Symbolische Befreiung
Am 1. September 1523 hielt Leo Jud alias Meister Leu als Leutpriester in St. Peter in Zürich die legendäre Bilderstreitpredigt. Im selben Jahr heiratete der Reformator eine ehemalige Nonne, Katharina Gmünder. Viele lösten sich damals aus religiösen und gesellschaftlichen Normen.
Leo Juds Predigt wurde leider nicht aufgeschrieben. Auszüge aber sind überliefert. Aus dem Alten Testament liesse sich klar beweisen, meinte der Reformator aus dem Zwingli-Kreis, «dass man die götzen uss den kilchen tuon sollte».
Sechs Tage später klirrte es in Züricher Gotteshäusern. Altäre fielen, Heiligenbilder wurden zerschlagen, «Ölgötzen» vernichtet. Der reformatorische Bildersturm war ausgebrochen. Und verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Die Zollikofener versenkten den Palmesel im See.
Was Menschen vor kurzem als Sakrileg erschienen war und schlechtes Omen, war plötzlich ein Befreiungsschlag. Im Schutz der Gemeinschaft wurde zuvor undenkbares möglich.
Noch im selben Monat wurde in Zürich die Schrift «Ein Urteil Gottes unsers Ee gemahels, wie man sich mit allen Götzen und Bildnussen halten sol» des Bibelübersetzers Ludwig Hätzer herausgebracht. Hätzer führt theologische Argumente gegen die Bilderkultur ins Feld, die wohl auch Leo Jud bemühte.
Das Frontispiz der bilderkritischen Schrift ist mit bildlichen Darstellungen üppig verziert: allerlei Fabelwesen, Putti und sogar Barbusige. Es wirkt wie ein (performativer) Widerspruch, wurde aber damals offenbar nicht so empfunden.
Die Stossrichtung der Streitschrift war nicht generell gegen Bilder gerichtet, wie heutige Klagen über digitale «Bilderflut». Sie richtete sich gezielt gegen bildliche Darstellungen von Gott und den christlichen Heiligen in Kirchen.
Eine neue, auf die Schrift und das Geistige konzentrierte Frömmigkeit löste sich von alten Formen, bei denen Idole, Bilder und Statuen eine Rolle spielten.
Ein Schlüsselbegriff der Hätzer-Schrift ist das lateinische «simulacrum». Der Reformator übersetzte es mit «bildnus» oder «gleychnus». (Nach 2. Mose 20,4) Er möchte – hierin woke avant la lettre – beides verboten sehen.
Näher bestimmen lässt sich Sumulakrum als ein wirkliches oder vorgestelltes Ding, das eine Ähnlichkeit oder Verwandtschaft mit etwas oder jemandem aufweist. Simulakren können Bilder, Abbilder, Spiegelbilder, Traumbilder, Sprachbilder, Götzenbilder, Trugbilder sein.
Simulakrum lässt sich positiv verstehen als Rahmen der Fantasie, in dem sich imaginative, kreative Prozesse entfalten. Oder negativ als trügerischer Schein oder Betrug. Abbildhaftigkeit ist auch religiös nicht per se negativ besetzt. Man denke an den «nach dem Ebenbild Gottes» geschaffenen Menschen.
Den Höhepunkt von Hätzers Bildpolemik bildet die rhetorische Frage, ob Bilder und «Ölgötzen» nicht «Mörder» seien. Sie würden nämlich «Seelen töten», indem sie sie von Gott abführen, ihrem «Ehegemahl».
Das reformierte Selbstverständnis speist sich bis heute aus dem religiösen Bildersturm. Die Ereignisse von vor 500 Jahren sind als Zierverzicht und «Reduktion auf das Wesentliche» identitätsstiftend geworden.
Bereits das Anzünden einer Kerze kann als ein Zuviel wahrgenommen werden.
Soziale Befreiung
Weswegen wurde in der Reformationszeit gerade auf das alttestamentliche Bilderverbot ein derartiger Nachdruck gelegt? Und nicht in gleicher Weise auf zahlreiche andere, ebenfalls biblische Gebote und Sittengesetze?
Überlagerte der Symbolkampf teilweise den sozialen Kampf? Sind damalige Spannungen gar vergleichbar mit heutigen Lagerkämpfen zwischen Kulturkämpfern und sozialen Reformern?
Die Obrigkeit liess Bilderstürmer teilweise gewähren. Die Sorge der Machthaber vor einer Sozialrevolution war gross. Nur kurze Zeit später begannen die Bauernkriege.
In ihrem Aufsatz «Warum ein Bilderstreit?» zur Zürcher Situation verorten Göttler/Jelzer die Ereignisse der Reformationszeit in einem weiteren soziokulturellen Rahmen.
Zu humanistisch-gelehrter Verachtung der Leistungsfrömmigkeit («Werkgerechtigkeit») seien ökonomische und soziale Gründe hinzugetreten. Das Klima sei durch verschärfte Armut und wachsende Unzufriedenheit mit der Obrigkeit angespannt gewesen; das Zerstören von Bildern symbolisch auch gegen deren reiche Stifter gerichtet gewesen. Ein Ventil habe die Karnevalskultur geboten.
Der Bilderkampf ist teilweise direkt aus der karnevalistischen Festanarchie entstanden. Spass kippte in Anarchie.
Ein wiederkehrendes Argument der Bilderstürmer lautete: Für die Ausstattung von «Ölgötzen» gibt es Geld, aber die Armen belässt man in der Not.
Mit dem Sturz der Andachtsbilder mussten die Menschen nicht länger für den aufwendigen Unterhalt von Kult und Klerus aufkommen. Das war befreiend. Gleichzeitig aber entfielen mit den Heiligen auch ein grosser Teil der Feiertage.
Ausuferndes Feiern war sittenstrengen Pfarrern und Theologen ein Ärgernis. Aber auch Handwerker und Unternehmer sahen Gesellen und Mägde lieber bei der Arbeit als beim Tanzen.
Am Ende des Prozesses war der Jahreskalender für die arbeitende Bevölkerung um 30 Ruhetage ärmer.
So liesse sich der Bildersturm zwischen spätmittelalterlicher Frömmigkeit und anbrechendem Frühkapitalismus auf der Grundlage des protestantischen Arbeitsethos verorten, argumentieren die Autoren. «Erwerbsfleiss und Sparsamkeit» seien zu Grundtugenden einer neuen, nunmehr «innerweltlichen Askese» geworden.
Als wahres Sakrileg gilt bis heute nicht die Bilderzerstörung, sondern die Bücherverbrennung. Nicht das Bild, die Schrift gilt der Schriftkultur als heilig.
Innere Befreiung
Einige vor 500 Jahren aufgeworfene Fragen stellen sich noch heute: Welche Medien sind nützlich und was lenkt bloss ab? Was erschwert es, zur Besinnung zu kommen und zur Realität, die wir göttlich nennen? Welcher Gewohnheiten sollten wir uns entledigen?
Nach Auffassung humanistischer Bilderskeptiker schieben sich «Götzen» zwischen die Kommunikation mit dem Heiligen. Die Wirklichkeit wird medial verdoppelt durch Simulakren.
Die Humanisten nannten es «Narrheit», wenn Zeitgenossen vor hölzernen Schutzheiligen Kerzlein anzündeten und sich die Prozedur der Auseinandersetzung mit der eigenen Seele ersparten. Oder wenn vergoldete Altäre gestiftet wurden, vermeintlich für das Seelenheil, aber die Stifter weitermachten wie bisher.
Humanisten wie Erasmus von Rotterdam oder Sebastian Brant («Das Narrenschiff») und Reformatoren wie Leo Jud oder Ludwig Hätzer bedienten sich der damals neuesten Medien und reflektierten zugleich deren Wirkung. Sie hatten ein feines Sensorium dafür, was von Wesentlichem ablenkt, weil es innerlich unfrei macht.
Der von Hätzer aufgegriffene Begriff Simulakrum wurde sehr viel später, im 20. Jahrhundert, zu einem Schlüsselbegriff postmodernen Bildtheorie. Jean Baudrillard entwickelte in den 1970er Jahren eine «Theorie der Simulation». Es existiere, meinte Philosoph, nichts Reales mehr außerhalb medialer Zeichensysteme.
In unserer digitalen Gegenwart können wir zwischen Simulakren und Realität immer schwerer unterscheiden. Wir erschaffen Avatare als digitale Doppelgänger und chatten mit Bots. Wir inszenieren unser Leben in Sozialen Medien mit fantastischen Bildern, mit denen die Realität nicht mithalten kann. Wir gehen in Museen und fotografieren Kunst, damit wir uns nicht näher damit auseinandersetzen brauchen. Wir investieren mehr Zeit ins Checken von Mikronachrichten und Kurzvideos als ins Nachdenken über sinnvolle Zusammenhänge.
Künstlerische Befreiung
Ikonoklasmus, also die Zerstörung heiliger Bilder, erzeugt seinerseits mächtige Bilder. Deswegen interessiert das Prinzip auch Künstler:innen. Avantgardisten forderten im 20. Jahrhundert die Zerstörung sogar ganzer Städte wie Paris oder Venedig, um Raum für Neues zu schaffen.
Bilder der Sprengung der riesigen Bamiyan-Buddhastatuen 2001 durch Taliban-Kämpfer gingen binnen Sekunden rund um den Globus. Während der chinesischen Kulturrevolution wurden Kultbilder in grossen Mengen zerstört. Für den Kunsthistoriker Philipp Kleinmichel ein «typisch avantgardistischer Akt»:
«Das Moment der völligen kulturellen Zerstörung und Auslöschung, das eben selbst ein Moment der Kultur ist, macht deutlich, dass alle heutigen Formen der Kultur nicht mehr existieren, weil es sie immer schon gab, sondern weil man sich nach dem Nullpunkt für sie entschlossen hat. Es handelt sich um Objekte in einer neuen Welt und Kultur, die durch die historische Unterbrechung der Kulturrevolution für immer von der alten Welt getrennt bleiben wird.»
Anlässlich des 500. Jubliläums der Bildersturmpredigt bringt das Zürcher Cabaret Voltaire in einem Theaterstück den Wörterstürmer des Dada Hugo Ball mit dem Bilderstürmer Leo Jud in ein fiktives Gespräch. Auf einer Textgrundlage von Ueli Greminger (erschienen als TVZ-Buch). Uraufführung von «balljud» ist pünktlich am 1. September 2023.
Titelbild von Kyrylo Kholopkin auf Unsplash
Bildergalerie: Berner Skulpturenfund, in den 1980er-Jahren entdeckt bei Sanierungsarbeiten auf der Berner Münsterplattform in 14 Metern Tiefe; die rund 500 Fragmente entstammen dem Bildersturm von 1528.
Porträt des Reformators Leo Jud.