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Antisemitismus und Christentum

1. Was ist Antisemitismus?

Antisemitismus ist nicht nur einfach Rassismus gegen Juden. Die Feindschaft gegen Juden als Juden hat eine lange Geschichte, die weit hinter Formen des modernen Rassismus zurückreicht. Der Antisemitismus hat nicht mit der christlichen Kirche begonnen. Schon das biblische Buch Ester beschreibt einen Vernichtungswillen gegenüber jüdischen Menschen. Juden wurden teilweise schon in der griechisch-römischen Antike mit starken Vorurteilen gesehen, die immer wieder auch in Diskriminierung und Gewalt mündeten (Schäfer, 19-42). Und doch hat sich Antisemitismus nirgendwo so ausgebreitet und ausgewirkt wie in der Christentumsgeschichte.

Als Kirchen bzw. Christinnen und Christen können wir diesem Thema schon deshalb nicht ausweichen, weil der christliche Antijudaismus die entscheidende Wurzel aller modernen Formen des Antisemitismus in der Neuzeit gewesen ist.

Eine vielfach anerkannte Definition ist die der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA):

«Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegen Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort und Tat gegen jüdische oder nicht-jüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen und religiöse Einrichtungen.»

Diese Definition ist nicht unumstritten. Manche haben den Vorbehalt, dass die Ausdehnung auf Einrichtungen und Institutionen so weit gedehnt werden könnte, dass jede Kritik am Staat Israel darunterfallen könnte (was jedoch auf der Seite der IHRA explizit zurückgewiesen wird.) Die Jerusalemer Definition wurde verfasst mit dem Ziel, an dieser Stelle beides deutlicher zu unterscheiden:

«Antisemitismus ist Diskriminierung, Vorurteil, Feindseligkeit oder Gewalt gegen Jüdinnen und Juden als Jüdinnen und Juden (oder jüdische Einrichtungen als jüdische).»

Jede kurze Definition bleibt unvermeidlich allgemein. Antisemitismus äussert sich in sehr konkreten wie auch unterschiedlichen Formen, die einem ständigen historischen Wandel unterliegen. Grundlegend sind:

Essenzialisierung. Eine Gruppe von Menschen, in diesem Fall «die Juden», wird als homogen vorgestellt. Ihr werden einheitliche Wesenszüge zugeschrieben. Der/die Einzelne wird grundsätzlich als Teil dieser Gruppe gesehen und dafür haftbar gemacht.

Dämonisierung. «Den» Juden werden Wesenszüge unterstellt, die durchweg negativ und abwertend sind. Sie werden als menschenfeindlich, geldgierig, machtvoll, grausam, zügellos usw. beschrieben. So werden sie vermeintlich für diese negativen Eigenschaften abgelehnt, gehasst oder verfolgt.

Ab dem 20. Jahrhundert sind solche Projektionen auch im Umgang mit dem Staat Israel zu beobachten. Kritik an israelischer Politik gibt es in sehr vielen Formen, innerhalb und ausserhalb des Landes – und niemand bestreitet das Recht dazu. Nach dem sogenannten 3-D-Test kann Kritik am Staat Israel da antisemitische Züge haben, wenn zur Dämonisierung der Juden als vermeintlich homogene Gruppe zwei weitere Aspekte hinzukommen:

Doppelstandards. Doppelstandards greifen überall da, wo Gewalt im Nahen Osten einseitig auf die Präsenz Israels zurückgeführt wird, wo Massnahmen der israelischen Regierung allen Juden weltweit angerechnet werden und wo an Israel Massstäbe angelegt werden, die man bei anderen Ländern z.B. im Nahen Osten nicht in gleicher Deutlichkeit und Frequenz zur Geltung bringt.

– Delegitimierung. Die Existenz des Staates Israels ist völkerrechtlich verbürgt. Dieses Faktum wird da delegitimiert, wo Ziele vertreten werden, die eine Eliminierung des Staates («from the river to the sea») voraussetzen. Israel wird auch da delegitimiert, wo es als Projekt eines westlichen Kolonialismus bzw. eines solchen Apartheidregimes verunglimpft wird, ohne Wahrnehmung der tatsächlichen Ursachen und Umstände der Staatsentstehung 1948.

2. Schlaglichter aus der christlich-jüdischen Geschichte

Das Verhältnis von Christentum und Judentum ist aus heutiger Sicht über weite Strecken eine tragische Geschichte, weil die bleibende Bezogenheit des christlichen Glaubens auf seine jüdischen Wurzeln (Röm 11,17ff.) früh nicht nur in Vergessenheit geriet, sondern verleugnet worden ist.

a) Theologische Enterbung

In der Christentumsgeschichte ist über beinahe zwei Jahrtausende eine Sicht auf Israel dominant geworden, die man heute als Enterbungstheorie (oder Substitutionstheorie) bezeichnet. Diese Sicht entwickelte man aus einigen polemischen Passagen des Neuen Testaments.

Dieser Sicht zufolge war Jesus von Nazareth der Sohn Gottes, der Messias Israels. Sein eigenes Volk hat ihn bis auf wenige Ausnahmen verworfen, und schlimmer, den Römern ausgeliefert, um ihn durch ihre Hand zu töten. Darum hat Gott sie preisgegeben und straft sie für die Tötung des Messias durch geschichtliche Katastrophen (Mt 27,25). Auch die Zerstörung des Tempels und die Vertreibung aus dem Land wurden von Christen so gedeutet.

Nun seien die Christen das auserwählte Volk Gottes, das neue Israel Gottes (Gal 6,16). Der in der Hebräischen Bibel angekündigte neue Bund gelte exklusiv denen, die an Jesus Christus glauben (Hebr 8,7-13). Die Juden hingegen sind im Unglauben verblendet (2Kor 3,14). Die Kritik an ihnen geht so weit, dass das in der römischen Antike verbreitete antisemitische Klischee der Menschenfeindlichkeit der Juden von Paulus aufgegriffen wird (1Thess 2,15). Nur wenn sie Jesus als ihren Heiland und Messias anerkennen und somit auch Christen werden, können sie Heil finden (2Kor 3,12-17).

In der Bezugnahme auf die aufgeführten Zitate des Neuen Testaments ignorierten die späteren christlichen Generationen völlig, dass es sich bei Paulus und den Verfassern des Matthäus- und Johannesevangeliums selbst um Juden handelt, deren Polemik Teil von schweren innerjüdischen Konflikterfahrungen ist. Frühchristliche Autoren wie Barnabas und Ignatius oder Tertullian machten sich diese Aussagen als Polemik gegen die Juden zu eigen (vgl. Wengst, 275-331). Obwohl Paulus in Römer 9-11 eindeutig von einer bleibenden Erwählung Israels, Gottes ungekündigtem Bund mit ihnen und dem künftigen Heil von ganz Israel redet, setzt sich im frühen Christentum das Gegenteil durch: Das frühe Christentum definierte sich im Gegensatz zum Judentum, das als von Gott verworfen galt.

Juden wurden als Christus- oder Gottesmörder bezeichnet, als Kinder des Teufels, die verblendet und menschenfeindlich seien.

In dem Ausmass, wie die Christenheit nach der Konstantinischen Wende im 4. Jahrhundert Macht und Einfluss gewann, setzte sich ein ambivalenter Umgang mit Juden durch. Zum einen wurde Gewalt gegen jüdische Menschen grundsätzlich kritisiert, da Gläubige zur Feindesliebe verpflichtet seien und sie daher wie alle Menschen Schutz und Sicherheit verdienten. Auf der anderen Seite bleib das Judentum Gegenstand vieler Vorurteile und grundsätzlicher Ablehnung, was immer wieder zu Gewalt führte.

b) Gesellschaftliche Diskriminierung

Die Geschichte der Juden in den christlichen Staaten der Antike und des Mittelalters ist wechselvoll. Die selbstverständliche Regel war: Jüdinnen und Juden dürfen auf keinen Fall den christlichen Gläubigen gleichgestellt werden. Zwar gebiete es die christliche Nächstenliebe, sie grundsätzlich zu schützen. Aber zugleich müsste an ihnen anschaulich werden, wohin die Ablehnung des Messias sie gebracht habe.

Christliche Instanzen empfanden sich als Schutzherren und zugleich Vollstrecker eines göttlichen Zorngerichts. Die Ungleichheit in Rechtsfragen galt als notwendig.

Abhängiger Status. Nicht selten machten sich Kaiser und Fürsten zu Schutzherren der Juden, schon weil sie von ihren Fähigkeiten profitierten. In all diesen Regelungen hatten sie stets eingeschränkte und jederzeit widerrufbare Rechte.

Ausschluss aus vielen Berufsständen. Diese Politik führte dazu, dass es für Juden nur ein schmales Spektrum von Berufen gab, in denen sie tätig werden konnten. Dazu gehörten nicht zuletzt das Geld- und Finanzwesen. Weil die christliche Obrigkeit gemäss der Bibel Zinsnahme als problematisch ansah, es zugleich aber auch nie ein funktionierendes Geld- und Finanzsystem gab ohne Zinsen, gerieten oft einige Juden in die Lage, eine notwendige aber oft auch verachtete Funktion in der Gesellschaft wahrzunehmen.

Ghettoisierung. Der Umgang mit Juden wurde zunehmend deutlich eingeschränkt. Jede Form der verwandtschaftlichen Beziehung galt als undenkbar. Schon im Mittelalter war es üblich, dass jüdische Menschen in Strassen oder eigenen Vierteln wohnten. Völlige Ghettoisierung wurde im Spätmittelalter zunehmend verpflichtend, vor allem dann in Zeiten nationalistischer Politik.

Man sollte nicht übersehen, dass es auch Zeiten mit in Ansätzen gelingendem Austausch gab. Trotz aller Diskriminierung kam es immer wieder zu Phasen kultureller Blüte, sei es in Cordoba zu Zeiten des bedeutenden Gelehrten Moses Maimonides (1138-1204), sei es in den inzwischen als UNESCO-Welterbe ausgezeichneten jüdischen Zentren des Deutschen Reichs Speyer, Worms und Mainz.

c) Dämonisierende Stereotypien

Immer wieder kam es jedoch zu Exzessen der irrationalen Angst vor und dem Hass auf Juden. Dabei ist eine Reihe von wirkmächtigen Klischees und Stereotypien entstanden, die bis heute nachwirken.

Ritualmord an Kindern. Schon in der Antike gab es Vorstellungen, in denen jüdische Scheu vor Blut projektiv ins Gegenteil verkehrt wurde. Man unterstellte Juden, christliche Kinder zu entführen, zu foltern und zu töten, um an ihr Blut zu kommen. Solche Ritualmordlegenden ziehen sich durch das Mittelalter. Oft wurden ungeklärte Fälle von Tod und Verschwinden christlicher Kinder «den Juden» zur Last gelegt. Das Stereotyp jüdischer Kindermörder prägte sich dem kulturellen Gedächtnis sehr tief ein.

Schändung der Hostien. Ähnlich unterstellte man den Juden, dass sie aus Hass gegen Jesus danach trachten, z.B. geweihte Hostien zu stehlen und diese zu schänden. Die eigene Feindseligkeit gegen das Judentum liess viele Christen wie selbstverständlich davon ausgehen, dass es auch umgekehrt einen Hass auf den christlichen Glauben gäbe, der sich in Schändungen aller Art ausdrücke.

Okkulte Tätigkeiten. Die vermeintlich biblisch verbürgte Nähe zum Teufel führte dazu, dass man ihnen schwarzmagische und okkultistische Aktivitäten unterstellte. Man glaubte, sie könnten Menschen mit bösen Blicken Schaden zufügen wie Unfruchtbarkeit oder Krankheit.

Sexuelle Ausschweifung. In der Imagination vieler Menschen wurden Juden als hemmungslos und sexuell ausschweifend beschrieben. In weit verbreiteten Plastiken von «Judensäuen» wird ihnen sexueller Verkehr mit Schweinen unterstellt.

d) Vertreibung und Verfolgung

Diese Stereotypien haben sich über lange Zeiten hinweg gehalten und lassen sich noch in heutigen antisemitischen Denkwelten vorfinden. Wo immer solche Feindbilder kommuniziert wurden, führten sie häufig zu Gewalt. Im Zusammenhang der Kreuzzüge ab 1096 wurden jüdische Siedlungen oft die ersten Opfer von Hass und Gewalt der Kreuzritter. Es gab allerdings auch christliche Stimmen, die sich davon distanzierten, Kaiser wie Päpste oder z.B. der in seiner Zeit sehr einflussreiche Zisterzienser Bernhard von Clairvaux (1090-1153).

Vor allem in Krisenzeiten wurden Jüdinnen und Juden als Schuldige für Missstände ausgemacht, wie im Zusammenhang der grossen Pest Mitte des 14. Jahrhunderts. Im Jahr 1349 stimmten sich Kirchen- und Staatsvertreter in Strassburg, Freiburg und Basel ab, wie sie die Jüdinnen und Juden in ihren Städten vertreiben oder töten könnten. Entgegen der kaiserlichen Gesetzgebung kam es zu ausgedehnten Pogromen, in den Hunderte von ihnen ausgeraubt, gefoltert und getötet wurden, unter fadenscheinigen Vorwürfen der Vergiftung der Bevölkerung.

In fast allen westeuropäischen Ländern kam es zu solchen Vertreibungen der Juden. In England wurde 1299 eine vollständige Vertreibung aller Juden verfügt und durchgesetzt. In Frankreich gab es zwei Wellen der Vertreibung aller Juden (1182 und 1306). Im Zeitalter der spanischen Inquisition kam es zu einer Auslöschung des Judentums (Nirenberg, 225ff.). Zunächst wurden die Juden im Jahr 1492 vor die Alternative Bekehrung oder Vertreibung gestellt. Als sich zeigte, dass vermeintlich Bekehrte heimlich nach wie vor ihrem jüdischen Glauben anhingen, wurden auch die Zwangsbekehrten Opfer von Gewalt und Verfolgung.

Eine weit über das übliche Mass hinausgehende Form der Agitation gegen Juden wurde von Martin Luther betrieben. Nachdem Luther noch in seiner Frühzeit für einen offenen und freundlichen Umgang mit den Juden wirbt, kippt diese Haltung nach den ausbleibenden Bekehrungen in sein Gegenteil.

Luther verfasste mehrere Bücher, in denen die Juden mit sämtlichen Dämonisierungen der Geschichte des Antisemitismus belegt werden. Er ruft dazu auf, ihre Häuser und Synagogen zu zerstören und sie selbst zu vertreiben oder auch zu töten. Dass sich viele Nationalsozialisten in ihrem Hass auf Juden nicht nur auf Luther berufen haben, sondern sich auch auf ihn berufen konnten, ist das schlimmste, was man über seine Wirkung sagen muss. Viele Juden liessen sich in Mittel- und Osteuropa nieder, wo sie teils eine blühende Kulturlandschaft ausbildeten.

Im 16. Jahrhundert wurde Polen zu einem Zentrum rabbinischer Gelehrsamkeit. Im 18. Jahrhundert kam es in vielen ostereuropäischen Gebieten mit dem Chassidismus zu einer vertieften Frömmigkeitskultur mit grosser Ausstrahlung. Aber auch dort kam es immer wieder und zunehmend zu Gewaltexzessen. Das ursprünglich russische Wort Pogrom (Verwüstung, Zertrümmerung) stand für solche Gewaltausbrüche. Seit dem 19. Jahrhundert wird es auch rückblickend für ähnliche Formen kollektiver Gewalt gegen Juden verwandt, wie sie sich durch die Geschichte des Christentums ziehen.

3. Antisemitismus in der Moderne

Man kann zwar grundsätzlich zwischen einem christlich-theologisch begründeten Antijudaismus und einem politischen Antisemitismus der Moderne unterscheiden; und sollte doch beides zugleich nicht trennen (vgl. Schäfer, 9ff.). Typisch für den modernen Antisemitismus ist das Nachlassen bzw. Verschwinden explizit christlich-biblischer Begründungen. Aber man sollte nicht den Eindruck erwecken, dass der christliche Antijudaismus nur eine harmlosere, religiöse Form der Abwertung von Menschen gewesen sei.

Die christliche Ablehnung der Juden hat politische Massnahmen aller Art begründet, von Benachteiligungen bis hin zu Gewaltverbrechen, Tötung und Vertreibung.

a) Politisch-kulturelle und rassenbiologische Formen des Antisemitismus

Grundsätzlich ändert sich die Lage im 18. und 19. Jahrhundert dadurch, dass die modernen Ideen der Gleichheit aller Menschen zur Basis werden, um erstmals die Diskriminierung der Juden in Frage zu stellen. Schon in der Zeit von Pietismus und Aufklärung im 19. Jahrhundert gibt es eine Abkehr von der früheren Pauschalverurteilung der Juden.

Gleichzeitig entstehen neue Variationen antisemitischer Einstellungen. In der Aufklärung wird das Judentum teilweise als Inbegriff einer rigiden und intoleranten Religion gesehen, die es nicht wie das Christentum zur Anerkennung von Freiheit und Individualität gebracht habe (vgl. Nirenberg, 329-362).

Juden fanden dennoch zunehmend Möglichkeiten, von Demokratisierungsprozessen zu profitieren. Gerade weil sie traditionell aus vielen klassischen Berufszweigen ausgeschlossen waren, von Landwirtschaft über Handwerk bis zu Staatsanstellungen, sind sie in der öffentlichen Wahrnehmung überrepräsentiert in Finanzwirtschaft, Bildungsbereich, Medien- und Unterhaltungsbranche. Diese neuen Freiräume waren vielfach verbunden mit bleibender Ablehnung des Judentums als Religion und einem gesellschaftlichen Druck zur Assimilierung.

Die neue Sichtbarkeit vieler Juden führte dazu, dass sie zunehmend verantwortlich gemacht wurden für scheinbar negative Folgen der Moderne. Vielfach wurden Jüdinnen und Juden in besonderer Weise mit dem aufkommenden Kapitalismus identifiziert. Vor allem in wirtschaftlichen Krisenzeiten gelten sie als materialistisch und ausbeuterisch. Diese Stereotypien sorgten dafür, dass Antisemitismus aus verschiedenen Richtungen des politischen Spektrums einleuchten konnte.

«Linke» Kapitalismuskritik konnte in den Juden ein global wirksames Netzwerk einer reichen Elite finden, die viel zu viel Macht über die Weltpolitik, die Kultur und die Medien habe. Aus «rechts-konservativer» Sicht leuchtete die Verbindung von Judentum und Kapitalismus ebenfalls ein.

In rechts-nationalistischen Kreisen kam die Idee zersetzender Fremdheit hinzu. Gerade durch ihren kulturellen Einfluss trügen die Juden dazu bei, dass die Gemeinschaft des Volkes durch zu viele internationale Einflüsse geschädigt und die einheimische Kultur dabei entwertet werde. Eine solche Sicht dominierte auch im Christentum. Es war der pietistisch-konservative Pfarrer Adolf Stoecker (1835-1909), der sich rühmte, den Antisemitismus zu einem zentralen Thema der politischen Propaganda der Politik in Deutschland gemacht zu haben.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verbreitet sich mit dem Rassenantisemitismus eine anscheinend wissenschaftliche Begründung für die als problematisch gesehene Ethnie der Juden (Schäfer, 214ff.). Der klassische Rassismus des 19. und 20. Jahrhunderts war jedoch nie rein biologistisch orientiert. Er hat stets dem Judentum bestimmte kulturelle, charakterliche Eigenschaften unterstellt. Insofern setzt sich mit diesem biologischen Rassismus wohl das Wort «Antisemitismus» durch, nicht aber eine ganz und gar neue Form der Judenfeindschaft.

b) Verschwörungstheorie der jüdischen Weltherrschaft

Führen wir uns das praktische Funktionieren des Antisemitismus an einem der berühmtesten verschwörungstheoretischen Texte der Geschichte vor Augen: «Die Protokolle der Weisen von Zion». Der Text wurde erstmals 1903 in Russland veröffentlicht. Vermeintlich schildert dieser Text protokollartig die Verabredungen von jüdischen Freimauern, wie sie in der kommenden Zeit die Weltherrschaft an sich reißen wollen.

Sehr schnell nach Veröffentlichung wurde klar, dass es sich um eine Fälschung handelte. Über weite Strecken handelt es sich um ein Plagiat eines französischen Textes von 1863, der sich gegen Napoleon III wandte. Trotz der offensichtlichen Beweise für diese Tatsache hält der weltweite Einfluss dieses Textes an. Bis heute gelten in rechtsextremen und auch islamistischen Kreisen (wie z.B. der Charta der Hamas) die Unterstellungen dieser Schrift als begründet.

Die Schrift zeigt ein breites Spektrum antisemitischer Stereotype und Klischees, die bis heute Feindschaft gegen das Judentum befeuern.

Geheime Elitenherrschaft. Die Protokolle decken vermeintlich eine Verbindung von Juden und Freimauern auf. Unbemerkt von der Öffentlichkeit bestimmen diese reichen wie mächtigen Menschen im Hintergrund die Geschicke der Welt. «In unserem Dienst stehen Leute aller Anschauungen und Richtungen: Monarchisten, Freisinnige, Demokraten, Sozialisten, Kommunisten und allerhand Utopisten. […] Wir haben sie alle für uns in das Joch gespannt.» (Protokolle, 56)

Machtwille. Diese Herrschaftselite strebt nach absoluter Macht und tut alles dafür, nichts ihrer Kontrolle entgleiten zu lassen. «Sobald ein nichtjüdischer Staat es wagt, uns Widerstand zu leisten, müssen wir in der Lage sein, seine Nachbarn zum Kriege gegen ihn zu veranlassen. Wollen aber auch die Nachbarn gemeinsame Sache mit ihm machen und gegen uns vorgehen, so müssen wir den Weltkrieg entfesseln.» (Protokolle, 53)

Medienkontrolle. Eines der wichtigsten Machtinstrumente sind die Medien. Die öffentliche Berichterstattung ist abgestimmt und koordiniert. «Als Mittel dazu werden wir die öffentliche Meinung vorschützen, die wir insgeheim durch die sogenannte letzte Großmacht – die Presse – in unserem Sinne bearbeitet haben. Mit ganz wenigen Ausnahmen, die überhaupt nicht in Frage kommen, liegt die ganze Presse in unseren Händen.» (Protokolle, 53)

Zerstörung der Sitten. Mittels ihrer Macht in Medien und Unterhaltung arbeiten die Vertreter dieser vermeintlichen jüdischen Weltherrschaft an der Auflösung der bisherigen sittlichen Ordnungen und der Herbeiführung von Chaos, um die eigene totale Diktatur vorzubereiten. «Alle schlechten Gewohnheiten, Leidenschaften, alle Regeln des geselligen Verkehrs müssen derart auf die Spitze getrieben werden, dass sich Niemand in dem tollen Durcheinander mehr zurecht finden kann, und die Menschen aufhören, einander zu verstehen.» (Protokolle, 49)

Forcierte Säkularisierung. Vor allem arbeiten diese Juden an der Zerstörung des traditionellen Gottesglaubens und der damit verbunden Sittlichkeit. «Wir müssen unbedingt den Gottesglauben zerstören, jeden Gedanken an Gott und an den Heiligen Geist aus der Seele der Nichtjuden herausreißen und ihn durch zahlenmäßige Berechnungen und körperliche Bedürfnisse ersetzen.» (Protokolle, 45)

Welteinheitsstaat. Ziel ist ein von ihnen kontrollierter Welteinheitsstaat, der Frieden und Sicherheit für alle bringen soll. Diese kosmopolitische Weltherrschaft soll am Ende von allen Völkern getragen werden. «Die Anerkennung unseres Weltherrschers kann schon vor der endgültigen Beseitigung aller Verfassungen erfolgen. Der günstigste Augenblick dafür wird gekommen sein, wenn die von langen Unruhen geplagten Völker angesichts der – von uns geführten – Ohnmacht ihrer Herrscher alles Vertrauen zu denselben verloren haben und den Ruf ausstoßen werden: ‹Beseitigt sie und gebt uns einen einzigen Weltherrscher, der uns alle vereint und die Ursachen des ewigen Haders – die völkischen Gegensätze, die Verschiedenartigkeit des Glaubens, die Grenzen der Staaten und ihrer Ausdehnungsbestrebungen – beseitigt, der uns endlich Frieden und Ruhe bringt, den wir vergeblich von unseren Herrschern und Volksvertretungen erhofften›.» (Protokolle, 64)

Die Protokolle haben furchtbare Weltgeschichte geschrieben. Im Dritten Reich galt dieses Bild des Judentum als authentisch und wurde zur Begründung des Kampfes gegen sie vielfach benutzt. Das Feind- und Wahnbild der jüdischen Weltverschwörung konnte verwendet werden, das eigene Machtstreben auf den vermeintlichen Gegner zu projizieren und gleichzeitig so dessen Auslöschung zu rechtfertigen.

Bis heute bedienen sich unterschiedliche Formen des Antisemitismus direkt oder indirekt bei den Deutungsmustern der «Protokollen der Weisen von Zion». Die Charta der Hamas (1988) beruft sich direkt darauf.

Ihre Wirkung ist ungeheuer weit gestreut. In der Corona-Zeit konnte man bei höchst unterschiedlichen Gruppen beobachten, wie sie dieses Verdachtsmuster verwendeten: Hinter allem stehe der Plan einer globalen Elite. Die Medien bzw. ihr Mainstream seien gleichgeschaltet, faktisch arbeiten die Mächtigen auf die Abschaffung der Freiheit hin und wollen einen Welteinheitsstaat errichten. Solche Unterstellungen kursierten bei unterschiedlichen Demokratie-Feinden sowie esoterischen wie auch extrem-religiösen Predigern unter Stichworten wie «Great Reset» und ähnlichem bis heute. Diese Ideenwelt funktioniert bisweilen auch so, dass Juden gar nicht mehr explizit benannt werden (Antisemitismus ohne Juden).

4. Heutige Herausforderungen

Der christliche Umgang mit den Juden ist im Rückblick eine ungeheure Schuldgeschichte, die alle Konfessionen des Christentums betrifft. Darum ist der Kampf gegen Antisemitismus eine bleibende Herausforderung gerade auch der Kirchen.

Es gibt keine moderne Form des modernen Antisemitismus, die nicht in irgendeiner Weise im Antisemitismus der Christentumsgeschichte vorgeprägt bzw. vorweggenommen war.

Das darf nicht in Vergessenheit geraten, wenn wir heute von verschiedenen neuen Ausprägungen wie nationalistischem, muslimischem oder linkem Antisemitismus reden. Ebenso wenig sollte dadurch der Anschein erweckt werden, als wäre Antisemitismus das Problem radikaler Gruppen, aber kein Problem der gesellschaftlichen Mitte, in der Kirche oder in unseren Gemeinden. Antisemitische Stereotypien wirken bis heute nach in allen gesellschaftlichen Schichten.

Keine Gruppe kann für sich in Anspruch nehmen, nicht anfällig für Antisemitismus zu sein. Wer glaubwürdig warnen möchte, darf sich nicht auf den Antisemitismus der anderen beschränken.

Christen haben angesichts ihrer Geschichte nicht den geringsten Grund, z.B. Muslimen pauschal eine höhere Anfälligkeit zu unterstellen. Wir hätten aus der Geschichte des Antisemitismus nichts gelernt, wenn wir heute pauschal Muslimen Antisemitismus unterstellten und dabei vom «Islam» oder «den Muslimen» in der gleichen vereinheitlichen und abwertenden Weise redeten, wie es für den Antisemitismus typisch ist.

Wo sich Kirchen heute zu Recht öffentlich gegen Antisemitismus aussprechen, sollten sie nicht versäumen, ihren eigenen historischen Anteil an der Ausbreitung desselben aufzuarbeiten und bewusst zu machen (Vgl. Kirche und Israel, 34-44). Diese Herausforderung lässt sich auch nicht ersetzen durch eine stark positive Identifikation mit dem Judentum bzw. mit dem Staat Israel, wie es heute für unterschiedliche christliche Gruppen typisch ist. Die blosse Umkehrung früherer Vorurteile bleiben allzu oft befangen in klischeebeladenen Projektionen, die jüdischen Menschen nach wie vor verweigern, was sich viele von ihnen wünschen: Anerkennung in Differenz, wie es die Baseler Jüdin Liliane Bernstein in einem Stammtisch-Gespräch mit Manuel Schmid formulierte.

 

Literatur

Peter Longerich, Antisemitismus. Eine deutsche Geschichte. Von der Aufklärung bis heute, München: Siedler Verlag 2021.

David Nirenberg: Anti-Judaismus. Eine andere Geschichte des westlichen Denkens, München, C.H. Beck 2017.

Die Protokolle der Weisen von Zion. Die Grundlage des modernen Antisemitismus – eine Fälschung. Text und Kommentar. Hrsg. Von Jeffrey L. Sammons. Göttingen: Wallsteinverlag 42007.

Schäfer, Peter: Kurze Geschichte des Antisemitismus, München: C.H. Beck 2020.

Schwier, Helmut (Hg.): Kirche und Israel: Ein Beitrag der reformatorischen Kirchen Europas zum Verhältnis von Christen und Juden. Im Auftrag des Exekutivausschusses für Leuenberger Kirchengemeinschaft, Frankfurt/Main 2001. Download hier.

Klaus Wengst: Wie das Christentum entstand. Eine Geschichte mit Brüchen im 1. Und 2. Jahrhundert, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2021.

 

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3 Kommentare zu „Antisemitismus und Christentum“

  1. Mich hat dieser kompakte Text über die Wurzeln, Auswüchse und die Aktualität des Antisemitismus sehr nachdenklich gestimmt. Das Statement am Schluss will ich mir zu Herzen nehmen: jüdische Menschen in Differenz anzuerkennen und immer besser zu verstehen. Wenn jemand Ideen hat wie das konkret aussehen könnte, würde ich mich freuen davon zu hören.

  2. «Segeln hart am Wind»
    Dietrich Bonhoeffer gehört seit dem ersten Tag der nationalsozialistischen Machtübernahme zur Opposition. Das bedeutet ein Leben in der Illegalität. 1943 wird der Pfarrer im Militärgefängnis Berlin-Tegel nach monatelangen Verhören wegen «Wehrkraftzersetzung» verurteilt und in das Konzentrationslager Buchenwald überführt. Angesichts der vorrückenden Amerikaner am 9. April 1945 wird er im Konzentrationslager Flossenbürg erhängt. Sein letzter Satz vor dem Tod: «Dies ist das Ende, für mich der Beginn des Lebens.»

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