Less noise – more conversation.

 Lesedauer: 8 Minuten

Unsere neue Religion

Nun ist positives Denken für sich genommen noch keine Religion. Nicht alles, was Menschen wichtig finden oder was sie begeistert, muss Religion sein. Es gibt areligiöse Formen von Engagement und Enthusiasmus. Begeisterung für Kaffeemaschinen, Autos, Hundewelpen oder Kochbücher. Verliebtsein. Politik. All das kann man mit quasi religiösem Eifer tun, ohne dass dies – abgesehen von ein paar Geisteswissenschaftler*innen, die einen Forschungsgegenstand suchen – als Religion erklärt werden muss. Mit dem „Positiven Denken“ ist es aber anders.

Man kann lange über Religionsdefinitionen streiten. Ich meine damit schlicht solche Weltanschauungen, die einen Glauben an eine transzendente Kraft voraussetzen und das Handeln, Fühlen und Denken ihrer Anhänger*innen prägen.

Religion und ihre Menschen

Religionen prägen Menschen aber nicht nur in ihrem Denken, Fühlen und Handeln, sondern geben ebenfalls Aufschluss über die Bruchstellen und kritischen Punkte, die Menschen zu einer bestimmten Zeit denkerisch, emotional und pragmatisch zu überwinden hatten. Ohne diese Bruchstellen zu begreifen, verstehen wir nicht, weshalb gewisse Weltanschauungen zu einer bestimmten Zeit sinnvoll und hilfreich waren. Und auch nicht, weshalb sie danach wieder verschwunden sind.

Weltanschauungen sind Antworten auf grosse Fragen, die Menschen bewegen.

Stellt sich die Frage nicht mehr, verliert die Weltanschauung ihre Relevanz und ihr religiöser Transzendenzbezug wird nicht mehr gebraucht. Neue Religionen entstehen. Manchmal sogar unter alten Namen.

Reformation

Die Reformation wurde zwar durch viele soziale und politische Umstände begünstigt. Aber vor allem war sie eine Antwort auf die Frage, wie ein Mensch Gott gerecht werden kann. Die reformatorische Antwort auf diese Frage führte nicht bloss zu einer Akzentverschiebung innerhalb des Christentums, sondern schuf eine neue Religion: Gerechtigkeit vor Gott komme allein aus dessen Gnade, wie sie sich in Christus zeige und durch die Schrift verkündigt werde. Dies könne nur im Glauben, den diese Gnade dem einzelnen Menschen schenkt, begriffen werden. Das war eine runde Sache. Gott schenkt den Glauben an seine Gnade, die nur aus diesem Glauben verstanden werden kann. Das ist wasserdicht.

Aber gleichzeitig bedeutete es die Loslösung von Rom und damit die politische Stärkung von Fürstentümern und Städten. Die neue Religion verursachte einen erheblichen Bildungsaufwand, weil Wahrheit nicht länger institutionell, sondern durch Schriftauslegung verbürgt werden musste. Damit lud sie dem einzelnen Menschen sehr viel Verantwortung auf:

Glauben kann jeder nur selbst.

Vor allem brachte es die scholastische Ordnung zwischen Natur (lumen naturale) und der göttlichen Offenbarung (lumen supernaturale), welche die mittelalterliche Gelehrsamkeit so sorgfältig arrangiert hatte, durcheinander.

Das Ergebnis war erschütternd: Der Papst war entzaubert, das Fegefeuer erlosch. Aber die Hölle drohte jedem Ungläubigen einzeln. Der Vernunft war nicht mehr zu trauen. Die Schrift wurde zur allwissenden Gottheit, zur Richterin über Wahrheit und Irrtum. Religionskriege tobten, befeuert durch hochkomplexe Dogmatiken.

Aufklärung

Die Leistung der neuen Aufklärungsreligion bestand darin, diese Dogmatiken auf vernünftigen Boden zu stellen und sie zu entwaffnen. Den wuchernden Dogmatikmonstern der protestantischen Orthodoxie stellte sie die simple Lehre von der Offenbarung Gottes durch natürliche Vernunft entgegen. Die Aufklärung räumte mit den religionsgeschichtlichen Blendgranaten auf, die vor allem Glaubenskriege befördert hatten und schuf dabei Platz für eine „undogmatische Naturforschung“. Wolfgang Eßbach fasst diese Entwicklung in seiner Religionssoziologie treffend zusammen:

„Die große Gemeinsamkeit von Aufklärung ist das Streben nach einer sicheren Entsorgung des militant gewordenen Gottesbegriffs im Medium des lumen naturale.“ (1)

Die Vernunft war im mittelalterlichen Katholizismus der religiösen Offenbarung zugeordnet. Sie ergänzten sich, durften sich nicht widersprechen. Die Reformation unterwarf die Vernunft: Alles, was ein Mensch wirklich wissen muss, ist in der Bibel enthalten. Die Vernunft erkennt, wenn sie durch Glauben richtig orientiert wird, in der Welt höchstens Analogien oder Abbilder der biblischen Offenbarungswahrheit. Die „aufklärerische Rationalreligion“ dreht dieses Verhältnis um: Die Vernunft wird zum Kriterium der Offenbarung. (2)

Die Vernunftreligion der Aufklärung setzte sich nicht einfach durch. Es entstanden im folgenden 19. Jahrhundert Gegenbewegungen und Fortsetzungen und wirkungsgeschichtlich prägende Abzweigungen. Der Biblizismus, der den ganzen Bibeltext wortwörtlich als den natur- und geschichtswissenschaftlichen Erkenntnissen übergeordnet behauptete, ist eine protestantische Gegenbewegung. Daneben etablierten sich unterschiedlich motivierte religionskritische Positionen und die Historisch-Kritische Methode entzauberte die Heilige Schrift, fürchtete alsbald den Relativismus und suchte die „Absolutheit des Christentums“ in der Religionsgeschichte. Andere wollten der Religion einen eigenen Geltungsbereich sichern, indem sie für diese einen, nebst Moral und Metaphysik, eigenen Zugang und eine eigene Wirkweise behaupteten.

Man könnte jede dieser Linien bis in die Gegenwart ausziehen. Aber insgesamt sind sie heute nicht mehr bedeutend. Ein anderes Modell, ein neuer Glaube, eine nächste Religion, hat das Ruder übernommen.

Wissenschaft & Pragmatismus

„Die“ Vernunft ist zusammen mit „der“ Wahrheit untergegangen: In den Schützengräben von Verdun, der Weltwirtschaftskrise von 1929, den Vernichtungslagern der Nazis, den stalinistischen Gulags und mit den Bombenabwürfen auf Nagasaki und Hiroshima. Wahr ist, was funktioniert. Und was funktioniert, muss jeder selbst herausfinden. In den späten Achtzigerjahren ist die letzte grosse Erzählung zusammengebrochen: Der Kommunismus. Immer wieder wird suggeriert, dass dies auch dem Kapitalismus noch bevorstehe. Aber das ist falsch. Der Kapitalismus ist im Kern nämlich keine Erzählung. Die kapitalistische Ordnung steuert nicht auf ein geschichtliches Ziel oder einen Endzustand hin. Vielmehr ist er die Sozialform der neuen Religion.

Diese neue Religion glaubt keinen Heilsgeschichten oder ewigen Wahrheiten. Sie ist nämlich aus der Zerstörung derselben hervorgegangen.

Sie bezieht sich auf Wissenschaft und gibt vor, gänzlich pragmatisch zu sein. In Wirklichkeit produziert sie ständig Ideologien. Diese fasst sie nicht in einem festen Weltbild zusammen, sondern liefert einzelne Versatzstücke, mittels derer die Gesellschaft produktiver und die Welt zweckmässiger werden.

Die Evolutionstheorie wird verkürzt zu einem Symbol dafür, dass Anpassung und Agilität Lebendigkeit, Überleben und Erfolg bedeuten. Die Erkenntnisse der Psychologie werden zu einem Menschenbild abstrahiert, in dem jeder zum Programmierer seines Mindsets und damit seiner Zukunft wird. Gebet, Achtsamkeit oder Rituale sind darin Programmiersprachen, mittels derer es Menschen gelingen soll, sich besser anzupassen, erfolgreicher zu sein und lebenswerter zu leben.

Die Vulgärversion der Quantenphysik liefert das transzendentale Element dieser neuen Religion: Alles ist Energie und mit meinem Denken lenke ich Energie, erschaffe ich die Welt.

Wir sind nicht nur unseres Glückes Schmied, sondern Schöpfer*innen unserer gedanklich erzeugten Wirklichkeit.

Stoiker suchten ihren Frieden, in dem sich ihr Wollen der Wirklichkeit anpasst. Die neue Religion setzt dies in Wechselwirkung: Die Welt ist ein Ergebnis unseres Denkens, also der Qualität unserer Selbstprogrammierung. Wo dieses „Versprechen“ nicht aufgeht, liegt es an fehlerhafter Selbst-Programmierung. Das kann therapiert werden.

Der neue Mensch

Der neue Mensch fragt sich: Wie kann ich mich so schnell anpassen, dass ich nicht untergehe? Wie überlebe ich sozial? Dass nur diejenigen einen Platz im Wirtschaftssystem haben, die lebenslang lernen, Veränderungen antizipieren oder mindestens ertragen, ist ihm nur zu gut bewusst. Und ohne guten Platz im Wirtschaftssystem bleiben nur gesellschaftliche Stehplätze übrig. Der neue Mensch nimmt nicht inneren Anteil an den hochreligiösen Verheissungen des Transhumanismus und versteht die Entwicklung der Künstlichen Intelligenz und die Singularität weder als Heilsversprechen noch als drohendes Armageddon. Das ist etwas für Hohepriester wie Ray Kurzweil. Er möchte nur nicht aus der Welt fallen. Er will nicht ewiges Leben, sondern einen Arbeitsplatz unter Bedingungen von Arbeit 4.0.

Egal, zu welcher Religionsgemeinschaft er traditionell gehört hatte. In der westlichen Welt begegnet ihm seit den Fünfzigerjahren vor allem ein Inhalt: Die Kraft des positiven Denkens. Monty Pythons legendäre Schlussszene von „The Life of Brian“ wirkt witzig:

„If life seems jolly rotten / There’s something you’ve forgotten / And that’s to laugh and smile and dance and sing“ singt Brian gemeinsam mit den anderen Gekreuzigten.

Aber schon 1952 erschien „Die Kraft des positiven Denkens“ vom US-amerikanischen Pfarrer Norman Vincent Peale. Es wurde zu einem Bestseller. Die Idee: Es gibt keine Probleme, die du nicht mit der Kraft positiven Denkens lösen kannst. Vielleicht hilft dir dazu auch Beten oder Meditation. Hauptsache, du bleibst positiv.

Das ist nicht einfach „amerikanischer Optimismus“. Dieses Mindset hat Buddhismus in Achtsamkeit, Gebet in Selbstaffirmation, Arbeit in Selbstmanagement, Familie in ein Projekt, Ehe in eine Partnerschaft und die Welt in einen Selbstwirksamkeits-Hindernislauf verwandelt. Wir fragen auch gar nicht, weshalb und wofür wir uns anstrengen sollen, wer dieses irre Rennen gestartet hat. Das lenkt nur vom positiven Denken ab.

Praxis, nicht Denken

Überhaupt: Diese skeptischen Fragen sind wahrscheinlich nur Ausdruck eines zu geringen Selbstvertrauens. Dagegen hilft nicht Grübeln oder Klagen. „Fake it till You make it!“ Und mit dem Erfolg verschwindet die Frage. Versprochen.

Wer kurz anhält, merkt, dass diese neue Superreligion nicht weniger ausgrenzend, normativ oder dogmatisch ist, als der Katholizismus des Mittelalters. Dem Fegefeuer konnte man durch Wallfahrten oder Ablässe, Sakramente und Gebete beikommen. Das war zwar manchmal anstrengend. Aber diese Religion nahm nicht das ganze Leben in Besitz. Die neue Religion mag Gott losgeworden sein. Aber sie hat an seine Stelle nicht einmal ein goldenes Kalb gesetzt. Sondern nur eine bildlose Angst: Nicht zu passen, nicht zu genügen.

Höher, weiter und schneller sind in dieser Religion keine Verheissungen, sondern Anforderungen an jeden einzelnen Menschen.

Und jeder kann nicht der Letzte werden, wenn er nur positiv denkt und wirklich an sich glaubt. Vielleicht.

Nun ja, man kann sich seine Religion nicht einfach zurechtschustern, wie es einem passt. Sie ist immer die Antwort auf unsere Fragen. Unsere Fragen sind: Was muss ich wissen, um mich anzupassen? Was soll ich tun, um sozial zu überleben? Wie kann ich hoffen, dass ich mitkomme? Welche Religion könnte entstehen, wenn wir nicht aus Angst fragen würden? Sondern: Wie können wir einander gerecht werden? Und was für Menschen könnten wir sein…

 

(1) Wolfgang Eßbach: Religionssoziologie, 2014, 164.

(2) Vgl. Immanuel Kant: Der Streit der Fakultäten, A 10. „Auf solche Weise müssen alle Schriftauslegungen, so fern sie die Religion betreffen nach dem Prinzip der in der Offenbarung abgezweckten Sittlichkeit gemacht werden und sind ohne das entweder praktisch leer oder gar Hindernisse des Guten.“

Photo by Fábio Lucas on Unsplash

1 Kommentar zu „Unsere neue Religion“

  1. Danke für den Artikel. Toll in eine geschichtlichen Zusammenhang gebracht! Allerdings empfinde ich, dass die Geschichte schon etwas weiter voran geschritten ist. „Positives Denken“ ist schon etwas alt geworden.
    Schon Osho hat darüber folgendes geschrieben: „Die negativen Gedanken deines Geistes müssen losgelassen, nicht von positiven Ideen unterdrückt werden. Du musst ein Bewusstsein kreieren, welches weder positiv noch negativ ist. Das wird das pure Bewusstsein sein.
    In diesem puren Bewusstsein, wirst du das natürlichste und glückseligste Leben führen…“
    Viele Inhalte (Kongresse, Bücher, Seminare…) gehen um die Gestaltung unserer Aura, der Art Energie, die wir um uns herum schaffen. Um Fühlen und Glauben und die daraus entstehende Bewusstheit. (Ken Wilber und Co).
    Das Modell der „Spiral Dynamic“ ist sehr komplex und deshalb noch nicht so breit angekommen. Aber es gibt inzwischen viele praktische Methoden, die dieses Modell salonfähig machen. Ich denke, das wird noch stärkere Auswirkungen haben als das „positive Denken“.

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

RefLab regelmässig in deiner Mailbox

RefLab-Newsletter
Podcasts, Blogs und Videos, alle 2 Wochen
Blog-Updates
nur Blogartikel, alle 2 bis 3 Tage