an jenen Hilfskoch aus dem Sudan, mit dem ich einmal in einem Kafi zusammengearbeitet hatte. Er meinte: «Ich würde das nicht nochmals machen, es lohnt sich nicht, die Heimat, die Familie zu verlassen. Es wird nichts wirklich besser, bloss anders.» Er sei nun aber schon so weit versponnen in dieses neue Leben, dass es für ihn kein Zurück mehr gebe.

Seine Geschichte hat mich bewegt. Die Gespräche mit ihm haben mir so deutlich gezeigt, dass niemand seine Heimat leichtfertig verlässt. Wurzeln auszugraben und an einem neuen Ort wieder versuchen anwachsen zu lassen – das ist ein langwieriger Prozess, manchmal sogar unmöglich. Wenn ich solche Geschichten höre, blutet mir das Herz…

Verwurzelt trotz Veränderung

Ich glaube, das Bedürfnis nach Verwurzelung ist heute so aktuell wie nie. Die Welt ist sich am Verändern, und zwar so richtig krass. Fast als gäbe es neue tektonische Platten oder Zusammenfügungen.

Das macht unsicher, das kreiert Angst.

Wenn wir es aber schaffen, uns dabei nicht von diesen Ängsten leiten zu lassen, kann daraus auch Wunderbares entstehen.

Leider ist das das Gegenteil davon, was in der Welt passiert: Der Nationalismus wird stärker, Europa rutscht politisch seit Jahrzehnten wieder nach rechts. Menschen glauben, ihr Zuhause mit Mauern und Stacheldrähten abschirmen und Heimat verteidigen zu müssen.

Gewinnen tut dabei niemand. Es ist riesiger Aufwand, diese Mauern zu errichten. Seien das tatsächliche Mauern oder Mauern im Innern. Beides frisst Energie – im ersten Fall sind es Baumaterialien, Grenzwächter, Waffen, die Ressourcen brauchen.

Im zweiten Fall ist es anstrengend in uns drin, dieses konstante Abchecken von «das bin ich, das sind meine Leute» und «das sind die anderen, das sind die Fremden».  Das Aufrechterhalten von inneren Abtrennungen zwischen «zugehörig» und «fremd».

«Dihei» – und gleichzeitig noch freier

Ich wünschte mir, wir kämen als Kollektiv zu einem Zusammenleben auf diesem Planeten. Das wäre ein Gewinn für alle, ein Ausatmen für alle.

Bei mir selber merke ich nämlich, dass dieses Ankommen und das Aufwachen meiner DNA gleichzeitig auch so etwas wie ein noch tieferes Loslassen von Identitäten bewirkt.

Wie soll ich das beschreiben? Wenn ich mich so sehr zuhause fühle, dann lässt mich das noch freier unterwegs sein. Schon fast widersprüchlich zu dieser Aktivierung von uraltem Genmaterial spüre ich: das echte «Dihei», das ist in mir drin und immer mit mir.

Vielleicht verschieben sich die Wurzeln tatsächlich langsam weg von einem bestimmten Territorium, hin zu einer inneren Haltung. Und das wäre doch echte Verwurzelung im Leben: So, dass wir Nationalstaaten nicht mit Härte konservieren oder verteidigen müssen, uns nicht so bedroht fühlen vom «Fremden». Sondern uns innerlich so verwurzelt und Zuhause im Leben selbst fühlen, dass Verschiebungen zwar immer noch im ersten Moment unangenehm sind, wir dem Neuen aber mit Neugier begegnen können.

Die «Neu-Entdeckung» meiner eigenen Heimat lässt mich noch vertrauensvoller in der Welt unterwegs sein.

Und lässt mich auch inmitten der globalen, tektonischen, teils irrsinnigen Plattenverschiebungen (auf allen Ebenen) hoffnungsvoll bleiben. Hoffnungsvoll wie ein Berg, der für lange, lange Zeit unverrückbar dasteht.

 

* Das Buch «Grenzgänge – Religion und die Alpen» begleitet die Lesenden durch die Religionsgeschichte der Alpen bis zur heutigen Zeit und gibt einen Einblick in die je unterschiedlichen Traditionen anhand von verschiedenen Beispielen aus unterschiedlichen Orten im Alpenraum. Daria Pezzoli-Olgiat war mit dem Buch auch zu Gast bei Holy Embodied.

Foto von Dorian Baumann auf Unsplash

1 Gedanke zu „Das Erwachen meiner Alpen-DNA“

  1. Ihre Reflexionen erinnern mich daran, dass ich vor langer Zeit ein paar Tage in den Bergen Pakistans zubrachte. Bauernfamilien bewirtschafteten dort ihre traditionellen Höfe, wie bei uns. Kühe und Ziegen grasten auf den Weiden. Doch statt dem Läuten der Kirchenglocken erklang der Ruf des Muezzin. Diese Begegnung hat mir die Augen geöffnet und ich entdeckte, aus welch kleiner Welt ich stamme, wo die Bauernfamilien in der Innerschweiz katholisch und im Berner Oberland reformiert sind.

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