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 Lesedauer: 6 Minuten

Tipps vom Banker

«Uns gibt auch keiner was!»

Basel hat ein Problem mit Bettlern. Ich arbeite mehrere Tage die Woche in der beschaulichen Rheinstadt und kann es aus eigener Erfahrung bestätigen. Am Bahnhof, auf öffentlichen Plätzen und Parks begegnen auf Schritt und Tritt Menschen v.a. rumänischer Herkunft, die einen um Geld bitten und Kartonschilder mit herzzerreißenden Geschichten vors Gesicht halten. Man ist hin und hergerissen zwischen Empathie und Misstrauen, kämpft mit dem Verdacht mafiös organisierter Banden, verspürt den Impuls zur Großzügigkeit und ärgert sich zugleich darüber, nicht mal mehr sein Sandwich mit gutem Gewissen essen zu können…

Das Schweizer Fernsehen hat vor einigen Monaten in einer Reportage darüber berichtet und auch Passanten nach ihrer Wahrnehmung der Bettler gefragt.

«Auf keinen Fall was geben!», war die klare Devise einer Frau mittleren Alters. Warum denn, wollte der Journalist wissen. »Uns gibt man ja auch nichts«, kam knapp und unvermittelt zurück.

Uns gibt auch keiner was! Wirklich?

Fängt dieser Satz das Selbstverständnis und Lebensgefühl von Herr und Frau Schweizer:in ein? Ich hoffe nicht. Denn er ist an Ignoranz und Undankbarkeit kaum zu überbieten.

Privilegierte Ausgangslage

Ganz unabhängig von der Frage, ob man die rumänischen Bettler:innen nun finanziell unterstützen sollte oder nicht: es gibt gute Gründe, warum sie ihr Glück ausgerechnet hier versuchen.

Selbst im Ausgang einer weltweiten Pandemie sind wir noch immer geradezu atemberaubend privilegiert. Das schweizerische Durchschnittseinkommen wie auch das Medianvermögen belegt weltweit Jahr für Jahr einen Spitzenplatz. 2020 wurden in unserem kleinen Land rund 100 Milliarden (!) Franken vererbt.

Auch wer von diesem Geldsegen nichts abgekriegt hat und sich nicht zu den «oberen 10‘000» zählt, lebt noch immer in einem Land mit einem im internationalen Vergleich sagenhaften Bildungs- und Gesundheitssystem, intakten sozialen Einrichtungen und einem allgemeinen Wohlstand, angesichts dessen sich die meisten Menschen auf diesem Planeten nur die Augen reiben können.

Sicher, mir ist klar, dass es auch in der Schweiz Menschen gibt, die am Existenzminimum leben müssen, Männer und Frauen, die sich um Nahrung und Kleidung sorgen, Familien, die um ihr finanzielles Überleben kämpfen, Obdachlose, «working poor» und andere prekäre Existenzen.

Dieser Beitrag gilt aber der großen Mehrheit derer, die solche Schicksale eher aus den Zeitungen oder TV-Berichten als aus dem eigenen Leben kennen. Menschen, die sich mindestens ein iPhone der vorletzten Generation leisten können. Die zur sportlichen Ertüchtigung auf einem Fahrrad fahren, für dessen Preis man auch richtig dick mit der Familie in die Ferien hätte fahren können. Und die sich die Ferien dann doch auch noch leisten. Ja, ich rede gerade von mir selbst.

«Ich kaufe also bin ich»?

Als Teilhaber der modernen Wohlstandsgesellschaft hat mich ein Gedanke aus der einleitend erwähnten «Ausgeglaubt»-Folge nachdenklich gemacht. Sinngemäß hat unser Gesprächspartner dort folgende Frage aufgeworfen:

«Definiere ich mich über meinen Besitz und meine Kaufkraft, oder über meine Werte – besser noch: über den Wert, den ich in Gottes Augen habe?»

Die Antwort auf diese Frage hängt offenbar mehr an einer inneren Haltung als an der finanziellen Potenz eines Menschen. Unser Gesprächsgast aus der Finanzbranche jedenfalls erzählt, er habe viele extrem reiche Kunden kennen gelernt, und manche von ihnen seien erstaunlich befreit und großzügig mit ihrem Geld umgegangen – und er habe auch Menschen mit viel kleineren finanziellen Spielräumen kennen gelernt, die auf ihren Besitz und seine Bewahrung, Zurschaustellung und Maximierung geradezu krampfhaft fixiert waren. Oder die sich in ihrem alltäglichen Lebensgefühl von dem bestimmen lassen, was sie sich gerade kaufen oder «gönnen» können. Stephan, mein Podcast- und Arbeitskollege, hat sich dadurch in seinem Zalando-Bestellverhalten ertappt gewusst.

Ich hab‘ etwas länger gebraucht, um zu merken, dass diese selbstkritische Frage auch mich angeht. Nicht nur, weil mir klarwurde, dass man mit meiner eigenen Sneaker-Sammlung bald ein mittelgroßes Dorf mit Schuhwerk ausstatten könnte. Sondern weil sich die Frage «Was darf es mich kosten» in meinem Denken immer mal wieder vor die Frage schiebt, was den das Richtige und Gute wäre.

Die Ethik des Geldbeutels

Ich schreibe diese Zeilen unmittelbar nach dem Schweizerischen Abstimmungswochenende. Es wurden nicht nur zwei Agrarvorlagen bachab geschickt, deren Anliegen es war, die Grundwasserqualität der Schweiz sicherzustellen und den Einsatz von chemischen Pestiziden einzuschränken. Auch die CO2-Initiative, welche finanzielle Anreize für Privathaushalte schaffen wollte, CO2-freundliche Heizsysteme, Kraftstoffe usw. zu bevorzugen, wurde vom Schweizer Volk versenkt. Natürlich kann ich den einzelnen Stimmbürger:innen nicht in die Seele blicken, um ihre Motive zu ergründen.

Schon das Argumentarium im Abstimmungskampf macht aber deutlich, dass wohl ein altbekannter Grund mit entscheidend war für die breite Ablehnung von Herrn und Frau Schweizer: Das ganze könnte uns etwas kosten.

Natürlich kommen wir nicht umhin, in ökologischen (oder etwa auch in migrationspolitischen) Fragen ganz nüchtern die Kosten für Staat und Bevölkerung zu überschlagen. Und gewiss lässt sich immer darüber diskutieren, ob eine bestimmte Regelung am richtigen Ort ansetzt oder effektiv genug ist, um die Kosten zu rechtfertigen.

Aber wenn es denn wirklich so sein sollte, dass die Bevölkerung eines der reichsten Länder der Welt das Gute und Richtige abweist, weil es sie substanziell etwas kosten könnte, dann haben wir auch den letzten Rest Idealismus auf dem Altar einer kapitalistischen Wohlstandsgesellschaft geopfert.

Gib mal was weg!

Ich habe in dieser Abstimmung zwar mit fünf Ja-Parolen meinen persönlichen Zustimmungsrekord geknackt, fühle mich aber durchaus auch angesprochen, wenn es um das Kostenkalkül in ethischen Fragen geht.

Gibt es noch etwas, was mich substanziell etwas kosten darf, ohne dass es mir unmittelbar nützt oder meinen Lebensstandard verbessert?

Ich rede jetzt nicht von einer Handvoll Kleingeld, das ich im Starbucks loswerde, weil es meinen Geldbeutel eh nur unnötig beschwert und ausgebeult hat, ohne wirklich etwas wert zu sein. Und auch nicht von obligatorischen Krankenkassenprämien, die uns ja auch dann Sicherheiten verschaffen, wenn wir nicht selbst von einem medizinischen Notfall betroffen sind.

Mir stehen Gelegenheiten vor Augen, eine echte Not im persönlichen Umfeld zu lindern, einem Menschen aus einer existenziellen Krise zu helfen, einer sozialen Initiative oder einem kirchlichen Projekt mit einer Spende Starthilfe zu geben – mit Geld, das man auch für die nächsten Ferien, das neuste Laptop oder ein neues Auto hätte ausgeben können. Und das einen nachher tatsächlich fehlt.

Zum Glück bin ich mit Freunden und Bekannten gesegnet, die genau solche «Investitionen» in andere Menschen und unterstützenswerte Werke immer wieder gewagt haben – und mich mit ihrer Großzügigkeit angesteckt haben (und ja, es sind auch Banker darunter…).

Es tut tatsächlich gut, den Zauber zu brechen und nicht nur dem Nächsten, sondern auch sich selbst zu beweisen, dass mein Besitz (und das Bedürfnis, ihn zu erhalten oder vermehren) nicht die Kraft hat, mich zu definieren.

Aber Vorsicht: Das kann auch die nächste Begegnung mit Bettlern beeinflußen…

1 Kommentar zu „Tipps vom Banker“

  1. Der Podcast war spannend, aber gerade diese Argumentation hat mich gestört: Natürlich kann jemand freier und großzügiger mit seinem Geld umgehen, wenn genügend davon da ist – abgesichert in einer Immobilie – als jemand, dem die Sicherheit fehlt, der aber trotzdem etwas „Luxus“ haben will.

    Aber ja: Weg vom Konsumismus, hin zu echten Bedürfnissen

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