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Menschen mit Mission

Die Evangelikalen

Gewisse Begriffe wandeln ihre ursprüngliche Bedeutung und können gar zu pejorativen Zuschreibungen werden. «Evangelikal» ist zweifellos ein solcher Begriff. Man denkt vielleicht an die Debatten über die «Ehe für alle» hierzulande, den politisch ambitionierten Evangelikalismus in den USA oder das pentecostale Kirchenwachstum in der südlichen Hälfte der Weltkugel.

Ich selbst hätte nach meinem Theologiestudium die verschiedenen Strömungen nicht einordnen können, sondern hatte ein diffuses Halbwissen, das sich aus Kirchengeschichtsvorlesungen zum Pietismus und den Erweckungsbewegungen und den eher schrägen Kontakten zu Kommiliton:innen, die eine Gebetsgruppe oder einen Bibellesekreis besuchten, zusammengesetzt hat.

Relativ schnell war ich sicher, dass ich auf gar keinen Fall «evangelikal» sein möchte. Die «Evangelikalen» waren für mich ein Label, mit dem ich all das bezeichnete – ausser Tüchertanzgruppen und gestaltete Mitten –, was mir als Christ peinlich war: Kreationismus, Bibelfundamentalismus, rückständige Sexualmoral, guruhafte Machtstrukturen, seicht-kitschige Popmusik und den naiven Glauben an eine religiös verbrämte Self-Enhancement-Ideologie.

Für mich waren «Evangelikale» immer «die anderen»: Sie haben weiss gebleachte Zähne, beten aber für Heilungswunder, ziehen sich sexy an und haben keinen Sex, verehren die Bibel, oft ohne sie wirklich zu lesen und geben sich offen, bis man selbst dazugehört.

Selbsthistorisierung & Kontextualisierung

«Menschen mit Mission» hat mich angeregt, darüber anders nachzudenken. Dabei ist es durchaus keine Verteidigungsschrift evangelikaler Positionen an die Verächter wahren Christentums. Thorsten verzichtet konsequent auf apologetische Mätzchen oder rhetorische Tricks. Er skizziert Entwicklungen, von denen die meisten von der Lausanner-Erklärung von 1974 her eingeordnet werden. Er bietet Unterscheidungskriterien an, die Gemeinsamkeiten und Differenzen der verschiedenen Bewegungen nachvollziehbar machen. Die Entwicklungen werden dabei nicht einfach anhand der Erfolgs- oder Zerfallsgeschichten wichtiger Leaderfiguren erzählt, sondern sorgfältig in historische und soziale Kontexte eingebettet. Und Thorsten bezieht diese Entwicklungen auf die eigene Glaubensbiografie.

Insgesamt leistet das Buch das, was vielen «Frommen» suspekt ist: Es unterzieht den Evangelikalismus einer Selbsthistorisierung.

Karten machen

Wenngleich die Beschreibungen auf einer gewissen Flughöhe bleiben und der Autor um eine sachliche und beschreibende Sprache bemüht ist, wird dieses Werk von einer erfrischenden Bescheidenheit getragen. Thorsten versteht sein Projekt – in Anlehnung an seinen Ethik-Podcast «Karte & Gebiet» – als eine Karte. «Wir alle machen uns Karten. Und jede Karte verrät auch etwas über diejenigen, die sie gezeichnet haben. Denn jede Karte lässt vieles weg und hebt nur hervor, was als wesentlich gilt.» Die Karte ist nicht das Gebiet. Das Gebiet ist immer komplexer, ausdifferenzierter, unübersichtlicher als die Karte. Die Karte weiss nicht, was ist, sondern bietet eine Orientierungshilfe an. Vor allem für diejenigen, die in diesem Gebiet drin sind.

Insofern ist es ein echter Glücksfall, dass ein «Grenzgänger», einer der Teile des Gebiets von innen her kennt, diese Übersicht leistet. Und es ist eine beachtliche Leistung, dies gleichzeitig mit der nötigen Distanz und einer hilfreichen Empathie zu tun.

Das Buch lässt sich grob in vier Teile gliedern: Im ersten Teil werden die historischen Bezüge evangelikaler Bewegungen dargestellt, wobei interessante wechselseitige transatlantische Beziehungen sichtbar werden. Im zweiten Teil wird versucht, Hauptlinien innerhalb evangelikaler Bewegungen herauszuarbeiten. Der dritte Teil widmet sich den Krisenphänomenen und den postevangelikalen Aufbrüchen. Im vierten Teil zieht Thorsten die Linien der historischen und systematischen Darstellungen weiter aus und fragt nach zukünftigen Herausforderungen und Möglichkeiten christlicher Inhalte und Formen.

Was ich gelernt habe

Vielleicht liegt es daran, dass Thorstens Karte für mich ein ziemlich fremdes Land beschreibt. Oder vielleicht hilft die sehr übersichtliche Gestaltung und das lockere Layout. Jedenfalls habe ich – für ein theologisches Fachbuch – ziemlich konkrete Learnings mitgenommen:

  1. In gewissen Anliegen sind mir (manche) Evangelikale Bewegungen erstaunlich nahe. Sie waren ein wichtiger Treiber für Gleichberechtigung, die theologische Reflexion und kirchliche Bearbeitung von sozialen Missständen und haben viel dafür geleistet, dass das Christentum zeitgenössische Formen gefunden hat.
  2. Evangelikale Bewegungen sind (!) interessante Labore, von denen Landeskirchen unter zunehmenden Säkularisierungsentwicklungen lernen können: Unternehmer:innen-Geist, Positive Zukunftsvision, Involvement.
  3. Bewegungen haben gegenüber institutionellen Strukturen bezüglich Agilität, Tempo oder Ausstrahlung klare Vorteile. Aber solche Leaderfiguren sind immer ein hohes Risiko! Mit ihnen steht und fällt die Glaubwürdigkeit der ganzen Marke. Landeskirchen sind von dieser Medienlogik ebenfalls betroffen. Haben aber oft nur die schlechten Ergebnisse von Verwaltungsstruktur und Personenhype.
  4. Meine eigene Prägung ist über Jugendarbeit und Kirchgemeindearbeit durchaus auch evangelikal geprägt. Manches davon leitet meine Vorstellungen gelingenden Kircheseins bis heute: Beteiligung, Gemeinwohlorientierung, politische Parteinahme.
  5. Ökumene hätte echte Chancen, wenn sie sich aus der konfessionellen Engführung der Verständigung mit der römisch-katholischen Kirche löst und mit gleicher Freundlichkeit und Lernbereitschaft auf solche Bewegungen zugeht.
  6. Das Gras ist auf der anderen Seite des Zauns gar nicht unbedingt grüner. Auch evangelikale Projekte werden von Krisen erfasst und schaffen es bis heute in unserer Gegend nicht, sich als Wachstumstreiber durchzusetzen. Besonders in der kritischen Reflexion auf die eigenen Brüche und Problemlagen ist der Evangelikalismus für mein Denken sehr bereichernd und anschlussfähig.

Leseempfehlung

Wir sollten davon ausgehen, dass das Christentum nicht einfach verschwinden wird im Zuge der Säkularisierung. Nichts stützt diese vulgäre Modernisierungsthese empirisch. Gleichzeitig sind die Landeskirchen keineswegs Modernisierungsgewinnerinnen. Nicht der aufgeklärte Protestantismus wächst und gedeiht, sondern charismatische und evangelikale Gemeinden. Ihre Erfolge dürfen uns nicht einfach auf ein diffuses Interesse an Christentum und Religion schliessen lassen, dass die Landeskirchen beleben wird.

Wem diese landeskirchlichen Inhalte und Anliegen am Herzen liegen und wer nicht daran glaubt, dass uns Beamer und Popmusik in Gottesdiensten retten werden und die Lösung auch nicht in einer «klaren Verkündigung und einem richtigen Bekenntnis» liegt, kann von diesem Buch viele wichtige Impulse mitnehmen. Primär ist es ein Werk über die jüngere Theologiegeschichte. Aber darin ist es eine wichtige Analyse für die eigene Standortbestimmung und für Arbeitsfelder der Kirchenentwicklung ein echter Glücksfall.

Thorsten Dietz: Menschen mit Mission. Eine Landkarte der evangelikalen Welt (2022)

11 Kommentare zu „Menschen mit Mission“

  1. Lieber Stephan
    Seit ca. einem Jahr lese/ überfliege ich die meisten Beiträge von euch. Deine beiden letzten Beiträge haben mich jetzt gerade animiert, einen Kommentar dazu zu schreiben. Beim Artikel: „Nachtreten beim Austritt“ ist mir ganz spontan der Spruch: „Wenn man dem Hund auf den Schwanz tritt,“.. in den Sinn gekommen.
    Aus meiner Sicht hat Gottfried Locher neben anderem, doch eine relativ treffende Analyse über den Zustand der reformierten Landeskirche beschrieben.
    Von aussen betrachtet, hat die refomierte Kirche ein grösseres Identitätsproblem. Wenn ich so eure Blogbeiträge verfolge, kommt bei mir er Eindruck auf, dass ihr euch nur noch über eure Abgrenzung zu den Evangelikalen definiert. Wenn ich so schaue, wieviel ihr das Thema Freikirchen/Evangelikal thematisiert und wieviel Mal Jesus Christus das Thema eurer Blog etc. ist wirft das bei mir schon Fragezeichen auf. Aus meiner Sicht beschäftigt ihr euch da viel zu viel mit den Freikirchen, die sind für eure Identität eigentlich irrelevant. Jesus Christus ist der, der einer christlichen Kirche die Existenzberechtigung gibt, da hat Locher einfach recht. Und Jesus Christus muss wieder das Thema in der Kirche sein/ werden. Wenn ihr es nicht schafft, das wieder zum Kernthema der Kirch zu machen, dann wird eure Arbeit eigentlich nur noch zwischen Sterbebegleitung und Sterbehilfe der reformierten Kirche schwanken.
    Lasst die Evangelikalen mal für ein Jahr auf der Seite und thematisiert in dieser Zeit Jesus Christus, das wäre mal was.
    Herzlicher Gruss
    Christoph

    1. Lieber Christoph, herzlichen Dank für deine Nachricht. Ich bin nicht sicher, ob ich deine Beobachtung nachvollziehen kann. Ich finde, dass wir uns in den allerwenigsten Beiträgen mit Evangelikalen auseinandersetzen. In der Tat würden wir dann unseren Auftrag und unser Selbstverständnis verfehlen. Ich selbst glaube, dass Gott in ganz vielen Bezügen und Kunstwerken, Literatur, Musik und Idealen zum Ausdruck kommt. Ich meine damit nicht nur, es gibt manches, das Gott in der Populärkultur gefällt, Sondern wirklich: Es ist ein Ausdruck Gottes!
      Gerne würde ich dieses Thema mit dir vertiefen. Lieber Gruss!
      Stephan

  2. Hans-Peter Geiser

    Kompliment ! Hervorragender Blog mit höchst persönlichen „Grenzüberschreitungen“ von Dir Stephan in die immensen globalen Regionen „weniger bekannter Kartengebiete“.

    Deine verletzliche Offenheit für lernfähige Analogien in Dir eher fremden anderen Welten berührt, Stephan.

    So könnte THEOLOGIE menschlich werden.

    Gb HPG

      1. Guten Tag Stephan
        Ich nehme gerne an der Verlosung des Buches Menschen mit Mission teil. Ich wuchs in der Pfingstmission auf. Im Erwachsenenalter begann ich mich in der ref. Ortskirche zu engagieren in der Kirchenpflege und der Gemeinde. Viele, die sich in der Kirche nicht beruflich engagieren, haben aus meiner Erfahrung einen evangelikalen Hintergrund. Das kann auch „nur“ eine lebendige CEVI-Gruppe sein. Deshalb sind Berührungsängste zu den Evangelikalen falsch. Aber wie sieht eine kirchliche Nachwuchsförderung ohne evangelikales Feuer aus? Mit dem Konzept RPG der Landeskirche greifen wir wahrscheinlich zu kurz. Ich sehe die Zukunft der Kirche nur mit einer lebendigen Jugendarbeit gesichert. Die Jugend ist unsere Zukunft oder wir sterben aus.
        HP Stutz, ehemaliger Kirchenpflegepräsident in Ottenbach

  3. Hallo, auch ich würde gerne an der Verlosung teilnehmen – ich schreibe das hier, weil der Link am Ende des Artikels nicht funktioniert…
    Lg, Thomas

  4. Meine Freundin wurde in eine Pfingstgemeinde hineingeboren. Als junge Erwachsene trat sie aus, um die ihr mit dem auferlegten Glauben vorgegebenen Pfade zu verlassen und reifen zu können. Die Loslösung war brutal, der Widerstand ihrer Gemeinde gegen ihre Entscheidung gross; sie konnte standhalten wie David gegen Goliath und nun ist sie ein geistig freier und in sich ruhender Mensch.
    Das evangelikale Christentum predigt einen ausgrenzenden Glauben; es separiert in gut und böse, schwarz und weiss, in Teufelchen und Engelchen und predigt ein enges Theologie Verständnis in vereinfachender, populistischer Art und Weise. Das evangelikale Christentum ist fundamental. Ein Dazwischen gibt es nicht. Wir kaufen uns damit einen Wolf in einem Schafspelz ein, sobald wir ihre Machart akzeptieren. Modernität entwickelt sich mit dem religiösen Selbstverständnis seiner Zeit und ist abhängig von der Aufmerksamkeit der Menschen der Kirche gegenüber gesellschaftlichen und politischen Strömungen. Reform fusst auf demokratischen Prozessen, steter Reflektion, um Bewährtes und Gewagtes in die Zukunft tragen zu können. Fundamentalismus und Anlehnungen daran sind damit nicht vereinbar.

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