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 Lesedauer: 4 Minuten

Der Anfang der Digitalreligion?

»Alles wäre lustig, wenn es nicht so traurig wäre.« Mit diesem Satz des russischen Schriftstellers Mikhail Lermontov kommentierte am Abend des 6. Januar 2021 eine Twitter-Userin Livebilder von einem parlamentsstürmenden Mob. Demonstrierende stürmten in teils sonderbarer Kostümierung das Herzstück der amerikanischen Demokratie, das Kapitol in Washington. Bilder und Videos des ungeheuren Vorgangs tauchten in Echtzeit in zahllosen Medienkanälen auf. Rätselhaft bleibt, wieso das Gebäude nicht besser geschützt war. Erst vor wenigen Wochen war es bei friedlichen Demonstrationen von »Black Lives Matter« martialisch abgeriegelt gewesen.

Zuvor hatte der US-Präsidentschaftswahlverlierer Donald Trump Anhänger*innen in einer Rede dazu aufgefordert, zum Kapitol zu marschieren – weil ihm die Wahl angeblich von den politischen Gegnern ›gestohlen‹ worden sei. Bei dem gewaltsamen Sturm sind laut US-Polizei vier Menschen ums Leben gekommen. Donald Trump könnte sein Ende besiegelt haben. Die Spannung und Spaltung aber bleibt.

Demokratie mit Füssen getrumpelt

Je nachdem, welchem Nachrichten-Feed man folgte, konnte man konträre Sichten auf Welt und Wirklichkeit erleben. Während die meisten von uns einen unverschämten Mob wahrnehmen, sieht eine Minderheit Infokrieger und ›Truther‹ am Werk. Was für die Mehrheit ein erschreckender Angriff auf die Demokratie und ihre Symbole ist (»Demokratie mit Füssen getrumpelt«), erscheint den  anderen umgekehrt gerade als Sieg der Demokratie: als ob sich der Demos sein Haus zurückgeholt habe.

Die Bilder aus den USA erinnern an eine ähnliche Parlamentsstürmung, die allerdings auf den Treppenstufen geendet hatte: Die Attacke auf das Berliner Reichstagsgebäude im Sommer 2020 durch eine Schar von Demonstranten der sogenannten Hygiene-Demos. Diese wenden sich gegen staatliche Corona-Maßnahmen und widersetzen sich dabei Hygiene-Standards wie Abstandhalten und Maske tragen. Mittendrin schwangen Rechtsradikale Reichsbürgerfahnen. Einige Wochen später drangen Antidemokraten tatsächlich in das ›Hohe Haus‹ ein: allerdings auf Einladung – durch die rechtskonservative AfD-Seite.

In der Doku »The Social Dilemma« warnt der CEO von Pinterest, dass Soziale Netzwerke einen Bürgerkrieg auslösen können. Nach den jüngsten Bildern aus Washington kündigte Twitter an, den Nutzerzugang des Noch-Präsidenten Donald Trump für zunächst zwölf Stunden vorsorglich zu sperren.

Verschärfung der Culture Wars

Der Zukunftsforscher Matthias Horx sprach kürzlich mit Blick auf die kommende Zeit von einem »Ende dessen, was man die ›Digitalreligion‹ nenne könnte.« Spätestens mit der Corona-Krise sei der Glaube an die »Verheißungen der digitalen Erlösung von allen Übeln« zu Ende gegangen. Aber vielleicht ist es genau umgekehrt erst der Anfang der Digitalreligion? Auf jeden Fall werden politische Kämpfe zunehmend als sozialmediale Glaubenskriege ausgefochten. Als Christ*innen können wir uns aus den Ideologiekämpfen und Culture Wars nicht heraushalten. Der Riss geht mitten durch uns hindurch.

Als Gemeinsamkeit der Parlamentsstürmungen dies- und jenseits des Atlantiks fällt auf: Beide Male waren QAnon-Anhänger beteiligt. QAnon ist der Name für eine undurchsichtige Internetplattform, deren beträchtliche Followerschar ein Beleg dafür ist, dass sich rechtsradikal-nationalistische Lager und christlich Konservative sowie fundamentalistisch Fromme in ein gemeinsames antimodernes Joch spannen lassen: und zwar über das antisemitische Motiv der Kindermorde. ›Satanistische Kindermörder‹ seien, so lautet ein Urban Myth von QAnonisten, heute die in der Abtreibungsfrage liberalen Demokraten und ›Freimaurer‹.

Transatlantischer Evangelikalokatholizismus

Wer glaubt so etwas? Offenbar Menschen, die lebensweltliche und biografische Umbrüche in tiefe Vertrauenskrisen gestürzt haben.

Auf der Suche nach Orientierung im Meinungschaos versuchen sich manche Menschen offenbar ein Stück Souveränität zurückzugewinnen, indem sie das Gegenteil dessen für wahr halten, was ›Mainstream-Medien‹ behaupten. Auch in Europa haben fromme christliche Kreise, beispielsweise aus dem Milieu von »Marsch für das Leben«, Extragebetssessions für die Wiederwahl Donald Trumps abgehalten.

Pro-Trump-Gebetsaufrufe kamen unter anderem von dem promovierten Philosophen, Bestsellerautor und »Catholics for Trump«-Aktivisten Taylor Marshall. Dieser warnt vor einem »satanic deep state«, der nicht nur den Vatikan in Besitz genommen habe, sondern auch daran arbeite, Trumps Präsidentschaft zu unterminieren. Rechts-evangelikale und rechts-katholische Lager verschwimmen zunehmend zu einem transatlantischen Evangelikalokatholizismus. Der Spalt innerhalb von Konfessionen erscheint inzwischen gravierender als jener zwischen Konfessionen.

Flashmobs auf Parlamente funktionierender Demokratien mögen karnevalesk erscheinen. Es sind gleichwohl gefährliche symbolpolitische Anschläge.

In sozialmedialen Filter-Bubbles werden Stimmungen aufgewärmt, die sich potenziell zu Bürgerkriegsszenarien aufheizen lassen. Die Demokratie ist in Gefahr, wenn das Fundament dessen schwindet, was in einer Gesellschaft übereinstimmend für wahr gehalten und geglaubt wird. Wenn kohärente Perspektiven einer Konkurrenz alternative Wahrheiten weichen, bricht Gesellschaft im wahren Sinn des Wortes auseinander. In dem Maß, in dem die Vulnerabilität der Demokratie vor Augen geführt wird, wächst aber auch das Bewusstsein ihres Werts.

3 Kommentare zu „Der Anfang der Digitalreligion?“

  1. „Digitalreligion“? – Seit Max Weber im Kapitalismus religiöse, genauer: calvinistische Wurzeln entdeckt hat, dient „Religion“ immer wieder als Chiffre für Totalitäten. Dann ist Kapitalismus die „Religion des Geldes“, Nationalismus die „Religion der Nation“, die Fitness-Bewegung die „Religion des Körpers“, bewusste Ernährung die „Religion der Gesundheit“ etc. Das hat einen gewissen feuilletonistischen Reiz aber wenig Erklärungskraft. Weshalb? Weil unter „Religion“ ganz verschiedene schwer definierbare Phänomene segeln. Und jede neue Begriffskombination mit „Religion“ macht diese noch fluider und ungreifbarer. Also lieber sich die Mühe machen, genau zu sagen, was man z.B. mit „Digitalreligion“ meint.

  2. Ich bin in den 80ern in einer evangelikalen Freichkirche (FeG) groß geworden. Die Erzählung vom Satan, der „der Herr dieser Welt“ sei und im Hintergrund die Fäden ziehe, um Herrschaft des Antichristen vorzubereiten, gehörte damals fest zur Agenda der sonntäglichen Predigten und diverser Vortragsreihen. Ich kann mich noch gut erinnern, dass es damals bei Einführung der Barcodes an den Supermarktkassen hieß, dass dies „das Zeichen des Tieres“ und ein Vorbote der Apokalypse sei und man als Christ auf keinen Fall Waren kaufen sollte, auf denen ein solcher Code angebracht ist. Und das waren durchaus keine ungebildeten Menschen oder Hinterwäldler, die so etwas vertraten. Ich habe den Eindruck, dass heute in Teilen der evangelikalen Szene wieder vermehrt diverse gesellschaftliche Ereignisse und Entwicklungen in diesen Erzählkontext des kommenden Antichristen eingeordnet werden. Auf politischer Ebene finden wir eine sehr ähnliche Erzählung, nur dass es dort nicht die Herrschaft des Antichristen ist, die vor der Tür steht, sondern wahlweise der Sozialismus oder Kommunismus oder der „Deep State“ oder Überwachungsstaat. Irgendwie wurden all diese verschiedenen Erzählungen von Menschen verschiedenster Lager, die sich in ihren weltanschaulichen Ansichten zunehmend an den Rand gedrängt sehen, in Teilen vereinheitlicht.

  3. Vor allem ist der gesellschaftliche Diskurs deutlich breiter geworden. In den 80ern hattest du die Friedens und die Öko Bewegung. Feminismus war eine Randbewegung. alles sehr weiß-bürgerlich-westlich geprägt. Heute sprechen queere, nicht-weiße, nicht westliche Menchen mitten rein in die Demokratien und christlichen Gesellschaften und wollen ihren Teil vom Kuchen. Das kann sehr verunsichern. Wie schön, wenn man dann eine einfache Erzählung mit klaren Sündenböcken hat.

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