Wir haben verspätet zugeschaltet. Der Sportanalyst im österreichischen Fernsehen brachte kaum noch Worte hervor. Er wirkte wie ein schockiertes, trauriges Kind. Die junge Moderatorin im roten Cocktail Dress aber schaffte es über Minuten hinweg grammatikalisch korrekte Sätze zur «Dramatik» der Lage und dem zutiefst verstörenden «Ereignis» zu formulieren. Sie bewies eiserne Professionalität, lugte zwischendurch allerdings Hilfe suchend zur Regie.
Alle hatten nach der Ausnahmesituation durch Corona auf ein grosses «Fussballfest» gehofft, auf eine Annäherung an die Normalität vor der Pandemiezeit. Endlich, und dann dies: Der Einbruch der Ausnahmesituation, der Ernstfall mitten im Scheinernst der EM. Es war, als wäre das Stadion plötzlich bodenlos und als rutschten die Spieler, Zuschauer, Klappstuhlreihen und beweglichen Kameras in einen Abgrund. Wie bei einem plötzlichen Erdbeben, bei dem sich Spalten auftun, die alles verschlingen.
Die Sprecherlegende Béla Réthy vom deutschen Fernsehen moderierte rund hundert Minuten später den Anpfiff nach der abrupten Spielunterbrechung mit gewohnt eleganter Trockenheit. In der Stimme des Sportkommentators aber schwang Verwunderung mit, als er bemerkte, dass die Spieler einen derartigen tragischen Vorfall – das Nahtoderlebnis und die Reanimierung eines Kameraden und Freundes vor laufenden Kameras – wohl nicht einfach «aus den Klamotten schütteln» können.
Spielverderber
Der Tod kommt immer irgendwie ungelegen. Besonders unpassend aber ist es, wenn er in ein Spiel eindringt. Das ist unsportlich. Das ist unfair. Das ist regelwidrig. Das ist Spielverderberei. Es ist wie ein kalter Hieb in den Nacken, der jählings aufwachen lässt, und zwar nicht nur Angehörige und nahe Freunde, sondern alle: weil wir alle unsere Zerbrechlichkeit und Sterblichkeit dramatisch vor Augen geführt bekommen.
Im Halbfinale des Confederations Cup 2003 war Marc-Vivien Foé aus Kamerun im Spiel gegen Kolumbien plötzlich zusammengebrochen. Die Ursache: Herzversagen. Er starb kurz später. Der dänische Spieler Christian Eriksen dagegen gelangte durch lebensrettende Massnahmen wieder zu Bewusstsein. Der «Corriere dello Sport» sprach vom «Wunder der EM».
Im Spiel lenken wir verstärkte Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes Ziel und empfinden diesen Zustand als angenehm. Wir geraten mit einem Ausdruck des Chicagoer Psychologen Mihály Csíkszentmihályi in einen «Flow», fühlen uns dem Alltagsgeschehen entrückt und wie getragen. Aus dem Spiel am Samstag aber wurde in Sekundenbruchteilen ein Echtzeit-Drama. Die Kameraden des unglücklich Zusammengebrochenen bildeten einen magischen Kreis um ihn. Zwischendurch war es, als hätten alle zu atmen aufgehört und im Stadium wurde es totenstill.
Christian Eriksen galt alle Aufmerksamkeit, bevor er auf einer Trage abgeschirmt vor Blicken der Menge und begleitet von Mitspielern in die sogenannten Katakomben gebracht wurde. In das Bild der antiken Tragödie schob sich jenes der römischen Arena, des Kampfplatzes der Gladiatoren, deren Leben und Sterben der Unterhaltung einer johlenden, gaffenden Menge dient. Nach dem Philosophen Peter Sloterdijk verrät der Generaltrend in der Sportkultur des 20. Jahrhunderts den zunehmenden Sieg des «Arena-Prinzips» über das griechische «Stadion-Prinzip». Das Muster der Arenen, das Kolosseum, sei «eine Fatalismusmaschine im grossen Stil». Der Philosoph schreibt:
«Liegen oder stehen – das ist die Frage, die in jeder Arena diskutiert wird. In allen agonalen Kampfsportarten wird in gewisser Weise das Gottesurteil ums Liegen oder Stehen zitiert. Die Faszination des Sportes auch in der heutigen Welt, die eine intern befriedete, überbefriedete Szene darstellt, besteht darin, dass sie dem Menschen Gelegenheit bietet, an dieser Ur-Unterscheidung in Realzeit teilzunehmen.»
Genau dafür sorgt die Regie. Während Flitzer in Sekundenbruchteilen ausgeblendet werden, klebten die Kameras regelrecht auf dem Unglücksgeschehen. Die Kameras blieben auch nicht bei den Spielern und Stars, sondern wandten sich dem Publikum und seiner gebannten Neugier und Angstlust zu. Die Kameras des aus dem Rahmen gekippten Fussballereignisses schwenkten auf die Unglücksszene und zwischendurch auf die Panik der Lebensgefährtin des kollabierten Spielers, die aufs Feld stürzte.
Ein Engel geht durchs Stadion
Dass die unter Schock stehenden Spieler entscheiden mussten, ob weitergespielt werden solle, scheint ebenfalls für das Arena-Prinzip zu sprechen. Sie reagierten wie moderne Gladiatoren, nach dem Motto: The show must go on! Spätestens hier zeigte sich ein anderer Abgrund: Der Abgrund des Ernstes von Spielen in einer gamifizierten Gesellschaft, die Unterbrechungen nicht duldet.
Ein Engel geht durchs Stadion, aber das geplante Programm wird ungerührt durchgezogen.
Wären da nicht die Fangesänge gewesen, die nicht mehr gegen-, sondern miteinander den Namen Christian Eriksen besangen, als wollten sie ihm Lebensmut zurufen, ihm im Leben festhalten. Und wäre, vor allem, nicht dieser Kreis gewesen! Er wird in Erinnerung bleiben, nicht nur wegen der ungewohnten Umkehrung der Blickrichtung. Spieler bilden nach innen gekehrte Kreise, um sich rituell Mut und Kampfgeist zuzusprechen. Sie bilden auch Mauern, bei denen sie das Tor (und ihr Gemächt) schützen.
Das menschliche Schutzschild am Samstag war Kreis und Mauer zugleich, ein Kreis, bei dem die meisten Spieler nach aussen blickten, und eine Mauer, eine Sichtmauer. Sie diente nicht dem gemeinsamen «Spirit» der Gruppe, sondern ihrem verletzlichsten Glied. Sie war, vor allem, eine Mauer, die Vulnerabilität zuliess. Es war ein Schutzschild, das weinte, bangte, betete.
Dieser Schutzkreis – das war nicht griechische Tragödie und auch nicht römische Arena: Es war eine berührende Geste der Solidarität und Verletzlichkeit. Diese Geste hat uns, mitten in der Ablenkung von der Corana-Krise, ein neues, mächtiges Symbol geschenkt, das noch leben wird, wenn die Spiele längst vergessen sein werden.
1 Gedanke zu „Mauer der Vulnerabilität“
Wunderbarer Text! Toll geschrieben!