Dein digitales Lagerfeuer
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 Lesedauer: 4 Minuten

Aufgeschobene Umarmungen

Am letzten 8. November ist mein Vater verstorben. Ich schreibe «mein», als hätte er mir gehört, als hätte ich ihn besessen. Doch selbst mein Leben gehört mir nicht, ist auf der Schwebe, geliehen und irgendwann unverfügbar.

Ab dem Zeitpunkt des Feststellens seines Todes in seiner Wohnung an einem grauen Montagabend bin ich in einen surrealen Sog hineingezogen worden.

Ich war zwar präsent, ein Teil von mir hat mich aber beobachtet, als wolle er nicht alles empfinden, was gerade ablief.

Der Tod meines Vaters traf mich zwar nicht unvorbereitet, weil er in den letzten Monaten an einer Herzinsuffizienz litt. Ich hätte es aber nicht für möglich gehalten, dass er so schnell gehen muss.

Die erste Woche

In den ersten Tagen nach dem Ableben wurden meine Schwester und ich vom Bestatter und von der Pfarreiseelsorgerin an der Hand genommen und begleitet. Für ihre Unterstützung sind wir dankbar. Auf der Beerdigung habe ich die Abdankungsrede gehalten. Es war ein sonniger Tag und Vaters wichtigste Freunde und Kollegen waren da. Wir konnten beim Friedhof Köniz am Schluss sogar lachen. Mir wurden Geschichten meines Vaters erzählt, die ich nicht kannte. Ich habe mich gefragt, wie viele Versionen meines Vaters gelebt haben, da seine Mitmenschen eine ganz bestimmte Perspektive auf sein Leben hatten.

Wer war in Wirklichkeit mein Vater? Ich bin überzeugt, dass selbst er nicht all seine Versionen gekannt hat.

Nach der ersten Trauerwoche, die mit der Bestattung endete, an der wir die Liebe unserer Freunde und Familienangehörigen erhalten haben, kam eine grosse emotionale Lücke, die v. a. durch administrative Aufgaben gefüllt wurde: Die Behörden mussten informiert, Trauerkarten verschickt, die Wohnung geräumt werden. Das hat zum Trauerprozess gehört.

Als Familie fühlt man sich anschliessend manchmal allein, und wenn ich euch in diesem Blog etwas empfehlen kann, dann, die Trauernden in den Folgewochen nicht zu vergessen und punktuell zu begleiten. Es reicht aus, per WhatsApp nachzufragen, wie’s so geht, gemeinsam einen Kaffee zu trinken oder irgendwo spazieren zu gehen.

Ein Wechselbad der Gefühle

Das Trauern ist kein linearer Prozess, an dem zuerst geweint wird und dann irgendwann Trost und Frieden kommen. Am selben Tag konnte ich traurig sein, um dann wieder jähzornig und schliesslich friedvoll zu sein. Geweint habe ich insbesondere bei Kleinigkeiten. Zum Beispiel, als ich in seinem Kühlschrank das Gemüse vorfand, das ich ihm bei einem Telefongespräch empfohlen hatte. Oder als ein bestimmtes Lied im Radio lief. Oder als unsere Tochter mir sagte, ich hätte zum Glück noch eine Mama.

Der Kopf versuchte das Geschehene zu rationalisieren, Konsonanz herbeizuführen, indem man Floskeln aussprach, wie beispielsweise: «Zum Glück konnte er seine letzten Jahre geniessen. Er konnte Grossvater werden. Er hat wahrscheinlich nicht gelitten.»

Nur eine Hülle?

Hätte ich nachträglich etwas ändern können, dann hätte ich meinen Vater mehr umarmen müssen. Diese Möglichkeit habe ich nun nicht mehr. Während der Pandemie haben wir uns weniger berührt, weniger persönlich getroffen.

Als ich seinen leblosen Körper erstmals auf dem Parkett gesehen habe, wusste ich mit Bestimmtheit, dass dies nur seine Hülle war.

In physischer Form war er nicht mehr anwesend und es war traurig, ihn nicht mehr umarmen zu können. Er war aber irgendwie präsent. Das hat mir geholfen, denn ich empfand, dass es nicht ganz vorbei war. Ich war mit ihm noch in Beziehung.

Natürlich kann ich nicht wissen, was nach dem Tod mit uns geschieht. Ich finde es tröstend, an ein Danach zu glauben. Vater ist auf alle Fälle in meinem Leben und in meinen Erinnerungen präsent, lebt in Sätzen und Geschichten weiter, die ich weiter erzählen werde. Für uns Überlebenden geht es hier weiter – mit unseren Projekten, Träumen, Zweifeln und Lebenszielen.

Und, hast du auch etwas aufgeschoben?

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