Less noise – more conversation.

 Lesedauer: 4 Minuten

Meinen Hass kriegt ihr nicht

Es gibt eine neue Themenkategorie, die sich in den Social Media verbreitet. Nebst klatschenden oder singenden Menschen und brennenden Kerzen in den Fenstern tauchen „Corona-Rants“ auf. In diesen kurzen Videos regen sich Menschen über andere Menschen auf, die sich nach wie vor – sogar in grösseren Gruppen! – draussen treffen. Auf Twitter regen sich Menschen über ältere Leute auf, die sinnlose Einkäufe machen:

„Heute alte Leute im Supermarkt gesehen. Kaufen eine Flasche Öl und Orangen ein. Völlig unverantwortlich!“

„Heute alte Leute im Supermarkt gesehen. Kaufen eine Flasche Öl und Orangen ein. Völlig unverantwortlich!“ Andere kommentieren dann: „Ja, wenn die sterben wollen, sollen sie das machen, ohne andere zu gefährden!“ Und natürlich verbreitet sich das Videoschnippsel von dem Typen im Lonsdale-Pulli aus der SRF-Sondersendung schneller als der nach seinem Feierabendbier sprechen kann.

Stimmt doch, oder?

Und klar: Der junge Mann ist kein Sympathieträger. Das wussten aber auch jene, die den medialen Pranger für ihn eingerichtet haben. Und ja, vielleicht wäre es gut, seine Einkäufe zu beschränken und besser zu planen. Aber viel gefährlicher als das unbedachte Verhalten einzelner Personen, ist die Verbindung von Empörungskultur und sozialer Kontrolle.

Wer weiss? Vielleicht hatten diese „alten Leute“ an alles gedacht, sorgsam einkaufen lassen, aber dummerweise das Öl vergessen und sich nicht getraut, jemanden zu fragen? Und vielleicht haben sie irgendeinen Artikel mit allgemeinen Tipps zur Stärkung des Immunsystems gelesen und deshalb noch Orangen eingekauft. Vielleicht ist er nicht mehr gut zu Fuss und sie kann nicht mehr tragen, als Öl und Orangen?

Wollen wir wirklich zu einer Gesellschaft werden, in der wir einander argwöhnisch in den Einkaufswagen schauen und uns das Schlechteste unterstellen?

Solidarität

Es stimmt schon. Es ist nicht solidarisch gegenüber den Kranken und denen, die sich um sie kümmern, wenn man einfach so weitermacht, wie bisher. Und es ist grotesk, wenn auf den leeren Schulhauspausenplätzen jetzt Rentner*innen-Treffs abgehalten werden. Trotzdem ist es falsch daraus zu folgern: „Na, wenn die nicht einmal auf sich selbst schauen, wofür machen wir das eigentlich?“ Es darf nicht dazu führen, dass wir unsere Solidarität aufkündigen!

Solidarität ist wie Gnade. Man verdient sie sich nicht. Sie wird einem geschenkt. Solidarität ist Gnade.

Solidarität braucht eine Kultur, in der sie wachsen kann. Solidarität wächst nicht durch Regeln, Wut oder Kontrolle. Solidarität braucht innere Weite, Empathie und Selbstdisziplin.

Hierarchie

Man ist schnell dabei zu denken: Was müssen diese jungen Trottel jetzt in der Sonne Bier trinken! Warum gehen diese alten Leute jetzt spazieren? Oder einkaufen? Das geht mir auch so. Aber dahinter verbirgt sich ein bestimmtes Wertverständnis: Wertvoll ist dasjenige Leben, das einen Beitrag für die Allgemeinheit leistet. Aber von innen, aus diesen einzelnen Leben selbst, sieht es anders aus!

Das sind Personen, die leben wollen. Sie sind jetzt gerade nicht wichtig. Sie können die Enkel nicht hüten oder haben ihren Temporär-Job verloren. Sie sind einsam und der einzige Sozialkontakt findet mit der Kassiererin in der Migros statt. Ihnen bleibt nichts, ausser ihr Freundeskreis.

Und das sind alles Menschenleben, die sich verwirklichen und ausdrücken wollen. Es sind Persönlichkeiten, denen es schwerer fällt als anderen, sich zu beschränken. Vielleicht auch deshalb, weil sie gar nicht viel haben. Wenigen etwas bedeuten. Nicht mit sich sein können.

Reframing

Diejenigen, die zuhause bleiben können, sollen dankbar sein, dass sie das schaffen. Und diejenigen, die genug Gelassenheit haben, ihren Betrieb zu unterbrechen, die Mitarbeiter*innen ins Homeoffice zu schicken oder Arbeitsbereiche einzustellen, sollen sich freuen, dass sie das – wenigstens innerlich – vermögen. Anstatt uns zu erzählen über wen wir uns aufregen, sollten wir uns Mut machen, dass es geht, Hoffnung verbreiten, dass es genügend Menschen gibt, die das schaffen.

Wir brauchen keine Rants und keinen Pranger in Zeiten von Social Distancing. Wir brauchen Geduld und Mitgefühl. Und die Hoffnung, dass es genügend Menschen unter uns gibt, die es gut machen. Wir brauchen keine Opfer für das Zusammengehörigkeitsgefühl in Zeiten von Corona. Es wird echte Opfer geben. Das ist schlimm genug. Meinen Hass kriegt ihr nicht.

 

Photo by Iarlaith McNamara from Pexels.

7 Kommentare zu „Meinen Hass kriegt ihr nicht“

  1. Vielleicht könnten sich ja jetzt die jungen Leute bei Pro Senectute melden, die über 65 jährigen freiwilligen HelferInnen sollten dies ja nicht mehr tun, und sich für Einkäufe anbieten. Oder an anderen Stellen, in Glarus ist das Kiss. Oder in Kirchgemeinden.. ? nachfragen. Gleichsam melden sich die älteren Menschen die darum froh wären. So ist beiden geholfen! 🙂
    Schliesslich haben viele ältere Menschen jetzt ihre 3. Woche in teils schon (selbst)-Isolation bereits gemeistert. Der einzige „Ausgang“ ist das wöchentliche Einkaufen, oder eben aus Lastengründen 2 mal die Woche. Hut ab! würde ich sagen. ;-). Da sind Briefe oder Telefonkontakte die einzige Möglichkeiten für einen Austausch.
    PS: Zytlos in Kirchgemeinde Enge bietet Telefonkontakte an – „zyt-ha“.

    1. Ja, das passiert auch schon! Die offene Kirche in Bern konnte z.B. den ganzen Präsenzdienst mit Menschen unter 65 Jahren organisieren! Richtig toll, was gerade möglich ist!

  2. Lieber Stephan
    Ich danke dir für diesen wundervollen Beitrag – so wahr und sooo wichtig! Schenken wir den älteren Personen, die wir beim Einkaufen antreffen, ein liebes Wort und ein Lächeln – das vermissen wir alle und die einen sehnen sich mehr danach als andere…
    Meinen Hass kriegt ihr auch nicht!!
    Liebe Grüsse, verbunden mit dem Wunsch, dass wir an diesem Wochenende alle ein wenig zur Ruhe kommen dürfen…

    1. Danke, liebe Susi! Ich glaube ja, dass die allermeisten jetzt nicht hassen, sondern helfen! Und ja… ich komme morgen ganz sicher zur Ruhe 🙂 Herzlich!

  3. Lächeln, ja, ist wichtig. Aber vielleicht auch fragen, ob man die Telefonnummer geben kann, damit sie das nächste Mal nicht mehr selber einkaufen. Sondern spazieren gehen, solange Herr Berset es durchhält, uns von einem totalen Ausgehverbot zu verschonen.
    Das stärkt das Immunsystem. Und da kann man sich dann ohne Problem mit vier Meter Distanz zulächeln. Beim Spazieren hat sich wohl noch niemand angesteckt. Geniessen wir es!

    1. Lieber Werner, dem spreche ich unbedingt zu! Dass sich diese Personen weiterhin draussen bewegen können und dies auch tun, mit Genuss! Spazieren mit ganzen Herzen in den Frühling hinein… Danke!

  4. Ja, meinen Hass kriegt ihr nicht!
    Dennoch Empörung tut sich in mir breit und aber auch Dankbarkeit darüber hinaus.

    Empörung darüber, dass betagte Menschen die sich erlauben ein paar Schritte ums Quartier zu gehen von Passanten angehalten werden die Wohnung nicht zu verlassen!

    Dankbarkeit darüber, dass es heute vom Bundesrat heisst: …. nach draussen zu gehen um Sport zu treiben ist erlaubt.

    So ist es mir heute ein Anliegen, hier so was wie einen Brief zu verfassen.

    Sporttreiben draussen für alle!
    Ich möchte hier Menschen mit Gebrechen genau dazu ermuntern! Ich erlebe das im eigenen Umfeld in der Familie. Es ist mir ein grosses Anliegen zu sagen: Treiben Sie Sport. Ihren Fähigkeiten entsprechend. Sei dies die 100m die Sie bis zum nächsten Bänkli gehen können. Hier ausruhen tief durchatmen, vielleicht die Arme schwingen .. Glieder bewegen, ihren eigenen Fähigkeiten entsprechend! Dabei die Sonnenstrahlen geniessen, den freien Blick zum Himmel, die ersten blühenden Sträucher aus der Ferne schauen, Vogelgezwitscher hören. Oder Regen und Wind auf der Haut spüren .. Alles dieses trägt zum Wohlbefinden bei und stärkt das Immunsystem. Bei Bewegungsmangel schwinden Muskulatur ziemlich schnell. Was sich wiederum auf die Atmungsfähigkeit auswirkt, eine gute, bzw. verminderte Durchblutung aller Organe nach sich ziehen kann. Und nicht zuletzt ist der Mensch ein Sinnes-Wesen.

    Gerade jetzt in dieser Berührungs- und Kontaktarmen Zeit. Ist es m.E. um so wichtiger den eigenen Körper bestmöglich wahrnehmen zu können. Heisst draussen in Bewegung sein. Im Hören des Vogelsangs, des Regenprasselns, Sonnenstrahlen und Wind auf der Haut spüren. Darin Blühendes anschauen und Düfte riechen die sich im nun – ein Glück in dieser Zeit – aufblühenden Frühling mehr und mehr zeigen. In dieser ganzen grossen Schöpfung Gottes die eigene schöpferische Kraft in sich selbst aufblühen spüren.

    Körper und Geist fit halten. Dieses gilt doch für alle! Nicht nur diejenigen die in 1h 15 Km joggen können. Auch sie brauchen genau dieses alles was das „Draussen-in-Bewegungsein“ bringt. Menschen die ganz ohne Einschränkungen leben können. Erst recht gilt dieses alles für Menschen mit einer Beeinträchtigung! Alte wie Junge!

    Deshalb möchte ich hier genau diese Menschen ermuntern, ziehen sie ihre Schuhe an, nehmen sie ihre Gehhilfe und Gehen sie 1 mal am Tag an die frische Luft. Treiben Sie Sport so wie es ihren Fähigkeiten entspricht. 🙂
    Es ist erlaubt mit gegenseitiger Rücksichtnahme! Abstandhalten.
    Nur lassen wir doch Bitte gleichsam bewegungseingeschränkte alte wie junge Menschen Sporttreiben so wie es eben ihren eigenen Fähigkeiten entspricht. Auch sitzen auf einem Bänkli. 🙂

    Daher bin ich Dankbar, dass heute, so lange dies noch möglich ist, Sporttreiben draussen erlaubt ist. Weil es die Gesundheit und die innere Lebendigkeit erhält. In Dankbarkeit! 🙂

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