Less noise – more conversation.

 Lesedauer: 7 Minuten

#selfcare, zweiter Teil

Vielleicht dachtest du bei unserem ersten Teil über Selbstsorge: Wie banal. Logisch stehe ich am Morgen auf. Logisch rede ich mit meinen Liebsten. Langweilig. Möglicherweise hat sich das inzwischen geändert. Vielleicht beginnst du zu merken, aha, so einfach ist das alles gar nicht. Super banal, simpel, ja, aber nicht einfach.

Denn wenn sich die Stimuli von aussen reduzieren – kein Apéro mit Freunden auf dem Idaplatz, kein Posten von Frühlingschleidli, kein Znachtkochen mit andern, kein chum mir gönd go wandere, kein Yogastudio, kein was auch immer Menschen tun ausser arbeiten – was bleibt dann übrig?

Viele von uns sind zudem eingeschränkt im Ausüben ihrer Arbeit; die meisten arbeiten von zuhause. Unser Bewegungsradius hat sich drastisch verringert.

Auf sich selbst zurückgeworfen sein

Was bleibt? Jep. Du und deine Gedanken. Du und deine Sorgen. Du und deine Geschichten. Natürlich, vielleicht sind da noch Kinder und Partner*innen – die genauso plötzlich auch mit sich selbst konfrontiert sind.

Für Kinder ist es wahrscheinlich am schwierigsten, denn wie sagt man 3-Jährigen, dass sie jetzt nicht mehr mit andern spielen können? Zumindest in meiner Nachbarschaft scheint das nicht soooo gut zu funktionieren; die Kinder rennen genauso wie jeden Frühling draussen herum. Was aber, wenn man an Orten wohnt, wo die nicht einfach vor dem Haus andere Kinder treffen und sich bitz austoben können?

Freunde von mir aus Chicago schicken mir Videos von Parcours, die sie ihren Kindern in der Wohnung bauen. Erzählen von Tobsuchtsanfällen, nicht nur auf Seiten der Kinder. Davon, dass einfach so nichts passiert, an diesen Tagen.

Es wird lauter im Kopf

Schön passt dazu die Glosse im letzten Magazin der NZZ am Sonntag, in der Roger Federer in einer fiktiven Psychoanalysesitzung von seinem eskalierten Ehestreit erzählt – weil er sich plötzlich intensivstens mit seiner Frau und Familie auseinandersetzen muss.

Doch egal, ob da noch andere im Haushalt sind oder nicht: Für manche ist diese Zeit vielleicht das erste Mal, in der sie ihren Kopf lauter hören als sonst. Denn das Gedankenkarussell dreht die Lautstärke auf, wenn weniger Ablenkung von aussen da ist. Angenehm ist das nicht, wenn wir uns mal darauf einlassen, wüki zuzuhören. Inmitten von allem «was koch ich mir heute zum Znacht» und «ich sollte doch mal wieder meine Haare waschen» hören wir vielleicht plötzlich die tiefer liegenden Stimmen von «du bist faul, du taugst nichts» oder «niemand will dich» oder «du bist ein schlechter Mensch».

Es braucht etwas Ruhe, damit wir die überhaupt wahrnehmen können. Im Alltagsgelärm ist es viiiel einfacher, die zu überpinseln. Doch glaub mir, alle von uns tragen solche Stimmen herum. In Variationen, klar. Aber wer sich darauf einlässt, mal wüki hinzuhören, entdeckt en Huufe davon. Konditionierung undso, Erlebnisse aus frühster Kindheit, Traumata. (Wer mehr darüber erfahren möchte, wie sich das im Körper auswirkt und unseren Alltag beeinflusst, dem kann ich Bessel van der Kolks Buch «Verkörperter Schrecken» nur empfehlen.)

Wir sitzen alle im selben Boot

Was tun mit damit? Nun, als erstes hilft es zu wissen, dass es uns allen gleich geht. Manche sind sich des Gedankenkarussells bewusster als andere, für manche ist es unangenehmer als für andere. Für alle gilt aber: Es ist OK, dem für einen Moment nicht auszuweichen. Sich für einmal nicht davon abzulenken. Sondern sich mal damit auseinanderzusetzen. Vielleicht zu lernen, dass wir nicht zwingend darin untergehen.

Viele von unseren sozialen Aktivitäten sind doch letztlich genau das: Ablenken davon, wie ungern wir alleine sind, alleine mit unserem Gschmöis. Erfüllen von vermeintlicher Verpflichtung. Wer liebt uns, wenn wir nicht xyz für andere tun? You get the picture.

Konkrete Tipps – Ergänzung zum Einmaleins der Selbstsorge

Also. Was tun?

  1. Anerkennen, dass es nicht anders sein muss. All diese Stimmen dürfen hier sein. Es darf unangenehm sein. Wer hat gesagt, das Leben sei immer nur Regenbogen und Einhorn? Es ist OK, dass es Scheisse ist. Es ist OK, sich Scheisse zu fühlen.
  2. Atmen. Äfach nur schnuufe. Spüren, wie sich der Bauch ausdehnt und zusammenzieht. Die Aufmerksamkeit auf die Bewegung des Atems im Körper bringen. Weg vom Gedankenstrom. Merken, aha, ich bin nicht meine Gedanken. Aha. Es gibt eine Wahlmöglichkeit, ich bin den Gedanken nicht hilflos ausgeliefert. Immer und immer und immer wieder zu üben hilft dabei, neue Wege im Hirn zu bauen. Holy Embodied bietet verschiedene Hilfestellungen dabei: Atemübung, Yoga oder Meditation.
  3. Mega mega mega lieb sein mit sich selber. Sich selber so behandeln, als wäre es die beste Freundin. Das herzigste Büsi. Ein Kind, das du über alles liebst. Dieselbe Grosszügigkeit, die wir oft für andere finden, auch für sich selber finden.
  4. Das kann konkret heissen, dass du für dich selbst Festmähler kochst. Gerade wer alleine wohnt, kennt vielleicht die Stimme, die meint «Was wotsch etz für dich elei so vill Ufwand ha? Iss doch äfach igendöppis». Aber igendöppis für ein paar Tage kumuliert sich zu einem gigantischen Unwohlseinsknäuel. (Je nach Sensibilitätslevel mehr oder weniger schnell, natürli.) Kochen ist ein super banaler und einfacher Weg, die Aufmerksamkeit auf Gerüche, auf ein Tun mit den Händen zu lenken. Und sich dabei erst noch gut zu ernähren.
  5. Sei achtsam mit der Zufuhr von Zucker und Alkohol: Sorry to be a party pooper, aber es ist leider so, dass ein Zuviel an Zucker und Alkohol uns nicht guttut. Gerade in Zeiten, in denen wir so getriggert sind wie jetzt. In denen das Kollektiv global am Brodeln ist, egal ob du das spürst oder nicht. Erdung und Wohlbefinden sind volatiler als sonst. Ein paar Tage zu viel Prosecco und Oschterhase und zägg, wir sind plötzlich mudrig, fühlen uns schlecht.
  6. Geh mit dir selber spazieren: Nimm dich selber mit, entdecke neue Wege in deiner Nähe, auf denen vielleicht nicht auch noch alle anderen unterwegs sind. Finde Lieblingsbänkli in der Natur, einen Lieblingsort, um dich ins Gras zu legen.
  7. Finde eine Form von Bewegung, die für deinen Körper funktioniert. Das hatten wir bereits, lohnt sich aber zu betonen: Der Körper findet Bewegung geil. Der braucht das. Es muss ja nicht gleich crossfit sein. Vielleicht reicht Spazieren. Viele Tanzstudios bieten Stunden online an, auch viele Yogastudios. Probier aus.
  8. Wenn du einfach nur extrem hässig bist, dich gerne auf den Boden werfen würdest wie ein 2-Jähriger in einem Tobsuchtsanfall, wenn du gerne alles und alle anschreien würdest: Geh Glas entsorgen! Schmettere dein Altglas mit Verve in den Container! Spüre die Befriedigung bei jedem Scherbele. Nebenbei recycelst du au na – win win. (Patrick und ich haben kürzlich über Wut und deren Kraft geredet, hier kannst du das nachhören.)
  9. Verbringe nicht den lieben langen Tag online. Die Versuchung, alle Entwicklungen zu #corona und #stayhome mitzuverfolgen ist vielleicht gross. Weil wir würden ja gerne wissen, wann das wieder vorbei ist, nödwahr. Doch Nachrichten und die sozialen Medien können unsere getriggerten Schmerzkörper (ein Ausdruck von Eckhart Tolle, seine Bücher kann man im Moment eigentli au ganz gut lesen – oder diese Sendung hören) zusätzlich füttern. Gib deinem Hirni, dir und deinem Telefon und Computer eine Pause.
  10. Wenn du in einer Stadt lebst, nutze das Kirchenglockengeläut um 11 und/ oder 19 Uhr, um einen Moment Pause zu machen. Höre die verschiedenen Glocken und nimm deren Schwingungen wahr. Atme. Lüfte deinen Kopf.
  11. Und zu guter Letzt: Finde jeden Tag etwas, was dich zum Lachen bringt. Es bringt niemandem etwas, wenn du dir den Kopf darüber zerbrichst, was die aktuelle Situation wohl für weniger privilegierte Länder und Menschen bedeutet. Du kannst deren Situation nicht ändern. Nicht unmittelbar zumindest. Aber du kannst in deinem Handlungsradius dazu beitragen, dass unsere Quartierlädeli nicht untergehen. Dass unsere Tanzstudios nicht schliessen müssen. Dass es das Kafi auch nach dieser Pandemie noch gibt. Aber, was ich eigentlich sagen wollte: Lach! Lachen zerschlägt die Enge des Schmerzkörpergebildes oftmals sofort.

Es gibt genügend Memes zur aktuellen Situation, vielleicht teilst du das eine oder andere mit deiner Familie oder Freunden. Das eine oder andere, nicht ALLE STÄNDIG NUMENA, gäll 😉

Hast du Fragen? Weitere Tipps? Möchtest du mehr Unterstützung dabei, dich zu bewegen? Ich bin erreichbar unter deborah.sutter@reflab.ch.

 

2 Kommentare zu „#selfcare, zweiter Teil“

  1. Evelyne Baumberger

    Sooo guet, liebi Deborah! Altglas entsorgen ist mein All-time-favorite, um Aggressionen loszuwerden. Und aktuell mache ich auch grad eine Woche alkoholfrei. Aber sonst finde ich in deinem Artikel noch ein paar super Tipps. Danke vielmal <3

  2. Muss nur etwas widersprechen, ansonsten sicher interessante Anregungen (Wie z.B. der Nutzen/Nebeneffekt der Altglas-Entsorgung…)
    Bei 11.: „Es bringt niemandem etwas, wenn du dir den Kopf darüber zerbrichst, was die aktuelle Situation wohl für weniger privilegierte Länder und Menschen bedeutet. Du kannst deren Situation nicht ändern.“ Letzter Aussage widerspreche ich, wenn alle so denken, dann verändert sich wirklich nichts. Aber wenn nur schon ein paar anders denken, sind es wenigstens ein paar Tropfen, die das Leben von ein paar Menschen verändern. Und wenn Du dieser Mensch wärst, würde es einen Unterschied machen, oder?!
    Konkret kann man z.B. aktuell für die Hilfe auf Lesbos spenden oder auch für die Flüchtlinge in Syrien (IBAN: CH40 0079 0016 5902 3311 1 // SWIFT: KBBECH22XXX
    Bank/Bank: Berner Kantonalbank BEKB, Bundesplatz 8, 3001 Bern
    Begünstigter/Empfänger: Evangelisch-reformierte Kirche Schweiz EKS, Osterkollekte 2020-Nothilfe, Sulgenauweg 26, Postfach, 3001 Bern)
    und an vielen anderen Orten der Welt macht es auch einen Unterschied!

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