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 Lesedauer: 5 Minuten

Shitstormtruppen

«Karl-May-Bücher sind verboten worden!», bemerkt eine Bekannte neulich beim Apéro in einer Mischung aus Empörung und Die-Welt-ist-komplett-verrückt-geworden-Attitüde. Woher sie das habe? «Irgendwo aus dem Internet». Wir werfen ein, wir hätten eine andere Version gehört: Der Ravensburger Spieleverlag habe nach Kritik und internen Diskussionen beschlossen, Merchandisingprodukte zum neuen Winnetou-Kinderfilm vom Markt zu nehmen. «Ach so», sagt die Frau.

«Die spinnen komplett!»

Der kleine Wortwechsel belegt: Aus dreieinhalb eilig im Internet zusammengelesenen Überschriften lassen sich «Neuigkeiten» zusammenbrauen, die nicht nur schlichte Gemüter nicht mehr aus dem Kopfschütteln herauskommen lassen. Das ohnedies schwelende Gefühl verstärkt sich: Ich lebe in einer aus dem Ruder laufenden, unverständlich gewordenen, ja verrückten Welt.

Bemerkenswert: Bücherverbote werden in westlichen Demokratien inzwischen für möglich gehalten. Wer zensiert? Hier bleibt die Vorstellung oft vage: irgendwelche Woken, Spinner eben.

Nun liegt für den jüngsten Shitstorm, den Winnetou-Shitstorm, dankenswerterweise bereits eine detaillierte Medienanalyse vor. Erstellt wurde die Hypeanalyse vom Marketingunternehmen Scompler und sie ist auf dessen Internetseite nachzulesen. Ihr Titel: «Der erfundene Shitstorm: Chronologie eines Medienversagens». Das Unternehmen zählt die Deutsche Bahn, Nestlé oder die Techniker Krankenkasse zu seinen Kunden und ist nicht verdächtig, ein wokes Sprachrohr zu sein.

Laut der Studie hat es rund um Winnetou keinen «woken Shitstorm» gegeben, dafür einen «anti-woken Shitstorm».

Anti-woker Shitstorm

«Nach Auswertung der Daten aus dem Internet mit dem marktführenden Analyse-Tool Talkwalker zeigt sich, dass die aktuelle Diskussion um Winnetou eine perfekte Scheindebatte ist, die aber echte Wirklichkeit kreiert. Die Hysterie über die angebliche Diktatur politisch überkorrekter Minderheiten und eine angebliche Bedrohung der Demokratie im Zusammenhang mit Winnetou erweist sich als substanzlos: Aus den Daten lässt sich keinerlei signifikanter und illegitimer öffentlicher Druck durch irgendwelche Aktivisten auf Ravensburger belegen.»

Ein Instagram-Posting von Ravensburger am 11. August 2022 über den Auslieferungsstopp eines Winnetou-Filmbegleitbuchs aufgrund von Kritik ist nach der von Scompler erstellten Chronologie des «erfundenen Shitstorms» weitgehend unbeachtet geblieben. Erst als zehn Tage später die zum Springer-Verlag gehörenden Medien bild.de und welt.de das Thema in verzerrter und mit Unterstellungen gewürzter Form publik machten und andere Medien abschrieben und von einem Shitstorm wissen wollten, kam es zum Shitstorm. Medien unterstellten, der Verlag sei gegenüber linken Moralaposteln eingeknickt. Nach nur einer Woche gab es bereits weit mehr als 100 000 Beiträge.

Künstlich angeheizt

Nach einem Abflauen der Berichte und Kommentare befeuerte die «Bild» mit einer weiteren Meldung die Winnetou-Hysterie erneut. Das Boulevardmedium meldete auch, der öffentlich-rechtliche Fernsehsender ARD wolle keine Winnetou-Filme mehr zeigen, weil das Wort «Indianer» als rassistisch gelte. Der Sender hatte allerdings bereits vor zwei Jahren entschieden, Winnetou-Filme nicht mehr weiter zu lizenzieren: aus Kostengründen. Die Filme werden aber weiterhin vom Schwestersender ZDF ausgestrahlt. Die «Bild»-Falschmeldung wurde inzwischen gelöscht.

Angeheizt worden ist der Winnetou-Shitstorm laut Scompler massgeblich von «klassischen Medien». Der Internet-Tsunami war ein Sekundärphänomen. Der Ausdruck Shitstorm bedeutet übrigens im Englischen und Amerikanischen etwas anderes als im deutschen Neusprech, wo ein internetbezogenes Phänomen der Hasskaskaden gemeint ist. Im Englischen klingt der Ausdruck vulgär.

Als die deutsche Exkanzlerin Angela Merkel den Ausdruck Shitstorm in eine englische Rede einflocht, sorgte sie im angelsächsischen Raum für Irritationen.

Digitale Gewalt

Die Boulevardnachricht über angebliche Winnetou-Zensur durch durchgeknallte Woke wurde von rechten Internetaccounts begierig aufgegabelt. In rasender Geschwindigkeit wurde ge- und retweetet. Um intellektuelle Auseinandersetzung ging es kaum, sondern um Lagergefechte. Tweets wurden von selbsternannten Infokriegern mit dem Zweck gestreut, Missfallen zu provozieren («Wie blöd kann man sein?», «Die spinnen komplett!»). Follower einschlägiger Accounts verstanden die Message sofort und begannen im Sekundentakt zu kommentieren. Die woke Crowd hielt dagegen. Der Shit- oder Hatestorm war in vollem Gange.

Politiker:innen, die sich etwa für Asylanten und Migranten einsetzen, kennen die rechte Shitstormdynamik bestens. Shitstormbetroffene sind beängstigenden Kulminationen digitaler Gewalt ausgesetzt. Zu Halbwahrheiten und Häme  gesellen sich Lügen. Ob mitunter sogar eine regelrechte Lie Economy hinter verzerrten Behauptungen und gezielten Desinformationen steckt, wage ich nicht zu beurteilen.

Shitstorms sind bei näherer Betrachtung aber oft weniger gewaltig als sie scheinen.

Häufig wird die Dynamik nicht von zehntausenden Hatern befeuert, sondern von ein paar hundert hyperaktiven und allerdings ausgesprochen aggressiven Accounts. HateAid ist eine Beratungseinrichtung, an die sich Betroffene wenden können.

Durchschaubare Dynamik

Ein paar Krümel des abebbenden anti-woken Winnetou-Shitstorms habe sogar ich abbekommen. Ein Kommentator reagierte auf meinen Beitrag mit dem Titel «Woher kommt das Indianerklischee und wieso ist das ein Problem?» auf YouTube prompt mit der pauschalen Bemerkung: «Der Autor spinnt wie das ganze grüne gelumpe». Während andererseits eine woke, besorgte Nachfrage kam, ob ich denn das «I-Wort» in «Indianer-Klischees» bewusst verwenden würde. Aktivist:innen würden das I-Wort generell vermeiden.

Der «erfundene Shitstorm» um Winnetou ist ein eindrückliches Lehrbeispiel für sich perpetuierende Medienhysterie. Mit gründlichen Medienanalysen aber lässt sich immer genauer ermitteln, aus welcher Richtung der Dreck fliegt. Und durchschaute Dreckstürme verlieren ihren Wums.

Das Satiremagazin «Der Postillon» meldete übrigens kürzlich, die «Bild»-Zeitung müsse künftig im Sondermüll entsorgt werden, da die «Mischung aus Hetze, Lügen und Kampagnenjournalismus» inzwischen eine so hohe Toxizität angenommen habe, «dass eine Entsorgung über den bei Zeitungen sonst üblichen Papiermüll nicht mehr akzeptabel» sei.

Photo by Roman Skrypnyk on Unsplash

3 Kommentare zu „Shitstormtruppen“

  1. Johann Hinrich Claussen

    Wohltuend und notwendig ist dieses Stück Aufklärung, vielen Dank! Wichtig scheint mir, dass viel mehr Menschen sich von solchen Falschmeldungen gar nicht mehr ansprechen lassen. Ein präzises Desinteresse wäre eine gute Gegenwehr.

  2. Präzises Desinteresse ?
    Die Problematik, die zugrundeliegt, ist doch wohl eine andere.
    Ravensburger hat eine Shitstorm wahrgenommen. Deshalb stehen die nicht mehr zur Romanfigur Winnetou und zu Karl May.
    Die Behauptung ist doch gerade, dass die sich feige vor einem (vermeintlichen) Shitstorm weggeduckt haben, statt den Autor und sein Anliegen zu verteidigen.

    Das ist doch gerade festzustellen. Das Literatur für Jugendliche wie Erwachsene systematisch gesäubert wird, wie auch in „1984“ beschrieben.
    Da wurde auch alles umgeschrieben, auch jede Tageszeitung, wenn im Original Leute vorhanden waren, die im Nachhinein in Ungnade gefallen sind.

    Ist Ravensburger vor einem Shitstorm eingeknickt, den es gar nicht gab ? Erst haben die die Bücher vom Markt genommen. Dann hat man die als feige bezeichnet. Wenn es keinen Shitstorm wegen Karl May gab, dann könnten die die Bücher doch einfach wieder auf den Markt bringen.

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