Less noise – more conversation.

 Lesedauer: 5 Minuten

Me(er)ditation 3: Lebensluftig

Auch das ist ein Nordseeritual: Alle Türen und Fenster weit auf und tief einatmen: «Aaah … frische Meeresluft!» Woher kommt diese Empfindung, wo es doch an der See alles andere als geruchsneutral zugeht? Ich meine jenen schlickig-modrigen oder fischig-salzigen «Duft», der öfters mal in der Luft liegt. Besonders das Phytoplankton sorgt für den typischen Geruch nach Algen, wenn es das Gas Dimethylsulfid freisetzt. Manche nennen das den Frühlingsduft des Meeres – naja, wenn sie meinen. Für mich ist es vor allem der Wind, der die Luft am Meer so ungemein frisch macht.

Durchgelüftete Sinnlichkeit

Nordsee ohne Wind ist gar nicht vorstellbar. Selbst, wenn mal Flaute herrscht, bleibt er im Wundern über sein Fehlen gegenwärtig.

Neben dem sandigen Erdboden und dem rauschenden Wasser ist der Wind das dritte Naturelement, das unsere eingeschlafene Sinnlichkeit wachküsst.

Sanft streicht er über unsere Haut, zerzaust uns die Haare, bläst in unser Gesicht, geht durch Mark und Bein und wirft uns beinahe um. Viele Menschen verbinden die heilende und vitalisierende Wirkung des Meeres vor allem mit dem Wind:

«Ich fühle mich so richtig durchgepustet!» Durchatmen nach anstrengender Zeit. Den Kopf wieder frei bekommen von mentaler Dauerüberladung. Die benebelnde Staubschicht des hochtourigen Lebens in Luft auflösen.

Aber verwunderlich finde ich diese leichte Lebensluftigkeit dann doch. Denn der Wind ist immer auch ein nerviger und anstrengender Geselle. Ich jedenfalls musste mich erst mal mit ihm anfreunden, vielleicht auch, weil er unsichtbar ist.

Provozierende Widerständigkeit

Die Fahnen flattern wie wild und der Sand fliegt quer. Wer jetzt keinen Schutzwall schaufelt oder eine Strandmuschel aufspannt, wird sandgestrahlt – ein Hautpeeling der besonderen Art. Anders weh tut der Gegenwind beim Joggen oder Velofahren.

Es gibt Momente, da wird mir der drückende Luftwiderstand zum Zeichen dafür, dass sich das Leben gegen mich verschworen hat.

Bis etwas Schönes mit mir passiert: Ich merke, dass mein Rumheulen nichts an der Gegenwindlage ändert. Da verpufft nur Luft, die ich nun wirklich besser gebrauchen kann. Ich löse mich von der gewohnten Laufgeschwindigkeit, mache mich schmal und finde einen angenehmen Rhythmus. Mein Zeitempfinden ändert sich. Es ist, als würde ich in Zeitlupe laufen, langsam zwar, aber dafür unbegrenzt. Glücklich grinse ich in mich: «Na das wollen wir doch mal sehen!»

Glücksbeatmung

Als ich mich aus meinem gekauerten Laufstil ein wenig aufrichte, öffne ich Nase und Mund ganz weit. Wer mich jetzt sieht, wird sich fragen, ob ich nicht völlig durch den Wind bin. Aber das Experiment funktioniert. Es kommt mir vor, als müsste ich mich nur noch ums Ausatmen kümmern. Denn die Luft drückt sich von selbst in meine Lungenflügel. An meinem üblichen Wendepunkt angekommen, breite ich meine Arme aus und rufe: «Ha … war das alles?»

Wettlauf mit den Elementen

Dieser stichelnde Ruf in den Wind hat so gut wie nichts mehr mit einem Kampf gegen, sondern einem Spiel mit ihm zu tun.

Wenn wir durch den Wind laufen, während er durch unseren Körper läuft, haben wir die Luft als Spielgesellin gewonnen.

Keine Ahnung, aber machen das die Segelschiffe beim Kreuzen gegen den Winde nicht ähnlich? Jedenfalls beginnt die Spielerei jetzt erst richtig.

Wie wohl die Allermeisten drehe ich mich um, mach mich so breit wie möglich und finde den Kipppunkt heraus, an dem ich mich los- und vom Wind halten lassen kann.

Die Kräfte des Lebens stehen nicht einfach gegen mich. Wenn ich es ihnen gestatte und sie mit Feingefühl behandle, tragen sie mich.

Und – man ahnt es – sie schieben mich nach vorne. Rückenwind! Bei leichter Brise laufe ich locker mit dem Wind. In meinen Ohren wird es still, ich höre die Wellen angenehm rauschen. Genusslaufen. Bei steifer Brise überholt mich die Luft ständig und reisst mich mit. Das Dünengras verneigt sich vor mir. Ich laufe den Wellen hinterher, um ihnen alsbald davonlaufen zu können. Maximale Puls- und Atemfrequenz … Am-Limit-Laufen.

Pathetisch oder pathisch?

Ob das hier alles nicht doch ein wenig zu verspielt und luftig ist, oder zu pathetisch? Eher nicht. Ich erinnere mich, wie ausgeschüttet sich meine Seele in diesem Sommer vorkam. Und mein Atem war stark coronageschwächt, als ich die ersten Schritte am Strand machte. Es war eine Zeit, in der ich an eine geheimnisvolle Grundbedingung des Lebens rührte, nämlich dass wir es «erleiden».

Wir sind pathische Wesen, die in die Welt geworfen und ihr ausgesetzt sind. Wir spüren ihre Widerständigkeit, werden angegangen und getroffen vom Lebendigen.

Für den Kirchenvater Augustinus bezeugt das Weinen des Säuglings die Härte und Mühsal des Lebens. Der Philosoph Immanuel Kant hört im Schreien des Neugeborenen den Protest, in die Welt geschleudert worden zu sein. Martin Heidegger konzipiert die menschliche Existenz als «Geworfenheit». Diese pathische Grundsituation kann zu einem verletzten und schmerzhaften Leiden werden. Wenn es chronisch wird, steigert es sich ins Pathologische. Leider.

Pathische Kompetenz

Zugleich aber liegt in unserer passiven Erlebnisfähigkeit eine grossartige Gabe: Wir sind hochgradig offen für die Welt, derart empfänglich für das Leben, dass seine Kräfte uns durchströmen.

So wird aus dem Pathos nicht nur verbindende Empathie, sondern passionierte, leidenschaftliche Hingabe voll Liebe und Lust.

Im Wind der Nordsee fühlte ich mich mitten hineingestellt in die Ambiguität des pathischen Seins. Ein neues Ja zu den unliebsamen und hemmenden Bedingungen meines Lebens wurde mir entlockt. Mehr noch, ich konnte sie mir anverwandeln, liess mich von ihnen tragen, vitalisieren und leidenschaftlich ergreifen.

Warum tue ich mich so schwer damit, diese transformative Erfahrung auf mein ganzes Leben auszudehnen? Wie kann ich mir pathische Kompetenzen bleibend aneignen und zuverlässig einsetzen?

Ich weiss es nicht, aber muss ich das überhaupt? Ich glaube, auch mit dieser Unverfügbarkeit glücklich leben zu können. Und zwar in der Ahnung, dass mir im Nordseewind heilige Luft entgegenkam. Jene Geistin, die uns seit Menschengedenken den pathischen Weg zutraut und offenhält.

Die jüdische Weisheit dichtet sie als spielerische Lebenslust. Die junge Christenheit bezeugt sie als Lebendigmacher. Mit Gerhard Tersteegen glaube ich, dass sie sich uns zur passenden Zeit vergegenwärtigt:

«Luft, die alles füllet, drin wir immer schweben, aller Dinge Grund und Leben.»

Illustration: Rodja Galli

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2 Kommentare zu „Me(er)ditation 3: Lebensluftig“

  1. Angela Wäffler-Boveland

    Zwei Gedanken, zu denen mich dein Text weitertreibt:
    1. „Einatmen ist Geschenk, der Hauch, mit dem Gott uns beseelt – Ausatmen ist Arbeit.“ Diese Ur-Weisheit führte mein Götti, auch ein Theologe, gern weiter, wenn er vorführte, wie im Wort „Amen“ beides steckt: „A-“ ist das Einströmenlassen des göttlichen Atems, „-men“ ist das Ausatmen, das mitten in die Welt stellt. Für mich ist das eine wunderbare Miniatur-Meditation geworden!
    2. Wenn sich die Herren Philosophen des Geburtsschreis als Protest gegen das Leben bedienen, dann bedienen sich die Damen Philosophinnen wie Hanna Arendt oder Ina Praetorius der Geburtlichkeit als alle Menschen verbindende Lebensgrundlage. Wie anders die Perspektive auf das Selbe wirkt…

    1. Danke, liebe Angela, für diese schöne Ergänzung und Weiterführung. Es wäre in der Tat zu kurz gedacht, wenn wir das Leben nur als Ausgesetztsein und Geworfenheit verstehen würden. Ich habe Hannah Arendts Philosophie der Natalität erst vor ein paar Jahren entdeckt. Klasse, wie sie das Geheimnis jeder Geburt leuchten lässt, nämlich dass wir nicht festgelegt sind, dass wir selbst Anfang sein können. «Es ‘geschieht nichts Neues unter der Sonne’, es sei denn, dass Menschen das Neue, das in die Welt kam, als sie geboren wurden, handelnd als einen neuen Anfang in das Spiel der Welt werfen.» Aus „Vita Activa“.

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