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Begriffsmacht und Komplizenschaft

Containerbegriffe

Während das Wort «Tisch» viele unterschiedlich gestaltete Möbel bezeichnet, die nach Funktion, Grösse und Zweck unterschieden werden können – der Beistelltisch, der Esstisch, der Clubtisch, der Pokertisch – und damit Dinge in einer sprachlich geteilten Welt bezeichnet, subsumieren andere «Schlagworte» ein Bündel von Phänomenen, die weder aus funktionaler, intentionaler noch aus ästhetischer Perspektive eine Einheit darstellen. Sie bieten als «Schlagworte» diese Vereinheitlichung an.

Diese «Containerbegriffe» dienen der politischen Orientierung und Mobilisierung. Sie bezeichnen nicht etwas in der Welt, sondern beurteilen Handlungen und Ereignisse mittels wertender Kategorien. Zwei bekannte Beispiele will ich kurz aufführen:

«Cancel Culture»

Dieser Begriff stammt aus dem angelsächsischen Sprachraum und bezeichnet das Zurückziehen öffentlicher Unterstützung und Zusammenarbeit mit oder die Distanzierung von einer öffentlichen Person oder Institution, als Reaktion auf deren öffentlich geäusserte Meinung. Der Begriff ist negativ konnotiert. Er suggeriert, dass wir in einer Kultur leben, deren Entscheidungsträger*innen die Political Correctness höher gewichteten als die Meinungs-, Rede- und Kunstfreiheit. Unliebsame Meinungen werden mundtot gemacht.

Meistens geht die Rede von der «Cancel Culture» mit einer Kritik an der «politischen Linken» einher. Dabei stehen soziale Medien doppelt unter Beschuss. Einerseits weil sie als Pranger der politisch-linken Bubbles gelten, andererseits weil sie – mindestens seit 2020 – selbst Social-Media-Profile löschen, zensieren oder mit Warnhinweisen versehen. Entstanden ist dieser Containerbegriff schon 2014. Auf Twitter wurde es zur Redensart, Vertreter*innen unliebsamer Meinungen zu erwähnen: «XY ist für mich gecancelt!» Daraus entwickelte sich der Hashtag #CancelCulture, den Twitter-User nutzten, um den Boykott von Künstler*innen, Produzent*innen oder anderen Personen öffentlichen Lebens zu fordern, durch die sie sich marginalisiert fühlten.

Cancel-Cancel-Culture

In Deutschland wurde «Cancel Culture» in Verbindung mit Lisa Eckhart richtig bekannt. Sie wurde vom Harbour Front Festival in Hamburg ausgeladen. Die Kritik betraf v.a. ein Kabarettprogramm von 2018, das auf Social Media erneut kursierte. In diesem Auftritt innerhalb einer Satiresendung hatte sie über Antisemitismus, Juden und antijüdische Ressentiments gesprochen. Hauptsächlich ging es dabei um die Missbrauchsvorwürfe gegenüber Woody Allen und Harvey Weinstein.

Dagegen richteten sich unter dem Hashtag #CancelCancelCulture wiederum verschiedene Kulturschaffende und Politiker*innen. Es dauerte keinen Monat, bis prominente Vertreter*innen der AfD auf diesen Zug aufsprangen und die «Cancel Culture» als Bedrohung für die Freiheit Deutschlands bekannt machten. Aber nicht nur sie. Auch andere fühlten sich als Opfer einer Meinungsdiktatur. Und jetzt hatten sie einen Namen dafür: Dieter Nuhr mit seinen Altherrenwitzen über Greta Thunberg, AfD-Gründer Bernd Lucke, Joanne K. Rowling mit ihren – vielleicht feministisch motivierten – zweifelhaften Äusserungen zu nonbinären Geschlechtsidentitäten, Donald Trump und viele, viele mehr, waren nun Opfer dieser Cancel Culture.

Wenig gemein

Das Problematische dieses Containerbegriffs ist zu erahnen, wenn man sich diese kleine Aufzählung durchliest: «Cancel Culture» bringt völlig verschiedene Protagonist*innen unter einen Begriff, die nur dadurch verbunden sind, dass sie einen zivilen Widerstand erfahren. Dadurch wird das Bild einer hysterischen Öffentlichkeit skizziert, die – geleitet durch linke Mainstream-Medien – keine Differenz zur eigenen Weltanschauung mehr aushalten mag und Verstösse gegen «die Political Correctness» mit sozialer Ächtung abstraft.

Aber es ist ein Unterschied, ob die offensichtlichen Lügen eines US-Präsidenten mit Warnhinweisen versehen werden, ein deutscher Hochschulprofessor seine Vorlesung nicht abhalten kann, weil Studierende nicht zwischen seinem Beruf, seiner Person und seinem politischen Engagement unterscheiden oder ob man den Geschmacklosigkeiten gewisser Entertainer die öffentliche Reichweite entzieht. Und im letzten Fall muss auch unterschieden werden, ob man dies aus Gründen der Sicherheit tut oder aus Angst vor drohendem Reputationsverlust.

Weshalb eigentlich nicht?

Wer gecancelt wird, ist das Opfer und gleichzeitig ein*e Märtyrer*in für die Rede- und Meinungsfreiheit. Dass das aber nicht stimmt, merkt sofort, wer darauf achtet, wem diese Opferrolle nie zugeschrieben worden ist: Nicht Angela Merkel, nicht Jan Böhmermann, nicht Franziska Schutzbach, nicht Jolanda Spiess-Hegglin und auch nicht Tamara Funiciello. Ja, nicht einmal der  Covid-TaskForce, die parlamentarisch mit einem Maulkorb versehen werden sollte.

Sie alle wurden oder werden medial gehetzt und man hat versucht, sie mundtot zu machen.

Es gibt «Bürgerforen», die «Stopp Merkel!» brüllen. Böhmermanns Schmähgedicht wurde unter einer schwachen, durch die Flüchtlingspolitik an der türkischen Grenze moralisch absorbierten Bundesregierung, zu einer Staatsaffäre. Schutzbach wurde von der Basler Zeitung gehetzt. Unter anderem mit der Forderung, dass sie an der Uni Basel nicht mehr lehren dürfe. Spiess-Hegglin wurde als Lügnerin dargestellt. Über Monate. Und Funiciello schlug bei ihrer (berechtigten) Kritik an der hinter dem Song «079» liegenden Mentalität so viel Hass entgegen, dass man schon fast glaubt, der Pöbel sei wenigstens musikalisch. Aber «Cancel Culture» war das nie. Weshalb eigentlich nicht?

«Patriarchat»

Ein anderer Containerbegriff ist «das Patriarchat». Die Rede von der Herrschaft der Männer oder der Väter ist nicht neu. Für Robert Filmer (17. Jh.) war das «Patriarchat» ein politisches Legitimationsmoment der Macht. Im Rahmen der heute für das Verständnis massgeblichen feministischen Theoriebildung seit den Sechzigerjahren ging es zunächst um einen Protest an der angeblich «naturwüchsigen» Unterordnung von Frauen unter Männer. Noch Max Weber hatte dies am Ende des 19. Jahrhunderts so beschrieben. Aber schon bald stand das «Patriarchat» für eine Vielzahl von Phänomenen männlicher Herrschaft, innerhalb derer Frauen unterdrückt werden.

Lebensbereiche

Kate Millet entwickelte Ende der Sechzigerjahre die Idee, Geschlechterverhältnisse als Herrschaftsverhältnisse zu begreifen: Frauen leben in einer Kultur, die quasi natürlich die Macht den Männern zuschreibt. Es war die Leistung der Soziologin Sylvia Walby, den Patriarchismus-Begriff empirisch zu unterfüttern und zugleich lebensweltlich zu systematisieren, indem sie die Benachteiligung von Frauen in zentralen Lebensbereichen aufzeigte: Beschäftigungssystem, Reproduktionsarbeit, Sexualität, Kultur, Gewalt und die staatliche Regelung von Geschlechterbeziehungen sind kulturell und rechtlich so ausgestaltet, dass Frauen bis in die Gegenwart hinein benachteiligt sind. Systematisch gesehen, beschreibt das «Patriarchat» demnach eine strukturelle Benachteiligung von Frauen in allen wichtigen Lebensbereichen.

Das Patriarchat als Subjekt

In den letzten Jahren und in gegenwärtigen feministischen Bewegungen ist das Patriarchat aber weniger ein analytischer Begriff. Das Patriarchat wird als Subjekt begriffen, das Güter verteilt, Sexismus am Arbeitsplatz fördert, für ungleiche Löhne zuständig ist, Mädchen Mathe mies macht und Jungen erzählt, dass sie nicht weinen dürfen. Egal was das Patriarchat tut, es handelt immer unfair, benachteiligt immer Frauen und alle nicht männlich hegemonialen Subjekte.

Wer ist schuld am sexistischen Klima am Arbeitsplatz? Das Patriarchat. Wer ist schuld an Bodyshaming und Essstörungen? Das Patriarchat. Wer ist schuld an ungleich verteilter Care-Arbeit? Das Patriarchat.

Das Patriarchat als Nebelpetarde

In gewisser Weise ist das nicht falsch. Wenn das Patriarchat als Containerbegriff für die ungerechte, hegemonial-männliche Güter-, Ressourcen- und Machtverteilung steht, stimmt das. Der Begriff kann dann ausdrücken, dass Sexismus, Bodyshaming und ungleich verteilte Carearbeit böse sind. Und die Rede vom «Patriarchat» kann mobilisieren. Weil das Patriarchat für viele Feindbilder zugleich steht.

Leider ist es untauglich, um die Zustände zu verbessern. Das zeigte sich jüngst, als eine Expertin im SRF befragt wurde, wie sich die Zustände wie bei Tamedia verhindern liessen. Sie fand die Lösung in geschlechtergemischten Leitungsgremien. Exakt diese Lösung impliziert aber einen doppelten Sexismus: Sie impliziert, dass sich Frauen nicht sexistisch verhalten und dass Sexismus etwas ist, das von Männern ausgeht. Letztendlich zementiert gerade diese Haltung dasjenige, was die ursprüngliche, analytische Absicht in der Rede vom «Patriarchat» offenlegen und verändern wollte. Die Jungs sind böse Wölfe und die Mädchen unschuldige, hilflose Rotkäppchen.

Gründe für Benachteiligung

«Me too» hat eindrücklich gezeigt, dass es Machtstrukturen gibt, die Binnenkulturen erzeugen, welche Sexismus und sexuelle Übergriffe fördern. Die Stärke dieser Bewegung liegt darin, dass Geschichten erzählt wurden. Die Dichte an Geschichten hat gezeigt, wodurch Sexismus gefördert wird:

  • Durch Komplizenschaft der schweigenden, wegschauenden Kolleg*innen
  • Durch geschlossene, pseudoelitäre Betriebskulturen
  • Durch personale Machtkonzentration
  • Durch fehlenden Anstand und mangelnde professionelle Distanz der Täter*innen

Glaubt jemand ernsthaft, dass diese Faktoren vom biologischen Geschlecht abhängen? Falls ja: Willkommen im Patriarchat!

Ein analytischer Begriff?

Die Stärke des Begriffs «Patriarchat» liege in der analytischen Kraft, Strukturen und eingefahrene Gesellschaftsmuster zu erkennen. Leider trifft das kaum zu. Denn in Wirklichkeit kaschiert dieses transzendente Subjekt, dieser unsichtbare aber gut spürbare Bösewicht die Gründe, die hinter den Missständen liegen.

Sexismus hat seinen festen Ort in der Gesellschaft, solange die Mitglieder einer Gesellschaft nicht zwischen Gewalt und Sex, zwischen Nötigung und Flirt oder zwischen Beziehungen und Rollen unterscheiden wollen.

Die wirtschaftliche Benachteiligung von Frauen, die Lohnungleichheit und die Altersarmut, werden solange fortbestehen, wie wir die gesellschaftliche Reproduktion nicht als komplementäres Projekt der Erziehungsberechtigten begreifen. Lohnungleichheit ist nicht die Folge einer machohaften Abwertung weiblicher Arbeitsleistung, sondern das Ergebnis fehlender Elternzeit.

Struktur und Ordnung

Es gibt – und darin besteht die wertvolle Erkenntnis der feministischen Theoriebildung – keine naturwüchsigen, ontologischen und biologischen Gründe für die Missstände. Wer aber vom «Patriarchat» als Subjekt spricht, vernebelt genau diese Einsicht. Dadurch werden Männer zu pauschalen Feindbildern, Quoten zu Lösungen, Frauen zu Opfern einer unsichtbaren, schicksalshaften Gewalt und kulturelle Defizite zu Rechtsproblemen.

«Das Patriarchat» ist in vielen Teilen keine eigene Ideologie, sondern eine Folge eines bestimmten Kapitalismus und seiner kulturprägenden Wirkung: Care-Arbeit vs. Erwerbsarbeit, Lohnverhandlungen, in denen man pokern muss, die Idee der Karriere, das Ideal der pausenlosen Verfügbarkeit und die allgemeine Rolle des Geldes in der Wertzuschreibung von Leistung sind keine männlich-hegemonial herbeigefügten Ordnungen, sondern Auswüchse einer kapitalistischen Binnenlogik.

Unsere Gesellschaft ist weit weniger von Rollenbildern geprägt, die entlang der Linien biologischer Geschlechtsidentität verlaufen. Viel mächtiger sind die kapitalistischen Grundüberzeugungen, mittels deren allem ein Wert zugeschrieben wird und alles in eine Ordnung gebracht werden kann.

Profiteure und Opfer

Die Opfer solcher Ordnungen sind nicht Frauen. Jedenfalls nicht per se. Oder anders gesagt: Jemand wird nicht zum Opfer, weil sie eine Frau ist. Man wird zum Opfer, wenn man sich entscheidet, seine Arbeitskraft nicht ausschliesslich der Erwerbsarbeit, sondern auch der Familie zukommen zu lassen. Man wird zum Opfer, wenn die eigene Arbeitsleistung nicht zählt. Man wird zum Opfer, wenn der eigene Personenstatus aus nationalstaatlichen Gründen unklar ist. Zum Beispiel, wenn man in diese Gesellschaft geflüchtet ist. Die eigene Freiheit wird beschränkt, wenn man keinen Wohnraum und kein Vermögen erbt.

Um es kurz zu machen: Frau Martullo Blocher ist zwar eine Frau. Aber kein Opfer des Patriarchats.

Viele Frauen und Männer sind Profiteur*innen dieser Gesellschaftsordnung. Wer mehr als 200’000.- Haushaltseinkommen zur Verfügung hat, kann seine Kinderbetreuung, seine Freizeit, sein Erwerbsleben, die Rechtsform seiner Geschlechterbeziehung, seine Urlaube und seine übrige Zukunft ziemlich frei planen. Wer ein Haus geerbt hat oder ein Vermögen auch. Wer Multimillionärin ist, ist in der gesellschaftlichen Ordnung nicht primär eine Frau oder ein Mann. Sondern mächtig und reich.

Differenzen und Machtlinien

«Cancel Culture» und «Patriarchat» stehen für wichtige Intuitionen. «Cancel Culture» weist darauf hin, dass wir eine Rede-, Meinungs- und Kunstfreiheit brauchen. «Patriarchat» steht für die Idee, gesellschaftliche Ungerechtigkeit zu beseitigen. Und das beginnt damit, sie als gemacht und nicht als gegeben hinzunehmen.

Will man aber die Freiheit bewahren oder die ungerechten Umstände, unter denen Menschen leben, verändern, müssen die Containerbegriffe entpackt werden. Dann erscheinen Phänomene in einem anderen Licht: Trump ist dann nicht Opfer einer Meinungsdiktatur, sondern eine Gefährdung unserer Freiheit. Gegen die wehren sich Menschen und Institutionen. Und Dieter Nuhr ist nicht einfach ein Opfer, sondern ein Mensch mit grosser medialer Reichweite, der nun dem Gegenwind einer kritischen Zuhörer*innenschaft ausgesetzt ist. In beiden Fällen wird Macht gerechter verteilt.

Wer ungerechte Strukturen beseitigen will, muss sich gut überlegen, von woher sie oder er spricht: Als weisse*r Akademiker*in mit einem guten Job und einem vollen Sparkonto ist der Hinweis auf das Patriarchat oft nicht mehr als ein Verschleiern der eigenen Kompliz*innenenschaft mit den Härten des Kapitalismus.

Und hier treffen sich die Containerbegriffe von ihrer Wirkungslogik her: Sie sind Machtinstrumente einer Elite, mittels derer diese Elite ihren eigenen Status wahren kann.

 

Photo by chloe s. on Unsplash

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