Less noise – more conversation.

 Lesedauer: 4 Minuten

Salut, Jean-Luc Nancy!

Er ist ein leuchtendes Beispiel dafür, dass viele der wirklich interessanten theologischen und religionsphilosophischen Debatten nicht nur aus der mikroskopisch-analytischen Beschäftigung der Theologie selbst herrühren, sondern sich einer Vogelperspektive, kindlicher Verwunderung und aufrichtigem Interesse freier Geister verdanken.

Ich überblicke Nancys Werk nicht. Und ich könnte auch keinen roten Faden darin rekonstruieren. Aber ich vermute, das wäre ihm ganz recht: Nur kein System, kein Prinzip, kein Fazit.

Stattdessen versuche ich einen Gedanken wieder zu geben, den ich bei Nancy zum ersten Mal kennengelernt habe und der mein Denken seitdem begleitet. Man kann diesen Gedanken von verschiedenen Seiten her aufnehmen. Ich fange bei der Säkularisierungsthese an:

Das Werden des Christentums

Anders als viele Denker des 20. und anbrechenden 21. Jahrhunderts versteht Nancy die Säkularisierung nicht als Ablösung unserer Gesellschaften vom Christentum, sondern als Prozess, der selbst einer christlichen Denkform folgt. Er behauptet:

«Jede Analyse, die in der christlichen Referenz einen Abweg der modernen Welt zu erkennen meint, vergisst oder verleugnet, dass die moderne Welt selbst das Werden des Christentums ist.»

Das klingt in protestantischen Ohren zunächst vertraut. Je nach Schule denkt man an Richard Rothe, dem ein «christlicher Kulturstaat» vor Augen stand, an Karl Barth und die in der «Königsherrschaft Christi» allumfassend prägende Wirklichkeit der Offenbarung Gottes, an den religiösen Sozialismus, der in der Gegenwart das Reich Gottes verwirklicht sehen wollte oder an die ganz allgemeinen, oft diffusen Bedürfnisse nach Werten.

Nancy selbst hatte mit «dem Werden des Christentums» keinen Inhalt, keine Norm und keine Hierarchie im Sinn, sondern eine Bewegung. «Das» Christliche bestehe in einer endlosen Öffnungsbewegung. Aber nicht hin auf eine Transzendenz über uns, sondern auf den immanenten Sinn im Hier und Jetzt, über und neben dem es nichts anderes geben könne. Das Christentum als Öffnungsbewegung dekonstruiere die historisch gewordenen Inhalte eines kulturell feststehenden Christentums. Die Säkularisierung ist nicht der Gegenspieler des Christentums, sondern die Form, unter der es sich – unter anderem – auf sich selbst anwendet.

Die Öffnung

Nancy stellt sich diese Öffnung allerdings nicht im engeren Sinn als intellektuelle Betätigung vor. Nicht primär in der Analyse oder Kritik wird die Welt offengehalten, sondern in der Verehrung, der Anbetung. Er glaubt, dass die Anbetung die ursprüngliche Grundform menschlicher Vernunft darstellt:

«Ihre (des Menschen) ersten Worte waren Worte der bewundernden Verehrung, der Anbetung.»

Die Verehrung  oder Anbetung sei aber keine vorrationale Stufe des menschlichen Bewusstseins, das sich durch Wissenschaft, Experiment oder Einsicht in die grossen Weltzusammenhänge allmählich zu einem kritischen und der Welt überlegenen Geist wandle, sondern die der Welt entsprechende Haltung und Form: «Die Gabe der Welt heischt Verehrung. Sie lädt zur Anbetung ein, hält zur Anbetung an, weckt sie.» Die Welt selbst evoziert demnach in uns eine Öffnung, lädt uns zur Anbetung ein.

Der Mensch, ein Gruss

Von hier aus gelangen wir leicht zu der anderen Stelle, von der aus sich dieser Gedanke entfalten liesse. Diese Stelle ist vielleicht der Motor, der diese Denkfigur in Bewegung setzt. Im Kern geht es Nancy nämlich um die Frage nach dem Menschen. Wer ist er, woran kann man ihn festmachen, was macht ihn aus? Zunächst sei der Mensch ein Wesen, das sich zu der Gabe der Welt verhalte. Er tue dies in unterschiedlichen sprachlichen Registern, im Gebet, der Anrufung, Anrede, dem Anruf, der Beschwörung, dem Flehen, der Feier, Widmung oder der Grussgeste. Besonders der Gruss sei charakteristisch für den menschlichen Umgang mit der Welt. Er beinhalte die Anerkennung und Bejahung der Existenz des anderen.

Menschen sind demgemäss also Wesen, die gegrüsst werden und diesen Gruss erwidern. Und zwar nicht nur und nicht vor allem einen anderen menschlichen Gruss, sondern den Gruss der Welt überhaupt: «Grüßt uns nicht die Sonne morgens, sagt uns ‚Salut!’, oder die Pflanze, die aus der Erde sprießt? Oder der Blick eines Tieres?» Der Mensch als Gruss dominiert die Welt nicht. Er grüsst sie, dankbar spürend, dass sie ihn zuerst gegrüsst hat.

Adieu und Salut

Wenn wir Menschen uns selbst wesentlich als Grüssende denken, die damit auf die Welt, wie sie ihnen gegeben ist, antworten, könnte im «Salut» ein «à Dieu» mitschwingen. Das «Adieu» verweist dann nicht auf einen Gott über uns und eine Wirklichkeit hinter der Erscheinung. Es garantiert keine Moral und bezeichnet keinen überirdischen Rettungsort. Und ganz sicher ist es kein «Adieu», das uns über den Tod hinwegtrösten kann. Aber gerade als solches bringt es die Hoffnung zum Ausdruck, dass wir hier und jetzt Sinn erfahren, weil auf uns verwiesen wird und wir zurück grüssen.

Wenn diese Hoffnung nicht ins Leere läuft, dann ist nicht der Tod, sondern das Vergessen unsere Grenze. Und nicht das Herstellen, Messen, Bezeichnen oder Verstehen macht uns zu Menschen, sondern die Erfahrung von der Sonne, den Pflanzen, den Tieren und den Menschen gegrüsst zu werden.

Salut!

 

2 Kommentare zu „Salut, Jean-Luc Nancy!“

  1. Merci Stephan – auch ich habe das, was ich von Nancy mitbekommen habe, sehr geschätzt. Finde einiges von dem, was bei ihm anklingt in pan-en-theistischen Ansätzen wieder, dann aber auch in einigem, was Rosa bezüglich „Resonanz“ (könnte man auch „Grüssen“ nennen) sagt. Und der hoffnungsvolle Blick auf das kontinuierliche Werden des Christentums auch in Ablösungsprozessen von Überkommenem finde ich auch wieder in den Ansätzen, die hinter „Gott 9.0“ stehen, insbesondere die Stufe „Gelb“, die sich immer mehr verbreitet. Dies alles nur ganz kurz. Wäre mal nähere Beschäftigung wert. Danke für die Anregung und Salut auch dir!

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