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 Lesedauer: 4 Minuten

Lieber eine christliche Diktatur als eine pluralistische Demokratie?

Alle 30 Sekunden aktualisierte ich meinen Twitter-Feed. Wie angeklebt sass ich auf dem Sofa. Fassungslos las ich die Tweets von Journalisten und Politikerinnen, die beschrieben, wie sie mit zitternden Knien evakuiert wurden. Ich sah Bilder von Männern mit Gesichtsbemalung und Fellen über dem nackten Oberkörper, die das Kapitol stürmten, während draussen Demonstrant*innen mit MAGA-Caps „Trump“- und „Jesus Saves“-Poster schwenkten. Letzteres die Blüte einer Kultur, in der eine ganz bestimmte Art von Christentum und Politiker*innen eine unheilige Allianz eingegangen sind.

Während ich abwechslungsweise die neusten Tweets las und runter swipte, kam mir die Aussage meines Bekannten über Diktatur und Demokratie wieder in den Sinn. Die Bilder von Transparenten mit Bibelsprüchen neben der Konföderiertenflagge jagten mir kalte Schauder über den Rücken. Ein Video auf Twitter (bei dem ich nicht sicher bin, ob es wirklich vom 6. Januar stammt) zeigte sogar, wie Demonstrant*innen ein Holzkreuz aufrichteten. Die USA sind zwar religiös ein ganz anderes Pflaster als Europa; „evangelikal“ bedeutet hier und dort nicht genau das Gleiche. Doch auch hierzulande fühlen sich Christ*innen manchmal als Opfer der Demokratie, wie die fragwürdige Aussage zeigt.

Märtyrertum oder Widerstand

Nun kann man als vermeintliches Opfer zwei verschiedene Wege einschlagen, um mit der schwindenden Macht und wachsenden Wertedifferenzen zur Gesamtgesellschaft umzugehen: Entweder, man sieht sich in der Rolle der Märtyer und in der Tradition der verfolgten Christ*innen im Neuen Testament. So habe ich aus freikirchlich-christlichem Umfeld auch schon die Aussage gehört: „Ein bisschen Verfolgung würde uns auch mal gut tun.“ Gemeint war, dass es in einer religiös pluralistischen Gesellschaft nicht nötig ist, sich gross Gedanken über den eigenen Glauben zu machen, während Menschen in Ländern wie Nordkorea oder Afghanistan so starke Überzeugungen haben, dass sie sogar ihr Leben dafür riskieren.

Der andere Weg, mit der Opfersituation umzugehen, ist zu versuchen, die Macht zu behalten – wenn es sein muss, mit allen Mitteln. Das ist genau, was am 6. Januar in den USA politisch geschah.  Teilweise getrieben von einem ganz bestimmten religiösen Gedankengut.

Geht es „uns“ gut – oder allen?

Der springende Punkt in der Aussage meines Bekannten, „Diktatur wäre besser für uns Christen“, ist das „für uns“. Mag sein, dass in einem Umfeld, welches konservative Werte fördert, Christ*innen ihren Glauben ungehindert ausleben können. Vergleichbar mit dem konservativen Islam in islamistischen Staaten. Doch die Art von politischem Christentum, welche das eigene Wohlergehen über andere stellt, begünstigt auch Entwicklungen wie die, deren Resultat wir in den USA beobachten konnten. Dazu gehört auch die paternalistische Idee, es ginge allen besser, wenn sie die eigenen Werte teilen würden.

Wo es Konfliktpotenzial gibt, geht es nicht primär um das Kultische oder Religiöse. Es sind die moralischen Fragen oder Ansprüche an die Gesellschaft: „Tanzverbot“, kirchliche Feiertage, Abtreibung, Sterbehilfe, Ehe für alle. Und hier unterscheiden sich auch die Christ*innen untereinander sehr. „Das“ Christentum gibt es also ohnehin nicht.

Nur ein ganz bestimmtes christliches Segment konnte seine Anliegen in Jahren mit republikanischer Präsidentschaft besser durchsetzen. Und leider hat dieses Segment eine Schnittmenge mit reaktionären, rassistischen Gruppierungen und hat sich davon auch nicht distanziert – im Gegenteil.

Die gestrigen Bilder und dass man den Mob einfach gewähren liess, löst Schock, Ekel, Abwehr aus. Kein*e Christ*in sollte sich wünschen, in einer von solchen Menschen beherrschten Welt zu leben. In der man genau so lange sicher ist, wo man nach einer ganz bestimmten Weise denkt, glaubt und lebt. Demokratie ist für alle. Eine pluralistische Gesellschaft, in der ich vielleicht Privilegien verliere oder bei einer Abstimmung auf der Verliererseite stehe. Aber viel lieber das, als ein politisches System, bei dem „meine“ Religion oder Denkweise zwar den besseren Stand hat, das aber auf Kosten der anderen geht.

Photo by Jaclyn Moy on Unsplash

4 Kommentare zu „Lieber eine christliche Diktatur als eine pluralistische Demokratie?“

  1. Jürgen Friedrich

    Meine nachfolgenden Reime zielen auch auf einen Irr-Sinn, nicht nur im Politischen . . .

    DIESSEITS – JENSEITS
    J. Friedrich

    Im Zentrum aller Ewigkeit
    erschafft sich Gott in uns die Zeit.

    Religionen rüsten zu
    im Gläubigen das ICH und DU.

    Durch Zeit im Sein als Phänomen
    lässt Gott sich in die Karten seh’n.

    Keiner kann zu Staub zerfallen.
    Heiligkeit steckt in uns allen.

    In ihrem hellen Heiligenschein
    wird aus aller Zeit das Sein.

    Doch bleibt dabei die Wirklichkeit
    nichts weiter als nur Zwischen-Zeit
    …v o r Zukunft, n a c h Vergangenheit.

    Mit anderen Worten: Illusion
    ist das Wesen von Religion.

    So wird am Ende „Semitismus“
    entlarvt als Raubtier-Kapitalismus.

    Anti-Semitismus Gott erfand,
    um zu enden den Zustand.

  2. Danke für diesen nachdenklichen und differenzierten Beitrag. Das Denken, dass eine einer bestimmten Spielart von Christentum freundlich gesinnte Dikataur besser sei, als Demokratie findet sich nicht nur unter den Evangelikalen der USA. Vor Jahren (noch vor dem sogenannten Arabischen Frühling) lernte ich auf einer Ägyptenreise einen koptischen Reiseführer kennen. Dieser sagte mir, dass die koptische Kirche den damaligen Dikator Mubarak unterstütze, weil er die Muslimbruderschaft im Zaum und verderbliche westliche Einflüsse fern halte.
    In eine ähnliche Richtung ging die Aussage eines syrisch-orthodoxen Priesters (Aramäer) mit dem ich vor einigen Jahren vor dem Beginn des Syrienkrieges zusammen arbeitete. Seine Kirche sei pro Assad, weil er die Moslems klein halte und alle Relgionen gewiesse Privilegien genössen, so lange sie sich nicht in die Politik einmischten.
    Eine ähnliche Haltung findet man nach meiner Wahrnehmung auch bei der Russisch-orthodoxen Kirche, die mehr oder weniger deutlich Putintreu ist.
    Es scheint, dass vielen das Wohlergehen der eigenen Konfession wichtiger ist, als das Wohlergehen aller Menschen und sogar Andersdenkender.

  3. Besten Dank für den interessanten Beitrag.
    Als ich vor x Jahren in einer christlichen Jugendgruppe war, haben damals schon einige der Mitglieder genau diesen Standpunkt verfochten. Er hat mich auch sehr nachdenklich gemacht…
    Ich denke, es wäre zu einfach, wenn man eine Gesellschaft, selbst wenn sie christlicher „Natur“ wäre, in eine Diktatur umformen würde, damit ihre Werte nie ins Wanken gerieten und sie den „gottgefälligen“ Weg ginge. Aber was heisst schon gottgefällig? Und wer kann von sich behaupten, er wisse es?
    Nichts lässt sich auf alle Menschen und alle Gruppierungen überstülpen, nicht einmal, wie denn Christentum im Detail gelebt werden sollte.
    Die Demokratie ist dann gefährlich für die, die keine Offenheit und kein „Ringen“ um Entscheidungen ertragen, sie als grundsätzlich gefährlich ansehen. Man müsste es sogar aushalten, dass selbst die Demokratie die Demokratie abschaffen könnte.
    Und eben am Beispiel USA kann man beobachten, dass in einer Art Demokratie, in der einige Christen in der aktuell noch regierenden Partei an vorderster Front und auch anderswo mitspielten, auch nicht gefeit sind vor Fehlinterpretationen, vor dem vermeintlichen Wissen, was richtig und gut ist.
    Die Freiheit und die Demokratie erlauben dafür Regulierungen und Neuanfänge.

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