Wer oft im Internet unterwegs ist, findet auf der Suche nach Inspiration eine Menge Sonnenuntergänge und motivierende Zitate von großen, aber meist toten Schriftstellern. Im Grunde genommen sind alle Geschichten, die mich dazu anregen sollen, doch unbedingt mehr aus meinem Leben zu machen, Erfolgsgeschichten. Die klassische vom Tellerwäscher zu Klickmillionär. “In unter drei Jahren kannst auch du es schaffen, wenn du dir nur mal so richtig anstrengst, netzwerkst bis du auf dem Zahnfleisch gehst und genug Wasser trinkst. Dann funktioniert das schon mit der eigenen Erfolgsgeschichte.”
Dann kannst du dich entspannt zurücklehnen und selbst Fotos von Sonnenuntergängen posten. Und solange sie nicht gestorben sind, netzwerken sie noch heute.
Nein. Nicht mit mir! Um ehrlich zu sein, finde ich nichts uninspirierender als eine Erfolgsgeschichte. Die Langeweile, die so eine Geschichte hervorbringt ist nicht nur vorhersehbar und lahm, sondern auch schlicht und ergreifend eine Form von Realitätsverzerrung.
Wer sagt, dass ich mich nur genug anstrengen muss, um etwas im Leben zu erreichen, hat mich noch nie singen gehört.
Auch auf die Gefahr hin, dass ich jetzt Popstar-Träume zerplatzen lasse – es gibt einfach Dinge im Leben, die kann man nicht so gut wie andere. Und wieder andere Dinge kann man dann, wenn man sie jahrelang geübt hat. Aber vorher scheitert man acht Millionen Mal an ihnen.
Scheitern als kleinster gemeinsamer Nenner
Ich habe da eine Theorie: Scheitern ist der grösste kleinste gemeinsame Nenner aller Menschen. Seitdem wir geboren werden, scheitern wir tagtäglich an Dingen, die wir versuchen. Wir müssen viele Dinge erst lernen, bevor wir sie beherrschen.
So betrachtet ist das Leben ein ständiges Scheitern an den eigenen Vorstellungen.
Und trotzdem ist unser Scheitern nicht etwas, das wir uns stolz auf die Fahne schreiben, denn es heißt ja eigentlich nur, dass wir etwas probiert haben. Nein, wir schämen uns lieber für unser Scheitern.
Egal ob in der Schule, im Beruf oder der eigenen Beziehung: Wer hier scheitert, hat versagt. Das sagen alle, also muss ja was dran sein. Selbst in der Freizeit (!) haben Menschen Angst davor, zu scheitern, und wissen deswegen nicht, wie viel Spaß es macht, richtig schlecht zu singen, oder völlig darin zu versagen, ein Pferd zu malen. Alles ist ein Wettbewerb und wer nicht mitmacht, scheitert dafür auch nicht.
Wie kleinkariert muss man sein, um etwas nicht zu probieren, nur weil man Angst davor hat zu scheitern? Ich würde sagen: völlig normalkariert. Denn ich vermute weniger die Angst vor dem Scheitern selbst als Grund, sondern die Angst davor, für das Versagen verachtet zu werden. Kleiner Spoiler:
Wer Menschen dafür verachtet, dass sie an Dingen scheitern, verachtet sie eigentlich dafür, dass sie Dinge versuchen, die nicht auf Anhieb klappen wollen.
Das ist klitzekleinkariert.
Scheitern hat Applaus verdient
Für mich ist es absurd, dass man Applaus bekommt, wenn etwas gelingt, dabei hat man es oft härter versucht, wenn es in die Hose geht. Scheitern steht in unserer Gesellschaft bis heute mit Scham in Verbindung. Wer Leistung bringt, wird nicht nur mit einem Gewinn belohnt, sondern auch mit Anerkennung überschüttet.
Wer scheitert, hat eben nicht genug gegeben. Wer scheitert, ist nicht genug.
Ich sage: Schluss mit dem Quatsch! Wo ist der Applaus für Leute, die mit aller Kraft etwas versucht haben, aber am Ende doch gescheitert sind? Sich einzugestehen, dass man an einer Beziehung, einer Aufgabe oder einem Ziel gescheitert ist, ist mindestens genauso, wenn nicht noch gefühlsintensiver als Gewinnen und Bestehen.
Außerdem lernen wir nur, wenn wir etwas falsch machen, wie es richtig funktioniert.
Aus den richtig fiesen Geschichten übers Scheitern können wir so viel mehr lernen als aus den üblichen Gewinnergeschichten.
Wer denkt, dass er mit seinem Scheitern allein dasteht, hat mich erstens noch nicht malen sehen und vergisst zweitens, dass wir erst dann menschliche Gemeinsamkeiten finden, wo wir uns verletzlich zeigen. Scheitern ist nämlich so normal wie atmen. Die größten Erfolge der Menschheit gäbe es gar nicht, wenn nicht eine Reihe von sehr klugen Menschen sehr oft gescheitert wären, bis sie es endlich richtig hingekriegt haben.
Wir müssen uns wirklich langsam mal von der Vorstellung lösen, dass man sich dafür schämen muss. Daran ist genau gar nichts schamvoll. Natürlich ist das Scheitern an den eigenen Erwartungen oder Vorstellungen nicht schön. Es ist sogar schmerzvoll, aber Wachstum tut auch weh.
Mehr Geschichten vom Scheitern für mehr Inspiration
Wenn sich mehr Menschen ein Herz fassen würden und ihre grandiosen Geschichten vom Scheitern öfter mit der Menschheit teilen würden, könnten wir endlich eine Vielfalt von Katastrophen, Begleitumständen und Unglücken hören, die uns allen als Warnung und als Beispiel – und sei es nur als abschreckendes – dienen könnten. Wir müssten nicht mehr den ganzen Tag auf Sonnenuntergänge starren und auf Inspiration hoffen. Und die Dichter hätten auch endlich mal Ruhe in ihren Gräbern, weil nicht alle zwei Minuten ihre Zitate verunglimpft würden, um für uns ein mittelgutes Beispiel abzugeben.
Im Scheitern zeigen sich die wahren Heldinnen und Helden, denn wer hört denn nicht gerne eine gute, grauenhafte Geschichte, in der jemand das, was er will, nicht bekommt?
Alle lieben doch den Underdog. Wir möchten doch alle gerne ums metaphorische Feuer sitzen und uns Geschichten von Misserfolgen anhören, weil wir wissen, dass es trotzdem immer Hoffnung gibt.
Wer im Leben immer nur gewinnt, hat halt immer nur gewonnen. Besonders aufregend ist das ja nicht. Und gelernt hat man dabei auch nichts. Sich trauen, im Leben auch mal so richtig zu scheitern, scheint mir ein guter Weg zu sein, um herauszufinden, wer man eigentlich ist und was einem im Leben wichtig ist. Scham, Schuld und Selbsthass stehen nur mit dem Scheitern in Verbindung, weil wir das so zulassen.
Scheitern heißt auch nicht automatisch Versagen. Scheitern ist der Normalfall. Es ist der Weg, zu lernen und zu wachsen. Das wussten auch schon eine Menge kluge Leute vor uns. Ich nehme mir daran ein Beispiel und singe weiter fröhlich schief. Vielleicht scheitere ich ja eines Tages nicht mehr daran, den richtigen Ton zu treffen. Vielleicht beim acht Millionsten und ersten Mal.
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1 Gedanke zu „Schamlos Scheitern für Anfänger“
Danke für diesen Text. Fröhlich scheitern und darüber reden scheint mir ein sinnvoller Lebensentwurf. Ich wünsche uns allen Mut dazu.