Less noise – more conversation.

 Lesedauer: 8 Minuten

Zivilisierende Religion?

Nur zwei Wochen, nachdem ein Mob das Kapitol gestürmt hat, durchschreitet Kamala Harris die „heiligen“ Hallen des Kapitols. An ihrer Seite der künftige First Gentleman. Die Fanfaren ertönen. Beide betreten die Terrasse und werden dort von applaudierenden Ex-Präsidenten und Kongressabgeordneten begrüsst. Mit den Obamas werden Küsschen und ermunternde Schulterklopfer gewechselt. Bald schon, abermals unter Fanfaren, deren Erhabenheit einem glauben macht, dass sie das Kapitol von seinem Schandmoment reinigen können, betreten Joe und Jill Biden die grosse Bühne. Noch ist er President elect. Aber in der kommenden Stunde soll er zum 46. Präsidenten und ein tief gespaltenes Land zur Union werden. Ich erwarte einen zivilreligiösen Akt. In Wahrheit erwartet mich ein Gottesdienst.

Nun ist es in Mode gekommen, alles mögliche einen „Gottesdienst“ zu nennen. Meistens tut man dies augenzwinkernd. Ich meine es an dieser Stelle aber ganz ernst. Anders als der Gottesdienst hat der zivilreligiöse Akt seinen Ort innerhalb einer Gesellschaft, die einen gemeinsamen Grund jenseits von institutionell getragenen Religionsgemeinschaften sucht und allgemein akzeptierte Wertmassstäbe und Intuitionen herleiten muss. Nicht jede säkularisierte Gesellschaft bedarf im selben Ausmass und mit gleichem Abstand zu institutionalisierten Religionsformen zivilreligiöser Riten und Inszenierungen. Anders als Frankreich, das seine bürgerliche Freiheit dem Powerplay von Klerus und Adel abgerungen hat, fanden die Gründerväter und -mütter ihre Freiheit in der Ausübung ihrer konkreten Religion. Das bleibt spürbar. Meine These ist: Die Inauguration war nicht bloss wie ein Gottesdienst, sondern sie fand im Rahmen eines Gottesdienstes statt.

Die Liturgie

Nach dem Einzug, die Begrüssung

Die demokratische US-Senatorin Amy Klobuchar eröffnet die Inauguration mit einer Ansprache, die meine Erwartungen an die zivilreligiöse Form dieser Feier erfüllen. Es sei ein Segen, jetzt hier zu stehen, zwei Wochen, nachdem dieser Tempel der Demokratie geschändet worden sei. Man sei neu aufgestanden für Freiheit und Gerechtigkeit, habe den Staub abgeschüttelt. Sie erinnert an Präsident Lincoln, für den das Kapitol das Symbol der Union gewesen sei, ein Instrument des Guten. An diesen Ursprung gelte es anzuknüpfen und darauf zu vertrauen, dass Joe Biden die Seele Amerikas wieder heilen werde.

Schuldbekenntnis

Der römisch-katholische Priester Leo J. O’Donovan spricht das Gebet, das einem Schuldbekenntnis gleichkommt: Wir haben zu wenig getan für die Inklusion und die Gerechtigkeit. Wir wollen die Vision erneuern, wieder ein Vorbild werden für die Welt, indem wir für die Bedürftigen einstehen und sie unterstützen. Wir wollen eine Liebe leben, die bereit ist, sich für die Fürsorge anderer zu investieren. Gott gebe dem Präsidenten Weisheit und Besonnenheit und die Gabe, das Richtige vom Falschen zu unterscheiden, damit der Traum von Friede und Gerechtigkeit wahr werden könne.

Gloria

Nachdem die unterschiedlichen Unionsfahnen herbeigetragen worden sind, betritt Lady Gaga die Bühne. Ihr Kleid wird geziert von einer grossen goldenen Taube, die einen Olivenzweig im Schnabel festhält. In der Geschichte der Arche Noah ist sie zum Zeichen geworden, dass das Leben weitergeht, dass Friede mit Gott wieder möglich ist, dass Tod und Verderben ein Ende haben. Mit ergreifendem Pathos singt sie die Nationalhymne. Und die Taube, dieses Hoffnungs- und Friedenssymbol beantwortet die ohnehin rhetorische Frage der ersten Strophe:

O! say does that star-spangled
banner yet wave,
O’er the land of the free
and the home of the brave?

Man wünscht es sich ganz einfach. Ohne ganz sicher zu sein, was es bedeutet. Die hier besungene Gottheit ist jedenfalls nicht die Flagge. Sie steht vielmehr selbst für die Idee eines unzerstörbaren Kerns, der die USA ausmacht. Und den es – sei es in Erinnerung an Abe Lincoln, an die Gründungsväter, die Verfassung oder die Kriegshelden – wieder zu entdecken gilt.

Wer das bisher nicht verstanden hat, dem kann der nun anschliessende Fahneneid helfen: „Ich schwöre Treue auf die Fahne der Vereinigten Staaten von Amerika und die Republik, für die sie steht, eine Nation unter Gott, unteilbar, mit Freiheit und Gerechtigkeit für jeden.“ Eine Nation unter Gott, unteilbar, mit Freiheit und Gerechtigkeit für jeden. Man will es hoffen. Dass Andrea Hall ihn spricht, lässt Gutes glauben.

Der Eid

Ohnehin liegt viel Symbolik in der Auswahl der Protagonistinnen. Harris‘ Vereidigung wird von Sonia Sotomayor vorgenommen. Sie ist die erste Person aus der Bevölkerungsgruppe der Hispanics und die dritte Frau überhaupt in einem Richteramt am Obersten Gerichtshof. Biden wird durch den Vorsitzenden des Obersten Gerichtshofs vereidigt. Beide schwören auf die Bibel. Harris gleich auf zwei Bibeln: Diejenige einer Freundin und auf diejenige von Thurgood Marshall, der von 1967 bis 1991 der erste schwarze Richter am Obersten Gerichtshof war. „So help me God!“

Die Predigt

Jetzt, in Amt und Würden vereidigt, richtet sich der 46. Präsident an sein Volk. Er ist erleichtert und dankbar dafür, dass die Demokratie gesiegt hat: Die Verfassung ist robust. Die Nation ist stark. Aber sie steht vor grossen Herausforderungen: Die Pandemie hält das wirtschaftliche und soziale Leben in Schach, Ethnien liegen im Streit, White Supremacy bedroht den Zusammenhalt und die Freiheit und Gerechtigkeit für alle. Und das Klima – nicht nur das politische – dreht im roten Bereich.

In dieser Situation will Biden das Land einen, die Gemüter abkühlen, Amerika heilen. Die USA sollen wieder die führende Kraft in der Welt werden, ein moralisches Vorbild für alle. Auf dem Weg dorthin gelte es den Kampf gegen die Bedrohungen, gegen das Böse, zu gewinnen. Dies gelinge nur als Einheit. Als Einheit sei den USA aber alles möglich. Heute stehe Kamala Harris als 1. Vizepräsidentin exemplarisch vor uns: Sagt mir nicht, dass man nichts ändern kann!

Man müsse nicht in allem einig sein, um als Union zu funktionieren. Es gebe auch friedlichen Dissens. Er werde für alle Amerikanerinnen und Amerikaner beten. Denn – hier erinnert Biden an Augustinus – die Menschen würden definiert durch einen gemeinsamen Liebestrieb. Es ziehe alle Menschen hin zur Wahrheit, zur Würde und Freiheit. Aber deshalb gelte es nun auch für die Wahrheit einzustehen, gegen eine Kultur der Lügenproduktion, der Fake News. Die Nation stehe nun auf dem Prüfstand und sie könne nur gewinnen durch die Macht ihres Beispiels und nicht durch Beispiele ihrer Macht.

Als ersten Akt seiner Präsidentschaft wolle er deshalb beten. Im Gedenken an die 400’000 Toten. Angesichts der historischen Verantwortung, in der man stehe. Um Mut und Zuversicht. Und er fordert die Menschen auf, eigene Gebete zu finden für das Land, das sie alle gemeinsam lieb haben.

Das Glaubensbekenntnis

Nach peinlich langen Minuten des Amazing-Grace-Zwischenspiels folgt nun das Glaubensbekenntnis. In vielen Liturgien ist es ein zur Standardformel verkommenes Element. Hier nicht. Amanda Gorman trägt ihr Gedicht vor. Ein Gedicht das klagt, anprangert, bedauert. Aber vor allem glaubt und hofft:

„But one thing is certain, if we merge mercy with might, and might with right, then love becomes our legacy and change our children’s birthright.“

Das sind keine Floskeln. Es ist nicht kitschig. Da ist Pathos, aber nie wirkt Amanda Gorman pathetisch. Es ist denn auch kein Bekenntnis auf die Grösse und Erwählung der USA, sondern die entschlossene Selbstverpflichtung angesichts einer konkret empfundenen Verantwortung.

Fürbitte, Segen und Sendung

Reverend Silvester Beaman, ein Freund der Familie Biden, spricht zum Abschluss die ‘blessing from God’ über dem Präsidenten und der Vizepräsidentin und ihren Familien aus. Er bittet um Weisheit und Schutz für die Verantwortungsträger*innen, fleht Gott um Hilfe an, dieses gespaltene Land zu einen und verpflichtet die USA vor Gott wieder zum Vorbild zu werden für die Welt. Er tut dies bedacht. Er gedenkt der Sklaven, die das Kapitol errichtet haben, der Kranken und Hungrigen, die unter uns leben.

Es ist kein triumphalistisches Gebaren. Es ist ein demütig bittendes Gebet, das um die eigene Versehrbarkeit und Fehleranfälligkeit weiss. Das „Glory Hallelujah“ gilt hier Gott, indem wir Menschen unsere Menschlichkeit entdecken sollen. Nicht der Nation.

Augenwischerei?

Als Europäer*in mag man verwundert die Augen reiben. Unsere Säkularisierungsgeschichten sind anders verlaufen. Wir wären peinlich berührt, wenn ein Bundesrat, eine Kanzlerin oder ein Präsident vor dem Volk beten würden. Priester, Pfarrerinnen und Pastoren haben zwischen Kanzel und Rednerpult zu unterscheiden. Natürlich, auch in den USA sind Kirchen und Staat getrennt. Sogar weitgehender als in vielen europäischen Ländern. Aber die Trennung ist auf eine religionsfreundliche, befreiende Art und Weise geschehen. Die Freiheit einen eigenen Glauben zu wählen ist bedeutend wichtiger, als nicht durch einen anderen Glauben belästigt zu werden.

Man mag das kritisieren und die Verbindung von irdischer Macht und göttlichem Willen befremdlich finden. Solange diese Verbindung jedoch nicht legitimatorisch, sondern umgekehrt zur ethischen Selbstverpflichtung wird, ist daran wenig falsch. Mindestens ist es per se nicht problematischer als es die nationalstaatlichen oder europäischen Inszenierungen von Identität sind.

Und angesichts der zum Himmel schreienden Ungerechtigkeit, die vielen Menschen in den letzten Jahren durch die US-Regierung widerfahren ist – Dreamers, Muslimas und Muslime, wirtschaftlich Schwachgestellte und People of Color – ist es wohltuend für einen Moment zu glauben, dass dieser Himmel nicht leer sei. Ob sie das so empfunden haben?

 

Foto von Karolina Grabowska von Pexels

7 Kommentare zu „Zivilisierende Religion?“

  1. Lieber Stefan
    Danke für diene Beobachtungen. Mir ist es auch in etwa so gegangen. Ich dachte, bin ich jetzt in einem GD oder bei der Inauguration?
    Ich habe nicht das ganze gesehen, aber was ich sah, glaube ich schon, dass es Hoffnung weckte und nicht nur bei US-Bürgern.

  2. Das eigentlich Berührende an der Zeremonie war für mich der Umstand, dass die Menschen, die an ihr beteiligt waren, selbst tief berührt waren. Das hat man gemerkt. Und es steckte sehr viel Poesie darin; Gottesdienst hat irgendwie sehr viel mit Kunst zu tun.

    Merkzettel für mich: Gottesdienst ist überall, wo Menschen von seiner Liebe angerührt werden. Dazu noch ein Buchtipp: John Van Sloten, „The Day Metallica Came to Church: Searching for the Everywhere God in Everything“.

  3. Lieber Stephan, erst einmal vielen Dank für diese tiefgründige Analyse. Ich habe die komplette Feier erlebt und war tief bewegt. Das sie tatsächlich ein Gottesdienst der besseren Art war, ist mir nach deinem Artikel klar geworden. Das amerikanische Pathos ist mir fremd, auch die religiöse Überhöhung der Nation finde ich problematich. Doch ich habe deutlich wahrgenommen, dass hier etwas anders ist. Zum einen durch die Protagonisten. Noch nie haben soviel Frauen an einer Inauguration eines Präsidenten mitgewirkt – das war kein Zufall, sondern bewusst gewollt. Und noch nie waren es Personen mit einem so unterschiedlichen ethnischen Hintergrund.
    Andrea Hall, die erste Berufsfeuerwehrfrau in Georgia und die erste schwarze Feuerwehrcaptain leistete den Fahneneid!
    Christina Sotomayor, die erste Hispanic und die dritte Frau überhaupt am Obersten Gerichtshof vereidigte Kamalah Harris. Die erste Frau im Amt des Vize-Präsidenten. Eine Frau mit indisch-jamaikanischen Wurzeln und mit hinduistisch-christlichem religiösem Hintergrund, die sich selbst als „Black American“ definiert und mit einem Juden verheiratet ist.
    Das tradtionelle Gedicht wurde von der jungen afro-amerikanischen Poetin Amanda Gorman gesprochen.
    Die Gebete am Anfang und am Ende von den katholischen und protestantischen Geistlichen Leo J. O’Donovan und Reverend Silvester Beaman, einem Afroamerikaner, sind nicht triiumphalistisch, sondern bittend, realistisch, angemessen.
    Mit Joe Biden wird erst der zweite Katholik nach John F. Kennedy in der Geschichte der USA zum Präsidenten vereidigt. Vorher war es undenkbar, dass ein Katholik Präsident sein könne.
    Und dieser Mann betet ehrlich und schlicht für die Opfer der Pandemie und ihre Angehörigen. Am Vorabend hat es auf sein Bestreben eine Gedenkveranstaltung für die über 400 000 Opfer der Pandemie an der National Mall gegeben.
    Auch die Ansprache ist nicht triumphalistisch. Ich glaube, dass Joe Biden wirklich versuchen will zu heilen und zu versöhnen. Ob es ihm gelingt werden wir sehen. Die Herausforderungen sind gross.
    Doch nachdem ich schon einige Monate seine Reden verfolge gewinne ich den Eindruck, dass er, den Trump und seine Anhänger als senil und als Trottel verunglimpft haben, der richtige Mann für diese Stunde der Geschichte ist. Möglicherweise verfügt über die Altersweisheit nicht sein eigenes Ego in den Vordergrund zu spielen, sondern das Miteinander zu suchen. Manche haben kritisiert, dass er als „alter weisser Mann“ der Kandidat der Demokraten wurde. Doch er hat eine Regierung mit den meisten Frauen und den meisten Personen diverser ethnischer Hintergründe zusammengestellt, die es jemals in der amerikanischen Geschichte gab.
    Bei allem war uns als Eurpoäer fremd ist – was insbesondere für Schweizer befremdlich erscheinen mag – ich sehe darin die Chance einer hoffnungsvollen Entwicklung.
    Vergessen wir bitte nicht, woher die USA kommt. Aus einer Polarisierung, die nicht erst mit Trump begonnen hat, aber von ihm und seinen Anhängern auf die Spitze getrieben wurde.
    Hoffen wir, dass die Symbolik und die Haltung, die in der Inauguration deutlich wurde, sich auch in der realen Politik der neuen US-amerikanischen Regierung bewahrheiten wird.

    1. Hey vielen Dank für dein tolles Statement! Ich habe beim Lesen gleich nochmals alle Highlights vor mir gesehen. Wie du traue ich Biden auch sehr viel zu. Ein alter weisser Mann ist nur ein alter weisser Mann, wenn er sich wie einer verhält 😉 Und bisher haben wir viel Grund zu hoffen.
      Lieber Gruss, Stephan

  4. Ich bin mir nicht so sicher, wie gut es ist, dass ein ziviler Staatsakt so stark durchdrungen ist von der christlichen Religion. Wird da nicht ähnliches gemacht wie dort, als Trump im Gefolge von den Black-Lives-Matter-Unruhen vor einer Kirche eine Bibel in die Kameras hielt? Religion wird instrumentalisiert. Das kommt zwar weitaus sympathischer daher bei Joe Biden. Die Protagonisten haben gewechselt, weg von den Evangelikalen zu den Mainline-KirchenvertreterInnen, zu denen ich als Methodist in den USA auch gehören würde. Aber ist das wirklich besser. Mich fasziniert, wie sehr Gott in der Politik einer Gesellschaft, in der Kirche und Staat konsequent getrennt sind, eine grosse Rolle spielt, während in unserer Gesellschaft, in der Kirche und Staat noch näher einander zugeordnet sind, kaum noch jemand wagt, Politik mit Glauben oder auch nur sozialtheologisch zu begründen, und man auf dem politischen Parket aufschreit, wenn Kirchen politisch werden.
    Zuletzt noch. In der Einschätzung von Joe Biden bin ich ganz bei Stephan Juette. Eine seriöse, mitfühlende Persönlichkeit, die versucht, der eigenen Glaubens- und Lebenshaltung gerecht zu bleiben in grosser Verantwortung und mit Respekt vor seinem Amt, und den Menschen, mit denen er dies gemeinsam tun will.

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