Dein digitales Lagerfeuer
Dein digitales Lagerfeuer
 Lesedauer: 4 Minuten

Schäm dich!

Erinnere dich an einen Moment, in dem du dich für etwas, das du getan hast, geschämt hast.

Geh in den Erdboden zurück, in dem du versinken wolltest. Haben dir die Wangen gebrannt – vor Röte, vor Hitze, die in dir aufgestiegen ist? Kribbeln dir heute noch die Fingerspitzen?

eine Momentaufnahme

Ein Septembermorgen vor zwei Jahren. Irgendwie ist im September immer mehr los, als der Sommer noch vermuten ließ. Ich schmeiße den Talar auf den Beifahrersitz und lege mein Zeug daneben. Drei Kilometer mit dem alten Bus. Gefällt dem Diesel mal so gar nicht, diese kurzen Strecken.

Im Gemeindebüro noch ein Streit, auf der Bühne dann lächeln und Luftballons. Meine Nachbarin macht ein Foto, sie schickt es mir kurz darauf. Ich sehe fröhlich aus.Was meine Nachbarin auf dem Foto nicht sieht: Ich schäme mich.

Nicht, weil ich einen Fleck auf dem Talar oder die falschen Schuhe angezogen habe. Nicht für den Streit im Büro oder etwas Falsches, das ich gesagt habe. Keine Kleinigkeiten, die eben passieren, die spätestens übermorgen schon wieder vergessen sind. Meine Scham ist grundlegend und tiefgreifend.

Ich schäme mich, weil ich das Gefühl habe gescheitert zu sein. Oder anders formuliert: Ich habe mich nicht verlaufen, ich habe mich verrannt. Gänzlich im Leben.

ein Zwischenfall

Acht Monate zuvor lag ich in meinem Arbeitszimmer auf dem Boden. Die Fenster sind aufgerissen, die Büromitarbeiterin nebenan kontrolliert regelmäßig meinen Zustand. Ich habe eine Panikattacke, aber das weiß ich zu dem Zeitpunkt noch nicht.

Auf die Panikattacke folgt eine Krankschreibung mit diversen Diagnosen, danach ein Aufenthalt in einer Tagesklinik für zwei Monate, dann weitere Wochen krankgeschrieben, bis ich wieder zwei Stunden am Tag arbeite. Das war Mitte Juni.

Mitte August weiß ich, dass ich vorerst nicht mehr als Pfarrerin arbeiten werde. An einem Septembermorgen halte ich den letzten Gottesdienst in meiner Gemeinde, bei dem meine Nachbarin ein Foto von mir macht. Ich sehe fröhlich aus.

Dabei schäme ich mich. Weil ich das Gefühl habe, Menschen im Stich zu lassen, und das macht man nicht, das mache ich nicht. Ich schäme mich, weil ich nach anderthalb Jahren als Pastorin das Gefühl habe, versagt zu haben.

Scham macht, dass ich mich schlecht mit mir fühle.

Wie fühlt sich die Scham in deinem Körper an? Gibt es etwas wofür du dich schämst?

eine Schuldzuweisung

In meinem Kopf gebe ich mir selbst immer wieder die Schuld daran, krank geworden zu sein. Ich habe studiert, mich verschuldet, übergriffige Beurteilungen auf mich genommen, das ganze über fast zehn Jahre hinweg, nur um dann nach kurzer Zeit im Pfarramt festzustellen, dass ich meiner Vorstellung von meinem Beruf anscheinend nicht gerecht werde.

Meine Scham zeigt mir mehr als deutlich, was ich alles falsch gemacht habe. Worin ich besser hätte sein müssen. Wenn ich zu impulsiv, zu kreativ, zu anders, zu wenig angepasst war. Denn so funktioniert Scham. Ich schämte mich dafür, meinen eigenen Ansprüchen nicht zu genügen, dem Idealbild, das ich von mir in meinem Beruf hatte.

Während ich gleichzeitig meine Kolleg:innen sah, die anscheinend keine Probleme hatten. Ich schämte mich nicht nur für mein Versagen, ich war auch ziemlich allein damit. Immer wieder: Ich bin hier falsch, ich mache die Dinge nicht richtig, ich genüge nicht. Das hat meinen Kopf kaputtgemacht.

eine Erkenntnis

Mein verzerrtes Selbstbild inklusive übermäßiger Scham ist eines von vielen Symptomen der Depression, mit denen ich an dem Septembermorgen schon seit einigen Monaten kämpfe. Wie bin ich eigentlich an diesen Punkt gekommen? Wie konnte das passieren? Wo ich nicht einmal selbst verstehe, verstehen auch andere kaum.

Ich habe mich nicht nur verrannt, ich wusste auch nicht, wo ich eigentlich hinwollte. Ich dachte, ich wüsste es. Aber ich war jung und idealistisch und hatte dieses Bild in meinem Kopf. Um irgendwann festzustellen, vielleicht haben das Bild und ich nicht zusammengehört. Zumindest nicht zu dieser Zeit. Es wird noch weitere Monate dauern, bis ich mich nicht mehr für meine Krankheit schäme.

Auf was an oder in dir warst du in letzter Zeit stolz?

Ein Septembermorgen. Ich fahre nun mit der Bahn zur Arbeit. Ich sitze an einem Schreibtisch und schreibe an einem Buch. Schreibe über den Septembermorgen vor zwei Jahren. Gestern Abend ist mir das Foto wieder in den Sinn gekommen. Der Scham ist mittlerweile sowas wie Hoffnung gewichen.

 

 

Der Text ist aus dem RefLab Buch «Ein gefühltes Jahr» von RefLab Autorin Janna Horstmann. Das Buch ist überall im Handel erhältlich.

Alle Beiträge zu «Ein gefühltes Jahr»

Schreibe einen Kommentar

Das RefLab-Team prüft alle Kommentare auf Spam, bevor sie freigeschaltet werden. Dein Kommentar ist deswegen nicht sofort nach dem Abschicken sichtbar, insbesondere, falls du am Abend oder am Wochenende postest.

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..

RefLab regelmässig in deiner Mailbox