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 Lesedauer: 5 Minuten

Von Spülblumen und anderen Provisorien

Letztens habe ich mir Rosen gekauft. Viele, um die 30 Stück, in verschiedenen Farben.

Als ich vom Einkaufen zurückkam, fanden Käse und Milch ihren Weg in den Kühlschrank, das Brot wurde in die Brotschüssel auf dem Regal gelegt und die Rosen, ja, die würde ich später anschneiden.

Ich liess die Folie um die Rosen gewickelt, auch das Tütchen mit dem Pulver, damit die Rosen länger frisch blieben, klebte noch von aussen an dem Bund. Erstmal ins Wasser stellen, dafür reichte auch der Messbecher. Weil die Rosen zu schwer waren für den Messbecher, musste ich sie an den Wasserhahn am Spülbecken anlehnen.

Ich lass das erstmal so

So standen meine schönen Rosen also in Folie verpackt in einem Messbecher am Spülbecken in der Küche und sollten dort auch erstmal bleiben. Ich war viel unterwegs, wenig daheim und die Blumen hatten nun wirklich keine Priorität. Also blieben sie, wo sie waren, meine Spülblumen.

Anfänglich, wenn ich an den Blumen vorbei ging, dachte ich noch: In der Vase wären sie sicherlich schöner. Und dann wiederum freute ich mich über die schönen Blumen an der Spüle. So wie sie dastanden, im Messbecher, ganz als würden sie dorthin gehören. In der Küche sehe ich sie auch viel öfter als auf der Fensterbank.

Nur provisorisch

Ein Provisorium, das zum Dauerzustand wird. Meine Spülblumen stehen sinnbildlich für etwas, das vorläufig war, nun aber länger Bestand hat als anfänglich gedacht. Ein Übergangszustand, der bleibt.

Und damit sind die Blumen nicht allein. Ich kenne viele metaphorische Spülblumensituationen.

Im Keller steht noch dieser eine Karton, den ich nicht auspacke. Ich weiss genau was drin ist, ich räume ihn trotzdem nicht aus. Er steht eben auch nicht im Weg.

Die Fotos von dir habe ich noch nicht gelöscht. Es gibt einen Ordner im Handy, der mir Fotos ausblendet, auf denen bestimmte Personen zu sehen sind. Da bist du jetzt drin.

Den Job mache ich bestimmt nur ein halbes Jahr oder so. Nur bis sich etwas Besseres ergibt.

Das Bild lehnt an der Wand im Wohnzimmer. Warum denn Löcher bohren? Wer weiss, wie lange ich überhaupt in der Wohnung leben werde.

Beziehungsweise

Manchmal bleiben auch Beziehungen ein Provisorium. «Ich ruf dich nächste Woche mal an und dann machen wir etwas aus». «Wir sollten bald mal einen trinken». Und dann rufe ich doch nicht an, weil ein Arzttermin dazwischengekommen ist, oder ein Feierabendgetränk mit den Kolleg:innen, oder einfach Müdigkeit.

Beziehungen sind selten zu Ende gedacht. Sie versanden, sie schleichen sich aus.

Sie werden erstmal zur Seite gestellt und spätestens beim nächsten Umzug sortiere ich dann die Erinnerungsstücke aus, die zu lange darauf gewartet haben, reaktiviert zu werden. Jetzt also doch den Karton im Keller ausräumen.

Leben, Wohnungen, Beziehungen. Alles noch nicht fertig gedacht. Sei es gedanklich oder materiell.

Kann alles noch verändert werden. Den Karton kann ich wegräumen, die Spülblumen in die Vase stellen, den Kontakt wieder aufnehmen.

Oder ich lasse es so. Vielleicht kann ich wieder zurück, nur, falls ich das will. Ich habe immer noch alle Möglichkeiten.

Mahnmal der unabgeschlossenen Veränderung

Apropos Möglichkeiten. Der «Möglichkeitssinn» aus dem Roman «Der Mann ohne Eigenschaften» von Robert Musil passt ganz gut zu meinen Provisorien. Menschen, die den Möglichkeitssinn haben, denken darüber nach, was sein könnte. Und sie nehmen dieses Denken genauso wichtig wie das, was ist.

Die Möglichkeit hat einen Wert an sich. Und deshalb darf das Provisorium auch wertvoll sein.

Nichts muss zu Ende gedacht werden. Nicht alles erfüllt den Zweck, für den es ursprünglich vorgesehen war. Es lebt sich ganz gut provisorisch. Dann laufe ich zumindest nicht Gefahr, es mir zu bequem zu machen.

Veränderungen zu Ende denken, macht Angst. Die Endgültigkeit, die mitschwingt, kann ich nicht gut aushalten.

Vielleicht sind die Provisorien in unseren Leben auch nur die Mahnmale der Angst vor Veränderung. Die Band Kettcar singen in ihrem Lied «Anders als gedacht»:

«Und da geht was du weisst/ Und hier kommt was du ahnst/ Und das, wie es wirklich ist/ Gegen dort wo du mal warst/ Und alles, was du kennst/ Gegen alles, was du glaubst»

Noch nicht fertig

Auch Überzeugungen sind mitunter provisorisch. Den Umständen entsprechend.

Mein Glaube ist ebenso ein Provisorium. Wie dieser Karton im Keller. Was drin ist, weiss ich. Zumindest in etwa. Trotzdem findet sich immer wieder etwas Neues, der Karton bleibt unausgepackt. Wenn ich etwas daraus brauche, finde ich es.

Jesus ist in meinem Glaubenskarton wie ein Buch, in welches immer neue Seiten geschrieben werden. Habe ich längst noch nicht alle gelesen. Werde ich auch nicht, es kommen immer neue dazu.

Oder die Idee eines liebenden Gottes, die war früher auch in dem Karton zu finden. Heute tue ich mich schwer mit menschlichen Zuschreibungen an ein Gottesbild. Aber vermutlich verändert sich das auch wieder.

Mein Glaube ist ein Provisorium, das mich nun schon recht lange begleitet. Und so kompakt, wie er dort ist, in dem Karton, lässt er sich gut überall mit hin transportieren und transformieren.

Gott ist auch noch nicht zu Ende gedacht. Wird sie wohl nie sein.

Aber von Gott wieder zurück zu den Rosen an meiner Spüle.

Ich habe sie dann doch irgendwann angeschnitten, von der Folie befreit und in einer richtigen Vase auf die Fensterbank gestellt. Sie haben mich an meine ganz persönlichen Provisorien erinnert. An die versandeten Freundschaften und den nicht ausgepackten Karton im Keller.

Was bleibt, sind dieser Text und die Blumen.

 

Foto @unsplash Brett Jordan

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