Less noise – more conversation.

 Lesedauer: 5 Minuten

Wellen im Osten

«Stört es Sie, wenn wir ein bisschen Wellen machen?» fragt mich die Physiotherapeutin, die am Beckenrand steht und gerade die letzte Übung mit ihrem Patienten abgeschlossen hat. Ich schüttle im Vorbeischwimmen den Kopf. Es stört mich nicht, ich bin Wellen gewohnt.

Während ich also wie eine schwerfällige Meeresschildkröte meine Bahnen ziehe, stösst der ältere Mann das Schaumstoffbrett mit aller Kraft seines Körpers durchs Wasser.

Das Abendlicht fällt zerbrechlich durch die Fenster. Draussen bei den Föhren und Fichten tanzt schwerelos ein Wasserirrlicht: Es ist ein durch die Scheiben gespiegelter Schimmer aus Licht und Farben.

Tod und Terror im Osten

Nah an der Oberfläche schimmern unvermittelt Tränen. Vielleicht sind es die Wellen, die etwas aus meiner Tiefe hervorholen, vielleicht ist es das Wasser, dass meine Verlorenheit reflektiert.

Schwereloser Spiegelirrwisch, Wellen-Anfragen, zerbrechliches Abendlicht.

Tausendfachtiefes Leid, Zersplitterung vieler Seelen, Schüsse und Bombensplitter. Tod und Terror im Osten.

Ich bin ihm nicht entkommen, dem Verderben und hier im Wasser schwappt mir alles ungeschützt ins Gesicht. Hier schwimme ich mit nichts als meinem Körper und meinen Gedanken. Hier gibt es kein Ablenken, kein Ausschalten, keine Unterbrechung.

Aufgeweichte Schutzwälle

Das Wasser weicht meine hohen Schutzwälle auf – denn natürlich habe ich sie gesehen, die entsetzlichen Meldungen und all die Schreckensbilder und die Wogen branden nun, wo ich ungeschützt schwimme, erbarmungslos über mich hernieder. Ich sinke wie ein Stein auf den Grund des Beckens und bleibe regungslos liegen.

Ich habe keine Worte und hätte ich sie, sie würden mir bleischwer vor die Füsse fallen. Obwohl ich es nicht wollte, ich habe zu viel gesehen: Schleifspuren, getrocknetes Blut, zerbombte Häuser.

Es gibt nichts, was das alles je wieder gut machen würde, nichts. Nur das monotone Gurgeln des Wassers ist zu hören. Die Welt ist still.

Ich möchte nie mehr auftauchen, nie mehr an die Weltenoberfläche kommen, nie mehr hören, sehen, schmecken wie der Hass alles zerstört. Ich bin Wellen gewohnt, aber an diesen Klippen zerschelle ich.

Überrollender Weltschmerz

Kleine, von der Schöpfungskraft wunderbar geformte Kinderkörper, lebensfrohe Menschenherzen, junge Ungeduld, in der Wüste tanzend. Bombensplitter, Blut und Eingeweide. Braungebrannte, lachende Gesichter, ein Haus ohne Strom, Flaggen gehisst, Hummus und Brot…

Ich war noch nie im Osten, bin nie weit herumgekommen, bin meistens hier – doch der Weltschmerz überflutet mich trotzdem. Ich muss nichts von dieser Welt wissen und weiss dennoch über Mitgefühl.

Füsse waschen am Beckenrand

Die Sonne sinkt hinter die Baumwipfel, es wird dämmrig im Therapiebad. Der ältere Mann hat seine Übung mit den Wellen beendet und setzt zu einer kurzen Pause an. Ich lasse mich langsam wieder vom Grund herauftreiben und breche als erstes mit meinem zentnerschweren Herz durch die Wasseroberfläche.

Der Mann lächelt zu mir herüber, bevor er aus dem Becken steigt. Er hat nicht bemerkt, wie schwer ich geworden bin. Er hat nicht bemerkt, wie ich in Gedanken auf den Grund gesunken bin.

Er ist mit seinen eigenen Wellen beschäftigt, sein Leben ist selbst schwer genug.

Die Physiotherapeutin kniet sich am Rande des Beckens vor ihn hin. Er hebt das eine, dann das andere Bein und sie zurrt ihm Schwimmrondellen mit Klettverschluss an den Füssen fest.

Die Bewegung regt eine Erinnerung an, die ich nur aus Erzählungen kenne; Jesus, der sich hinkniet, Jesus, der Füsse wäscht.

Ich sehe für einen Moment Jesus am Beckenrand knien. Vielleicht wäre er heute kein Handwerker mehr, vielleicht wäre er ein Physiotherapeut.

Kein Gott im Krieg, nur Gott im Herz

Für Jesus gäbe es, wie für Physiotherapeut:innen, keinen Unterschied, wieso jemand Unterstützung braucht. Ob Kriegsverletzung, Mordanschlag, Terrorgewalt, ob Suizidversuch, Wiedereingliederung oder Geburtsgebrechen, er würde jeden versehrten Menschen mit der gleichen Fürsorge behandeln, wie die junge Therapeutin den alten Mann am Beckenrand.

Und Jesus würde mit mir auf den Boden des Beckens sinken, schwer wie ein Stein, ohnmächtig vom Grauen dieser Welt. Er würde tränenlos mit mir weinen und keine Worte finden.

Irgendwann würde er mit mir nach oben steigen, mit dem brennenden Herzen voran durch die Oberfläche stossen. Und dann würde er mir, wie der ältere Mann, leise zulächeln.

Es gibt keinen Gott im Krieg, aber vielleicht gibt es Gott in den Herzen der Menschen. Da wo die Ewige in den Tiefen unserer Seelen ihre Wohnung hat und mit uns fühlt. Vielleicht liegt Gott mit uns zentnerschwer und zerschlagen auf dem Grund von allem, damit wir dort nicht so alleine sind.

Wie ein Korken, kann nicht gänzlich untergehen

Das Dämmerlicht wird durchbrochen vom Anzünden der Deckenfluter und meine Ohnmacht ist für einen Moment besiegt. Der alte Mann und die Physiotherapeutin schliessen ihre Übung ab, sie winken zum Abschied und ich versuche zu spüren, ob ich noch einmal auf den Grund sinken muss.

Ich entscheide mich dagegen. Es ist gut, konnte ich der Realität für einen Moment nicht entfliehen, es ist gut, dass ich die Wellen gespürt habe, dass ich mich stellen musste. Ich bin doch nicht zerschmettert.

Ich treibe immer noch auf dem Wasser; wie ein Korken kann ich nie gänzlich untergehen, ich tauche wieder auf.

Dann ergreife ich die unsichtbare Hand, die mir vom Beckenrand entgegengestreckt wird und lasse mich ins Leben zurückziehen. Trauer, Tod und Verzweiflung lasse ich – für einen Moment – am tiefen Grund des Beckens liegen.

 

Sarah Staub ist Pfarrerin in der evangelisch-methodistischen Kirche Schweiz und selbst betroffen von einer multisystemischen Körperbehinderung. Sie veröffentlicht bei RefLab in loser Folge Artikel rund um die Theologie der Behinderung und ihre eigenen Erfahrungen damit. Über ihr Therapiebad hat sie bereits einmal geschrieben. Auf Instagram postet Sarah Staub als «die fromme Häretikerin» regelmässig Illustrationen und Texte.

Foto von Ivan Bandura auf Unsplash

1 Kommentar zu „Wellen im Osten“

  1. Schöner Text! Sehr ansprechend, die Assoziationen und Bilder (Jesus als Physiotherapeut, die aufweichenden Schutzwälle, das Versinken, die Hand vom Beckenrand) und die poetische Sprache (das zerbrechliche Abendlicht) und die tröstliche Erfahrung, trotz der Schwere nicht gänzlich unterzugehen…

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