Religiöser Fundamentalismus ist ein markantes Thema der letzten 20 Jahre. Ursprünglich wurde das Wort Fundamentalismus im Zusammenhang mit einer Strömung des US-Protestantismus gebraucht: Seine Anhänger*innen verstehen die Bibel als unmittelbares, irrtumfreies Wort Gottes. Biblische Geschichten fassen sie als Tatsachenberichte auf. Diese Strömung ist doppelt irritierend: Erstens, weil diese ansonsten durchaus gebildeten Menschen davon ausgehen, dass die Erde 10’000 Jahre alt ist, Noah mit einem Schiff die Tierwelt gerettet hatte, Jesus eine Gottheit ist, die über das Wasser gehen konnte und uns allen eine endzeitliche Entscheidungsschlacht bevorsteht. Zweitens, weil ihre Anhänger*innen politisch äusserst aktiv sind und ihre religiösen Anliegen gesamtgesellschaftlich zur Durchsetzung bringen wollen.
Divide et impera!
9/11 hat den Verdacht geschürt, dass dieser Fundamentalismus nicht nur ein christlich-protestantisches Phänomen sei, sondern – je nach Sympathie – eine Begleiterscheinung oder gar der Kern von (monotheistischen) Religionen. Mittlerweile wissen wir: In Wirklichkeit gedeiht Fundamentalismus auch ohne religiösen Dünger erstaunlich gut und breitet sich rasch in Weltbildern und politischen Haltungen aus. Besonders wirksam zeigt er sich in vulgärwissenschaftlichen Anschauungen, die sich in fundamentalistischer Manier nicht zuletzt auch auf Religionen beziehen: Szientismus, zweckrationale Weltbilder, sozialdarwinistische Gesellschaftsideen in neoliberalen Anzügen oder ein geschichtsvergessener aber dafür umso kämpferischer Atheismus sind seine säkularen Kinder. Egal unter welchem Deckmantel Fundamentalismus auftritt: Zuerst verhindert er, dass wir uns verstehen können. Dann führt er dazu, dass wir das auch gar nicht mehr wollen.
Obwohl diese Entwicklung kaum zu übersehen ist, hat sie nicht zu einem neuen Denken über Religion, Gesellschaft und Fundamentalismus geführt. Viel eher werden besonders absurde Verschwörungstheorien (QAnon, Bill Gates Impfimperium) oder gefährliche politische Bewegungen (Klimaleugner, politische Nationalisten oder Rassisten) rundherum als ‘religiös’ klassifiziert und damit disqualifiziert. Richtig daran ist, dass sich die Ausstrahlung einer glühenden Nationalistin, ihre Ergriffenheit wenn sie an Blut und Boden denkt und die sentimentale Manipulationskraft von Aufmärschen, Pamphleten und Gesängen kaum von derjenigen religiöser Eiferer unterscheiden lässt. Falsch ist daran, dass Religionen einseitig als gesellschaftsgefährdende Kraft in den Blick genommen werden.
Wie rechtspopulistische Politiker*innen nur dann zum Ziel kommen, wenn sie ‘die Politik’ insgesamt in den Dreck ziehen können, ist das allgemeine Religionsbashing Wasser auf die Mühlen der Esoteriker, Verschwörungstheoretikerinnen und evangelikalen Fundamentalisten.
Nachts, wenn alle Katzen grau, alle Politiker*innen irgendwie korrupt und alle Religionen und Weltbilder dumm sind, können diese entschlossenen Separatisten die Gesellschaft zerlegen. «Trump lügt? Dann schau mal was Bidens Sohn getan hat!» «Du findest QAnon absurd? Milliarden Menschen glauben an eine Jungfrauengeburt!» Divide et impera!
Fundamentalismus als giftige Mischung
Wer Religion mit Fundamentalismus oder Politik mit korruptem Establishment gleichsetzt, schüttet nicht nur das Kind mit dem Bad aus, sondern befördert ein Klima, indem Fundamentalismus, Populismus und Korruption gedeihen. Gegen korrupte Eliten hilft ein gesundes, demokratisches Politiksystem. Gegen Fundamentalismus helfen Religionssysteme, die sich selbst kritisch reflektieren, geschichtlich und sozial einordnen und darin ihre Geltungsansprüche relativieren.
Deshalb schadet die pauschale Diffamierung fundamentalistischer Welterklärungen als ‘religiöse Ideologien’ nicht nur den Religionen, sondern dem gesellschaftlichen Zusammenhalt überhaupt. Es gibt – unabhängig von religiöser oder ideologischer Ausgestaltung – fünf ideologische Zutaten, die in der richtigen Mischung einen giftigen Fundamentalismusbrei ergeben. Diese gilt es zu bekämpfen. Zuerst bei sich selbst. Ganz los werden wir sie wohl nie. Aber es ist wie in der Medizin: Die Dosis macht das Gift. Hier eine Zutatenliste. Aber bitte nicht nachkochen.
Eine feste Basis
Wie das Wort schon sagt: Fundamentalismus braucht ein Fundament. Dieses besteht aus mehreren fixen, unverhandelbaren, nicht zur Diskussion stehenden ideologischen oder religiösen Grundsätzen. Diese Grundsätze bilden gemeinsam einen absoluten Massstab, mit dem alle Wirklichkeit bewertet und eingeordnet wird.
Fundamentalisten betonen gerne, dass alle Menschen solche Basis-Überzeugungen hätten. Zum Beispiel, indem sie ‘der Wissenschaft’ glauben oder überzeugt sind, dass alle Menschen gleich an Würde sind. Aber das ist ein Trick. Wer auf wissenschaftliche Erkenntnisse vertraut, orientiert sich an einem System, das sich einzig der Idee verschrieben hat, seine Modelle und Erklärungen einer intersubjektiv feststellbaren Wirklichkeit anzupassen. Das Experiment entscheidet über die Gültigkeit des Modells und nicht umgekehrt.
An ‘die Wissenschaft’ zu glauben, bedeutet daher per se, damit zu rechnen, dass die ‘Wahrheiten’ an denen man sich orientiert, überprüfbar und widerlegbar sind.
Das ist mit dem Glauben an die unbedingte Würde des Menschen etwas anders. Sie ist nicht unmittelbar Gegenstand empirischer Erkenntnis. Aber sie ist auch keine willkürliche, schöngeistige Festlegung. Sie resultiert aus einem gesellschaftlichen Lernprozess und ist ein Kondensat der Geschichte, die wir selbst sind. Unsere Kultur hat durch die Menschen-Unrechtserfahrungen – wenigstens theoretisch! – gelernt, dass die Unterstellung einer unbedingten Menschenwürde sinnvoll und im Sinne humanistischer Werte notwendig ist. Und dafür können wir Gründe nennen.
Solche Überzeugungen stehen im Kontrast zu den fundamentalistischen Absolutheitsansprüchen. Religiöse Basisüberzeugungen beziehen sich auf eine unfehlbare Offenbarungswahrheit. Sie kann nie falsch liegen. Ihr kann man sich nur unterwerfen. Pseudowissenschaftliche Basisüberzeugungen hingegen sind nicht besser: Sie konstruieren aus den empirischen Ergebnissen ein Weltbild, indem zwischen Sein und Sollen nicht mehr unterschieden wird. Auf dieser Basis lassen sich die Perspektiven eines Beobachters und einer Teilnehmerin am Leben nicht mehr unterscheiden. Und damit auch nicht der Unterschied zwischen Beschreibung und Interpretation.
In beiden Fällen wird aus etwas Gutem etwas Gefährliches: Poetische, inspirierende Texte werden zu wirklichkeitsverdrängenden Gefängnissen. Orientierende Aussagen über die Beschaffenheit der Welt werden zu einem ideologischen Programm.
Freund-Feind-Schema
Fundamentalistische Überzeugungen führen notwendigerweise zu einem Denken – manchmal auch Handeln – in einem Freund-Feind-Schema. Ein Freund ist, wer sich meiner Wahrheit entsprechend verhält. Ein Feind ist jeder, der das nicht tut. Diese Haltung ist auf der individuellen und der gesellschaftlichen Ebene schädigend. Individuell, weil man dann ausserhalb der eigenen Binnenlogik nichts Neues lernt. Man bleibt im eigenen Konstrukt gefangen, blendet Wirklichkeiten aus, verpasst Lernchancen.
Die eigene Entwicklung stagniert. Man verkümmert. Intellektuell und sozial.
Gesellschaftlich führt dieses Verhalten zu mentalen Gräben, politischen Spaltungen und ideologischen Grabenkämpfen. Es geht nicht mehr um Parteiprogramme oder politische Absichten, sondern um Bekenntnisse zu vermeintlichen Wertfragen: Ehe für Alle und Abtreibung. Immer gibt es ‘wir’ und ‘die anderen’. Und von ‘denen’ ist nie etwas Gutes zu erwarten.
Fundamentalistinnen führen ins Feld, dass der ‘liberale Mainstream’ dies doch auch so handhabe. Längst seien Geschlechtergerechtigkeit, Ehe für alle oder Multikulturalismus zu Goldenen Kälbern geworden. Aber das stimmt nicht. Dabei handelt es sich um eine Beschreibung, die unser Zusammenleben aus dem Freund-Feind-Schema selbst deutet. «Du bist für die Gleichberechtigung Homosexueller? Dann gehörst du in die Kategorie wertrelativistischer, linker Gutmenschen.» Man kann nach Gerechtigkeit streben und sich darum bemühen, dieses Anliegen in der Art wie wir sprechen, Jobs verteilen, Zivilstände konstrieren, Kinder erziehen und mit uns Fremdem umgehen, zu verfolgen, ohne fundamentalistisch zu sein. Solange man in diesen Themen lernbereit und neugierig bleibt.
Szientisten sehen sich als rationale Avantgarde einer zunehmend verblödenden, ungebildeten, abergläubischen Masse gegenüber.
Die Toleranz in der die liberale Staatsgewalt Religionen und esoterischen Gruppierungen begegnet, fühlt sich bedrohlich für die Gesellschaftsentwicklung und die eigenen Massstäbe an. Aber unsere Gesellschaft entwickelt sich nicht einfach entlang wissenschaftlicher Erkenntnisse, sondern muss diese, wertend, in sich integrieren. Dabei setzt sie darauf, dass sich Wahres durchsetzt. Ohne Zwang und ohne rigide Beschränkungen. Denn die Gesellschaft ist der Ort, indem wir uns als Teilnehmer*innen bewegen. D.h. als Menschen, die im Gespräch diesen Lebensrahmen immer wieder neu bilden.
Missionarischer Eifer
Für sich genommen ist ‘missionarischer Eifer’ gar kein Problem. Es ist toll, wenn sich Menschen für ein Anliegen einsetzen. Eine Mission zu haben und sie zu verfolgen, ist sinnstiftend und kann auch Mitmenschen bereichern. Aber… in Verbindung mit fundamentalistischen Haltungen ist er unerträglich. Er wirkt dann nicht bereichernd und sinnstiftend, sondern zwängt Menschen in das feste Korsett eigener Wahrheiten und Beurteilungsmassstäbe. Nervige Fitnessfanatiker, Impfgegnerinnen, militante Veganer und frömmlerische Christen verbindet eines: Wenn du leben willst, meidest du ihre Gegenwart. Gerade als freundlich gesonnener Mitmensch mag man gerne etwas über ihre Ansichten erfahren. Weil sie aber alles nur noch aus der Perspektive des Körperfettanteils, der Pharma-Mafia, der Tierwürde oder ihrer Freundschaft mit Jesus wahrnehmen, sind sie kaum gesellschaftsfähig. Sie verwechseln dann Gesundheit mit Lebenssinn, Medizin mit Ideologie, Tiertransporte mit Konzentrationslagern und ihre Glaubensprojektion mit der allein selig machenden Wahrheit. Sie sehen ihr Gegenüber nicht mehr.
Selbstimmunisierung
Echte Fundamentalist*innen lieben Megatheorien. Megatheorien sind nicht mega schlau. Aber sie sind wie gutes Haushaltspapier: Sie absorbieren alles. Bis zum zerreissen. Der überzeugte Marxist weiss, dass deine Ablehnung des Marxismus am falschen Klassenbewusstsein liegt. Die orthodoxe Psychoanalytikerin erkennt in deiner Skepsis gegenüber ihrer Methode eine verdrängte frühkindliche Störung, die du auflösen solltest. Wenn die Corona-Pandemie zeigt, dass soziale Sicherungssysteme wichtig sind, weiss die neoliberale Jünger*innenschaft, dass die Pandemie nur ein Mittel ist, um den Sozialstaat aufzublähen. Wenn du dem Bekehrungsaufruf des Predigers nicht folgst, hat Gott dein Herz verstockt.
Nichts und niemand – schon gar nicht Fakten – vermögen Megatheoretiker*innen von ihrem Glauben zu trennen.
Das ist gar nicht so unbegreiflich. Es ist nämlich viel gemütlicher das liebgewordene Gewand eigener Überzeugungen zu dehnen, als es abzulegen. Zumal man irgendwann meint, dieses Gewand selbst zu sein.
Weil Fundamentalist*innen sich mit ihren Überzeugungen nicht nur identifizieren, sondern meinen, mit ihnen identisch zu sein, steht im Konflikt mit Wirklichkeitseinbrüchen oder kritischen Anfragen die eigene Person auf dem Spiel.
Bekehrungsmoment
Bekehrung. Dieses Element gehört zum Standardrepertoire der Fundamentalist*innen. I once was lost, but now am found / Was blind but now I see. Je dunkler die Vergangenheit, umso heller strahlt die gegenwärtige Erkenntnis. «Plötzlich, als ich diesem Schmetterling zugeschaut habe, begriff ich: Wir sind alle verbunden! Seitdem esse ich nichts mehr, das von Tieren kommt!» Oder der wiedergeborene Rationalist: «Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen! Diese Geschichten in der Bibel sind Märchen! Religionen verursachen Unwissenheit und Leid. Davon frei war ich bereit mich offen meinen Ängsten zu stellen und sie zu überwinden.» Ähnlich die wiedergeborene Christin: «Mein Leben lang war ich unsicher. Ich fühlte, dass ich nicht genüge. Dann habe ich Jesus das alles übergeben…»
Bekehrungsgeschichten haben zwei Vorteile: Sie markieren eine Zäsur. Und sie erzählen jedem, der die Radikalität dieser Zäsur hinterfragen möchte, eine Geschichte. Geschichten sind wie Gründe. Aber weniger zwingend und gleichzeitig überzeugender.
Selbstkritik
Aber was soll man nun mit diesen Zutaten? Ein Fundamentalist will keiner sein. Fundamentalisten sind beschränkt und borniert. Selbst hat man immer Recht. Man ist nicht fundamentalistisch. Aber aus den obigen Zutaten lässt sich ein kurzer Selbsttest ableiten, um sich auf die Schliche zu kommen:
- Bei dem Konflikt den ich austrage: Verteidige ich eine Wahrheit, bei der ich spüre, dass ich selbst auf dem Spiel stehe?
- Der oder die Fremde, die mir begegnet: Bin ich noch neugierig und hoffe ich noch, etwas Neues zu lernen? Auch über mich selbst?
- Das Gespräch, das ich gerade führe: Höre ich zu oder warte ich nur auf die Pause, um meine Entgegnung einzubringen?
- In einem ruhigen Moment: Stelle ich mir ab und zu noch vor, dass alles ganz anders sein könnte, dass ich mich irre?
- Meine Biografie: Denke ich liebevoll über den Menschen, der ich vor meinem grossen Umbruch war? Kann ich ihn umarmen ohne ihn paternalistisch zu tätscheln? Und kann ich mir vorstellen, dass mein Ich in 10 Jahren mein jetziges Ich umarmt?
Man kann jetzt denken: «Schön, dann bessere ich mich. Aber die Welt bleibt gleich!» Aber das stimmt nicht. Fundamentalismus wird durch weiteren Fundamentalismus stärker. Daran wächst und erneuert er sich. Selbstreflexion, Neugier, Offenheit, Phantasie und Selbstvertrauen sind Gift für Fundamentalismus. Oder besser ein Zaubermittel. Wie Alchemie: Sie verwandeln Sturheit, Angst, Verschlossenheit und Unsicherheit in ein Gespräch.
Auch im Podcast Schall&Rauch haben wir uns ausführlich darüber unterhalten.
2 Gedanken zu „Wie geht Fundamentalismus?“
Danke für diesen ausgewogenen und erdenden Artikel. In vielem, was derzeit über Verschwörungstheorien und Empörte hüben und drüben berichtet wird, sehe ich Verhärtungen und tatsächlich Fundamentalismen in x verschiedenen Gewändern auf x-welcher Basis in zunehmend hysterischer Tonlage.
Sehr hilfreich finde ich die Checkliste zur Selbstkritik.
Vielen Dank, lieber Simon! Ich habe habe beim Schreiben selbst gemerkt, dass ich hie und da anfällig bin und die Checkliste brauche 😉