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Mittelerde liegt in der Schweiz

Lauter Brunnen: Woher der Name rührt, wird klar, sobald man in das ungewöhnlich tiefe Tal oberhalb von Interlaken gelangt: Es gibt hier lauter Wasserfälle, 72 sollen es sein. Sie schäumen in wolkenhohen Kaskaden «lauter» (rein) ins Tal, einer nach dem anderen. Mit seinen senkrecht abfallenden Felsen kommt das Lauterbrunnental einer Schlucht nahe: wildromantisch und bergend zugleich.

Ich war schon häufig hier, allerdings nur im Geist und ohne zu wissen, dass es eine reale Vorlage meiner inneren Bilder gibt. Maximale Erregung also eines «Herr der Ringe»-Fans!

Verwitterte Holzhäuser schmiegen sich in fast schon überirdisch grüne Alpenwiesen. Ein strahlender Spätsommertag zaubert Theateratmosphäre. Kuhglockengebimmel, Touristenbusse, das meditative Rauschen des Staubbachfalls und seiner Neben-Wasserfälle.

Touristisch erschlossene Märchenwelt

Ausser uns hatten andere die gleiche Ausflugsidee. In der Mehrheit Reisegruppen aus Fernost, dem arabischen Raum und Indien. Das Lauterbrunnental zählt zu den Hotspots für internationale Schweiz-Reisende.

Man gelangt mit dem Zug oder Bussen hierher und bewegt sich mit Gondeln und Zahnradbahnen in die Höhen. Eine perfekt erschlossene Märchenwelt, in der an Wochenenden «Dichtestress» herrscht.

Die letzte heimelige Herberge («the last homely house»), bevor es hinter steil aufragenden Felsen in die Wildnis geht, liegt im Gegenlicht. Dahinter Schnee, ewiges Eis … und womöglich Monster und irrlichternde Geister.

Geister über den Wassern

Dass schon Johann Wolfgang von Goethe im Lauterbrunnental war, weckt auch unter Schweizer Freunden Verwunderung. «Weisst du, es gibt in der Schweiz so viele Orte, an denen Berühmtheiten weilten», wird mir bedeutet, da sei es kaum möglich durchzublicken.

Goethe hat 1779 den Staubbachfall mit dem Gedicht «Gesang der Geister über den Wassern» besungen.

Im nassen Fels befindet sich ein Stollen. Über ihn kann man teilweise hinter den bezaubernden Wasserfall gelangen. Im Lauterbrunnental gibt es auch Gletscherwasserfälle im Berginneren, die Trümmelbachfälle.

J.R.R. Tolkien empfing 1911 als 19-Jähriger in dem pittoresken Tal im Berner Oberland bei einer Wanderung mit Freunden Inspiration für das mystische Rivendell: das legendäre Elfenrefugium in «Herr der Ringe».

Es existieren Zeichnungen des Autors, die keine Zweifel lassen, dass er bei Rivendell an die Schweiz dachte.

Das Rivendell der Romanvorlage liegt in einer von Wasserfällen durchzogenen und vor Feinden verborgenen Schlucht, dem Bruchtal. Das Wasser stürzt von senkrechten Felsen herab. Der Ort befindet sich im Nebelgebirge, dort, wo die Flüsse Bruinen und Mitheithel zusammenfliessen.

Magische Otherworld

Rivendell ist in der Romantrilogie ebenso wie in «The Hobbit» ein wichtiger Ort. Es ist die Heimat von Elrond, dem schönen Halbelben, einem der Hauptcharaktere in «Der Herr der Ringe». An dem Rückzugsort schmiedet eine breite und wesenübergreifende Koalition (Elben, Zwerge, Hobbits) Friedenspläne für Mittelerde. Der Ring (der Macht und Mächtigen) soll gefunden und zerstört werden.

In der fiktiven Welt von Mittelerde ist Rivendell neben dem Elbenreich Lórien ein zweiter spiritueller Ort des Rückzugs und der Heilung. Nichts Böses dringt ein. Liebende Wesen versorgen Wunden der Kämpferinnen und Kämpfer mit Naturmedizin. In Rivendell herrschen Zeitlosigkeit, Schönheit und feenhafte Güte.

Inneres Lauterbrunnentrosttal

Das englische Original von «The Lord of the Rings» erschien Mitte der 1950er, die deutsche Übersetzung Ende der 1960er/Anfang der 1970er-Jahre. «Herr der Ringe» wurde zum Kultbuch der Hippie-Generation.

Tolkien erfand Fantasy-Stoff, und mehr als das: Er erschuf in «Herr der Ringe» gewissermassen ein geistiges Lauterbrunnental, ein Lauterbrunnentrosttal, einen Seelenort der liebenden Geister und lebendigen labenden Quellen.

Das innere Lauterbrunnental ist ein Ort der Ruhe und des Trostes, ein innerer Safe Space des Rückzugs und der Regeneration. Man kann sich selbst ins fiktive Elfensanatorium einweisen, in Zeiten der Krankheit und Verzweiflung, der körperlichen und seelischen Krisen. Als Schutz auch vor sich selbst: vor schmerzenden oder quälenden Gedanken oder vor zu harten Ansprüchen an sich selbst.

Wieso ein Elbenheim als seelischer Rückzugsort? Das habe ich mich öfters gefragt. Vielleicht ist es letztlich eine Geschmacksfrage. Für mich gibt es keinen Widerspruch zwischen Sphären von Engeln und Elfen bzw. Elben. Letztere haben für mich ebenfalls hohe Credibility; vielleicht wirkt hier eine andere Fantasy-Prägung: «Die Nebel von Avalon».

Engel oder Elfen?

Auch Tolkien sah offenbar keinen Widerspruch. In einem Interview antwortete der Autor auf die Frage, wo in seinem Märchen Gott sei:

«Mentioned once or twice.» – «Ein oder zweimal erwähnt.»

Interviewer: «Is he ‹the One›?» – «Ist er ‹der Eine›?»

Tolkien: «The One … Yes.» – «Der Eine … Ja.»

An anderer Stelle bohrte der Interviewer noch einmal nach und wollte wissen, ob der Autor Atheist sei.

Tolkien: «Oh, I’m a Roman Catholic! A devout Roman Catholic.»  – «Ich bin römisch-katholisch! Ein gläubiger Katholik.»*

Tolkien kämpfte im Ersten Weltkrieg in blutigen Schlachten. Unter dem Eindruck traumatisierender Kriegserlebnisse entstanden die ersten Notizen zur Mythologie von Mittelerde. In seinem Kunstmythos vermeidet er einen starren Gut-Böse-Dualismus. Geschöpfe können gut sein und doch fallen (Gollum). Tolkien wandte sich auch ausdrücklich gegen die Idee, ein grosser Krieg könne alle anderen Kriege beenden.

Roadmovie für Wanderer

Die erfolgreiche Filmtrilogie von Peter Jackson mit Elijah Wood als zauberhafter Hobbit Frodo Beutlin ist ein Roadmovie für Bergwanderer. Die mystische Elfensiedlung Rivendell im Bruchtal stellt uns der Film als prototypisch romantischen Ort vor Augen.

Das Klima ist immer mild und warm. Elbenbauten schmiegen sich wie Schwalbennester an bizarre Felshänge. Häuser sind hell, luftig und gastfreundlich. Terrassen, Erker und Pavillons eröffnen atemberaubende Ausblicke auf die Natur.

Schäumende Wasserfälle sind architektonisch eingefasst. Sie durchziehen Behausungen der Elfen glucksend und rauschen durch Balustraden in bewaldete Tiefen.

Die Architektur ist eine Mischung aus klöppelspiztenfeinen Elementen, Jugendstil und Anthroposophie; auch tauchen normannische Giebel auf. Letztere kommen bäuerlichen Holzbauten des realen Lauterbrunnentals am nächsten, die aber ohne aufwändige Verzierungen auskommen.

Tal des Todes

Für die drei Gipfel über Moria beziehungsweise Khazad-dûm, die größte und berühmteste aller Zwergenstädte, könnten das Silberhorn (Celebdil), das Rottalhorn (Caradhras) und die Jungfrau (Fanuidhol) oberhalb des Lauterbrunnentals Inspiration gewesen sein.

Vorbild für die «Minen von Moria» mit ihren Hallen, Treppen und Gängen könnte die seinerzeit noch im Bau befindliche Jungfraubahn gewesen sein. Der «Wolkige Kopf» aus «Herr der Ringe» ist wahrscheinlich die Jungfrau selbst.

Tatsächlich ist ihr über 4000 Meter hoher Doppelgipfel bei unserer Wanderung in Schleierwolken gehüllt. An sie schliessen Mönch und Eiger an, mit der berühmt-berüchtigten Nordwand.

Vor dem Hintergrund des Weltkriegs imaginierte J.R.R. Tolkien das malerische Schweizer Tal als Schutzraum.

In jüngerer Zeit wechselt jedoch das Image. Wingsuiter (Springen mit Flügelanzügen) und andere Risikosportler, die sich von Klippen oder in enge Felsspalten stürzen, haben der Gegend den Beinahmen «Tal des Todes» eingebrockt. Das Problem ist gravierend und anhaltend, so dass auf dem Friedhof in Lauterbrunnen seit einiger Zeit eine zentrale Gedenkstätte für Verunglückte existiert. Und ausgerechnet das Schilthorn muss als Austragungsstätte des schinderischen «Inferno Triathlon» herhalten, zuletzt diesen Sommer.

Da ist es gut, sich Tolkiens Epos in Erinnerung zu rufen, denn es bewahrt die Poesie, Unbeschwertheit und den zeitlosen Zauber des Ortes.

J.R.R. Tolkien: «Elrond’s house was perfect, whether you liked food or sleep or story-telling or singing (or reading), or just sitting and thinking best, or a pleasant mixture of them all. Merely to be there was a cure for weariness. … Evil things did not come into the secret valley of Rivendell.»

«Elronds Haus war perfekt, egal ob man Essen oder Schlafen oder Geschichtenerzählen oder Singen (oder Lesen) oder einfach nur Sitzen und Nachdenken am liebsten mochte, oder eine angenehme Mischung aus allem. Allein die Anwesenheit dort war ein Heilmittel gegen Überdruss. … Böse Dinge kamen nicht in das geheime Tal von Rivendell.»

*Die Tolkien-Zitate stammen aus einem BBC Interview mit Denys Gueroult, veröffentlicht 1971.

Grafik: Pascal Tautschnig, mit Maximilian Jaenicke auf Unsplash und Studio New Line Cinema

5 Kommentare zu „Mittelerde liegt in der Schweiz“

  1. Als eingefleischte Herr der Ringe Fan möchte ich darauf hinweisen, dass (da der Artikel auf deutsch geschrieben ist) das englische „Elves“ mit „Elben“ übersetzt wird und nicht mit „Elfen“! Damit wäre auch die Unterscheidung zur „Feenwelt“ gemacht! Tolkiens Elben sind alles andere als kleine geflügelte Feenwesen, sondern vielmehr hoch gewachsene, schöne Wesen, welche mit viel Wissen, künstlerischem Geschick, körperlicher Ausdauer und einem sehr langen Leben gesegnet sind.

    1. Danke Salome! Interessant. Ich hätte richtiger «Elben» schreiben sollen. Merci für deinen Hinweis. Etymologisch sind meines Wissens die Begriffe Elfe oder Elbe (wie auch Alb vom Traum) eigentlich sehr nahe beieinander bzw. austauschbar. Letzteres vielleicht ein etwas altertümlicher Ausdruck. Tolkiens «elves» wird wie du sagst übersetzt mit dt. «Elben». Wenn du Näheres zu Unterscheidungen weisst und das mit uns teilen möchtest, zögere nicht. 🧛‍♀️

      1. Eine kleine Google Recherche zu Elben bringt recht schnell die Erleuchtung. Tolkien war es (als Sprachwissenschaftler) wichtig, dass die deutsche Übersetzung Elben und eben nicht Elfen lautet. Für ihn waren die Bezeichnungen eben gerade nicht austauschbar. (Zb hier zu lesen: https://de.m.wikipedia.org/wiki/Europäische_Geschichte_und_Mythologie_in_Tolkiens_Welt). Er wollte mit seinen Elben bewusst eine Unterscheidung machen zu den Elfe-/Feenwesen, wie man sie zb von Peter Pan vor Augen hat. Scheinbar fand er es auch schade, dass auf englisch die Unterscheidung weniger eindeutig war (wenn ich mich nicht täusche, dann verwendete er die Bezeichnung „Elves“ statt „Elfs/Elfes“, um seine Kreaturen sprachlich abgrenzen zu können (dafür würde ich aber nicht die Hand ins Feuer legen und bin sprachlich zu wenig versiert).
        Grundsätzlich finde ich es ein bisschen schade, dass das Thema des Artikels durch die teilweise mangelhafte Recherche ein wenig untergeht…

  2. Hallo,

    der Artikel ist leider dünn recherchiert. Elben/ Elfen wurde bereits erwähnt. Das ist aus meiner Sicht ein grosser Fauxpas, weil es wirklich genug zu sehen und zu lesen gibt um es schon richtig gehört haben zu können. Der Ort liegt ausserdem im Nebelgebirge und nicht im Blauen Gebirge und lauter von Lauterbrunnen kommt von klar, rein und nicht von jede Menge (Brunnen).

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