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«Unsere» Nationalmannschaft

Optimist:in

Optimist:innen wissen, dass viele Schweizer Spieler in tollen ausländischen Ligen unter Vertrag sind, dass viel Talent in dieser Mannschaft steckt und «wir» uns vor niemandem fürchten müssen: Hat man nicht in der Nations League Deutschland und sogar Spanien ein Unentschieden abgerungen?

Allerdings werden sie regelmässig enttäuscht. Weil es dann eben doch nie reicht. Weil «wir» Elfmeter verschiessen – und mit der Zunge seltsame Bewegungen dazu machen –, gegen Schweden 1:0 verlieren, nachdem man Brasilien ein Unentschieden abgerungen hatte oder gegen Wales spielt, als wäre es ein weiteres lästiges Testspiel, das man zwar nicht unbedingt verlieren möchte, aber auch nicht gewinnen muss. Und weil gegen ein spielstarkes, taktisch brillantes Italien der Klassenunterschied offensichtlich wird.

Echte Optimist:innen bleiben zuversichtlich: Gegen die Türkei haben sie eine ganz andere Mannschaft gesehen! Eine, für die die EM noch lange nicht zu Ende sein muss. Ein Team, das jetzt ins Turnier gefunden hat. Manche von ihnen konvertieren aber auch und werden dann zu -> Sozialarbeiter:innen oder -> Traditionalistischen Wutbürger:innen.

Die Sozialarbeiter:innen

Die Sozialarbeiter:innen sind die Psycholog:innen unter den Fans. Sie fühlen den Druck, unter dem Granit Xhaka steht regelrecht mit. Sie versetzen sich in die Secondo-Geschichten «ihrer» Mannschaft, warnen davor, dieses Team zur Projektionsfläche zu stilisieren. Die Tattoos und Porsches, die blonden Haare und die grotesken Herrenhandtaschen sind nur ein Ausdruck der Überforderung, die junge Menschen in diesem kapitalistischen Fussballgeschäft notwendig ereilt. Sie opfern sich für unsere nationalistischen, atavistischen Regungen und man kann nur hoffen, dass sie Freunde, Eltern oder Partnerinnen haben, die sie «erden».

Sie sind kapitalismuskritisch aber lasten die Konsumauswüchse und Extravaganzen nie den Spielern an, sondern dem globalisierten Klubfussball. Und dem Pay-TV. Mitten im Spiel können sie das thematisieren und auch – ja gerade wenn! – niemand antwortet, zu einem langen Monolog Anlauf nehmen. Dabei ein Traumtor zu verpassen, macht ihnen nichts aus: Es gibt keinen richtigen Fussball im falschen Spiel. Für die -> Gossip-Tanten und Onkels haben sie nur Verachtung übrig. Und ein Bildungsprogramm.

Die Gossip-Tanten und Onkels

Was Ronaldos Car-Park kostet, wie Jan Sommers Tochter heisst und welche Spieler bei zwielichtigen Partys erwischt wurden: Die Gossip-Fraktion weiss alles. Ausser was Abseits ist, ob das eigene Team mit einer Dreier- oder einer Fünferabwehrkette spielt und schon gar nicht, ob die EM jetzt in der Gruppenphase oder schon in den Achtelfinals steckt… Aber diese «Fans» bieten gute Unterhaltung zwischen den Spielen. Und sie stören dich nie beim Match. Denn Fussball schauen, das würden sie nie. Das verbindet sie mit den -> Multikulturalistischen Feinschmeckern und den auratischen Kunstbetrachter:innen mit denen sie sonst nichts gemein haben.

Multikulturalistische Feinschmecker:in

Sie schauen nie Fussball. Das ist zu abgehoben und hat mit dem Spiel nichts mehr zu tun. Die Nationalmannschaft ist für sie ein lebendiges Beispiel der kulturell integrativen Kraft unserer offenen Gesellschaft. In ihr versammeln sich Secondos, Basler, Berner, Vegetarier und Vielflieger zu einer kleinen Menschheit! Natürlich sind sie selbst nicht national verengt. Besonders für Frankreich empfinden sie grösste Sympathien. Sie kennen mindestens eine Geschichte eines Spielers, der sich aus den Banlieue «durchgekämpft» hat, jetzt mit wunderschönem Fussball begeistert und Hoffnung macht auf ein vereintes Europa. Ohne Grenzen.

Sie wissen, dass die ignoranten Kommentatoren «Shaqiri» falsch aussprechen. Sie haben den Film «Bend ist like Beckham» beeindruckt im Kulturkino gesehen. Und Petkovic – das ist ja schon wieder falsch geschrieben, Herrgott! – messen sie weder an Einwechslungen noch Taktik, sondern lieben ihn für seinen internationalen Dialekt und das Vertrauen, das er Xhaka und Rodriguez immer entgegenbringt.

An dieser EM ist ihr Held aber ohnehin Cristiano Ronaldo: Nicht wegen seines eleganten Spiels. Sondern weil er Coca Cola quasi mit dem Absatztrick ausgenockt hat.

Traditionalistischen Wutbürger:innen

Was anderen erst nach mehreren Litern Bier oder einer SFV-Trainer-Ausbildung gelingt, leisten traditionalistische Wutbürger im Schlaf: Sie können jeden (!) Spielzug kommentieren, jeden Abschluss entweder jubelnd würdigen oder mit verächtlichem Schnauben verurteilen und jeden Spieler wirklich objektiv – also nicht so wie der Trainer – benoten. Sie spielen in drei Tippgruppen gleichzeitig mit. Und gewinnen nie.

Die Halbzeitanalysen von Alain Sutter haben sie noch verstanden. Das ganze Taktikzeug das jetzt kommt, langweilt sie nur. Darum geht es doch gar nicht beim Fussball. Aufstellung? Taktik? Packing? Es geht darum für sein Land spielen zu wollen, alles zu geben, zu rennen, bis man zusammenbricht. Einsatz eben.

Darum verzweifeln sie ab diesen Verwöhnten Bubbis, die einen Frisör einfliegen lassen, Autos fahren, von denen sie nur träumen und dreimal geschieden sind, ohne arm zu sein. Aber wenn ihre Gladiatoren siegen, ist ihre Euphorie grenzenlos. Sie inkludieren sich in alle Erfolge: «Seit Hodgson sind wir immer dabei!» «Hä, da haben wir es den Spaniern gezeigt!»

Wenn «sie» verlieren, sind die Spieler Weicheier, die es nicht wert sind, «unser» Trikot zu tragen. Und das erkennen sie schon daran, dass – verdamminomal! – wieder nicht alle insbrünstig die Natihymne mitgesungen haben.

Die Nostalgiker

Sie sind die Edelvariante der Gossip-Fraktion. Sie wissen noch was 54 passiert ist. Wissen, dass sich der Köbi einst aus dem Mannschaftshotel gestohlen und gefeiert hatte. Dass Fussballer mal lange Haare und kurze Shorts trugen und es ein Sport und kein Milliardengeschäft war.

Sie leben geistig in der Zeit, in der Karli Odermatt ein Grossverdiener war, Spieler ab und zu eine rauchten und echte Interviews gegeben haben. EM für EM und WM für WM erzählen sie sich und allen, die keinen anderen TV-Platz haben Geschichten, die sie selbst gar nicht erlebt haben, in die sie aber die unerfüllten Abenteuer ihrer eigenen Jugend hineindenken.

Fussball ist auch nur ein weiteres Symbol, das für ihr «Abgehängtsein» steht, das sie aber anders, als die Wutbürger nicht schlimm finden, weil sie es sich im Nostalgiewohnzimmer kuschelig eingerichtet haben.

Die auratischen Kunstbetrachter:innen

Fussball gehört eigentlich nicht zu ihrer Welt. Sport – mindestens Sport der über die Erhaltung einer für das Gehirn notwendigen Allgemeinfitness hinausgeht – allgemein nicht. Aber noch in diesen Niederungen der Populärkultur vermögen sie durch ihren an Schönem und Bedeutendem geschulten Blick das zu erkennen, was zeitlos bleibt: Ein besonderes Trikot, eine Geste, Roberto Mancinis Anzug. Oder die Architektur des Wembley-Stadions. Das Konzept der Nationalmannschaften interessiert sie nicht. Der Nationalstaat ist ohnehin ein gedanklich wie ästhetisch überwundenes Konstrukt. Sie diskutieren daher eher über neue Austragungsformen: Veganer gegen Karnivore, Quoten, mittels derer die Teams zusammengestellt werden – Geschlecht, Handicaps, BMI etc. – oder ein Spiel mit drei Bällen…

Die verhinderten Trainer:innen

Sie können über alle bisherigen Gruppen nur lachen. Die genaue Beobachtung von mindestens 3 verschiedenen Ligen erlaubt es ihnen, jede Aufstellung in Analogie zum Clubfussball und den Nationalmannschaften der vergangenen Jahre zu reflektieren. Sie sprechen nicht so sehr über Motivation, einzelne Spieler oder den Schiedsrichter. Eigentlich interessieren sie sich vor allem für die Trainer: Wie wechselt er ein? Ist die Einwechslung taktischer Natur? Welche Optionen hat er damit verworfen?

Fussball ist für diesen Typ eigentlich Schach mit cooleren Kleidern. Und kürzeren Partien. Aber eindeutig etwas, worüber man nur gelegentlich und nie vor dem zweiten Bier mit dem einfachen Pöbel spricht. Alle zwei Jahre träumen sie davon, dass ein aufgeregter, etwas ratloser Natitrainer bei ihnen anruft und um inoffizielle Hilfe bittet. Sie hätten wirklich gute Tipps. Ehrlich. Dass sie es beim Tippspiel wieder nicht in die vorderen Ränge schaffen, liegt daran, dass mehrfach falsch aufgestellt, eingewechselt und umgestellt worden ist. Die Elite dieser verhinderten Trainer:innen arbeiten als Studio-Expert:innen. Aber nur bis sie wieder einen Trainerjob erhalten.

Ja, es stimmt schon: Die Menschen reagieren ganz unterschiedlich auf die EM, die Nationalmannschaft und das ganze Drumherum. Aber wenigstens reagieren fast alle irgendwie. Und endlich auf etwas anderes als Corona. Und das ist schon der halbe Sommer.

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