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Die säkulare Story

Die säkulare Story ist eine gute Geschichte und für die meisten Menschen so selbstverständlich, dass sie in ihr weniger eine Erzählung und vielmehr einen Tatsachenbericht vorzufinden meinen. Es gibt verschiedene Ausschmückungen dieser Story. Ihr Grundgerüst ist aber immer gleich. Und rasch erzählt.

Die säkulare Story

Seit zweieinhalb Millionen Jahren existieren Menschen. Sie fürchten sich vor Naturkatastrophen, Krankheiten, Hunger oder feindlich gesinnten Menschen, die sie angreifen. Um ihre gefährliche Umwelt zu kontrollieren, haben sie magische Rituale erfunden. Sie tanzen um das Feuer, um Schutzmächte anzurufen. Befragen Orakel über ihre Zukunft. Unterhalten Traumdeuter, um ihr Schicksal zu antizipieren und bestenfalls zu verstehen.

Achsenzeit

Vor gut 2500 Jahren – in der Achsenzeit – ereignen sich an unterschiedlichen Orten auf der Welt kognitive Schübe: In China, wo Konfuzius und Laotse wirkten, entstehen verschiedene Richtungen chinesischer Philosophie. In Indien prägen die Upanishaden Naturphilosophie und Hinduismus, etwas später verbreiten sich die Lehren Buddhas. Im Orient setzt sich unter den biblischen Propheten eine Form des Monotheismus durch, Zarathustra lehrt ein dualistisches Weltbild. Im Okzident entstehen die Ilias und die Odyssee und die Naturphilosophie. Kurz darauf legen Sokrates, Plato und Aristoteles die Grundlage der abendländischen Weltanschauung.

Die Welt bricht von diesen geistlichen Zentren auf, um über den Mythos zum Logos zu gelangen und entzaubert Natur, Himmel und den Menschen ein erstes Mal.

Auf dieser Grundlage entstehen die Weltreligionen. Das rabbinische Judentum, das Christentum und schliesslich der Islam. Und natürlich das Römische Recht.

Machthaber nutzten die Kraft der Mythen, um Völker zu unterwerfen und den eigenen Status zu legitimieren. Die römische Kirche half ihnen dabei, nicht ohne selbst gehörig zu profitieren. Eine Zeit der Unterdrückung, des Aberglaubens, der Kreuzfahrer, der Hexenverbrennungen und der Ketzerprozesse folgte. Dieses finstere Mittelalter gipfelte schliesslich im Dreissigjährigen Krieg – einem Religionskrieg, der Westeuropa entvölkerte und zerstörte.

Aufklärung

Aus den Trümmern dieser Ruinen erhoben sich mutige Denker. Sie wollten selbst verstehen, sich ein eigenes Urteil bilden. Den Aberglauben ausmerzen und die freie Wissenschaft befördern. Diese Befreiung des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit, forderte einen kühnen Kampf, gegen die etablierten Mächte des Adels und der Kleriker und brachte der Menschheit einen weiteren kognitiven Schub. Nicht Gottes Wort, seine Schöpfungsordnung oder dessen königlicher Repräsentant sollten fortan regieren, sondern «Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit». Die Menschenrechte werden geboren. Nicht von einer Gottheit, sondern durch den menschlichen Verstand.

Der vom Joch der rückständigen Frömmigkeit befreite Geist wandte sich fortan der Wirklichkeit zu und suchte in ihr nach Wahrheit:

Galileo Galilei brachte die Kopernikanische Wende, die Dampfmaschine wird erfunden und mit ihr die Eisenbahn und die Spinnmaschine. Kant erkennt, dass Gott nicht mehr als eine regulative Idee ist. Die Bibel wird durch historische Kritik entzaubert. Der Blitzableiter nimmt dem Gewitter seinen Schrecken. Demokratie, Wissenschaft und die blühende Wirtschaft machen Religion weitgehend überflüssig.

Eine Strickleiter

Je entwickelter eine Gesellschaft ist und je höher der Wohlstand und die Bildung ihrer Bevölkerung sind, desto mehr wird Religion verschwinden. Die Grundlage für religiöses Denken und seine Geschichten ist zusammengebrochen. Religion wird abgelöst durch die Wissenschaft. Unser Weltbild ist geprägt durch die Erkenntnisse der Physik. Unser Selbstbild speist sich aus den Erkenntnissen der Psychologie. Unsere Werte sind die Menschenrechte.

In dieser Story sind die Religionen eine mehr oder minder hilfreiche Strickleiter, um aus den Untiefen magischen Denkens emporzusteigen. Wir bedürfen ihrer nicht mehr, jetzt wo wir bei uns selbst angekommen sind.

Wir sind Projekte

Diese Story ist gut. Sie bringt eine unüberschaubare Menschheitsgeschichte in eine zielorientierte Kurzform und lässt uns die eigene Gegenwart als bisherigen Höhepunkt verstehen. Freiheit und Individualismus sind in dieser Erzählung nicht bloss Rahmenbedingungen, in denen sich unser Leben abspielt, sondern Werte an und für sich.

Die Menschheit, die sich ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit entledigt, korrespondiert mit einem selbstverantwortlichen Individuum, das sich rational abgewogene Ziele setzt, nach deren Erreichung strebt und versuchen kann, immer besser zu werden.

Das liberale Versprechen lautet: Wenn wir das alle tun, wird die ganze Welt ein besserer Ort! Dieses Versprechen ist sparsamer mit letzten Sinndeutungen oder abschliessenden Welterklärungen. Ich selbst und die Welt als Ganzes sind Projekte, die man managen soll. Und nicht etwa eine Schöpfung oder eine Gabe, die einen Ursprung und ein Ziel kennt.

Selbsthistorisierung

Natürlich ist diese Story nicht wahr. Sie ist eine Geschichte, wie alle anderen Mythen auch. Und diese Geschichte bekommt Risse. Im 20. Jahrhundert gelang es noch, die Schrecken des Nationalsozialismus und Faschismus zu integrieren. Sie können als Ausreisser eines Fortschritts gedeutet werden, die ihrerseits wiederum den Individualismus gegenüber kollektiven Vereinnahmungen stärken und als Alternative zu totalitaristischen Auswüchsen sogar heiligen. Der Terror vom 11. September 2001 brachte die Religion zwar wieder in die Schlagzeilen. Aber der religiöse Terrorismus kann als reaktionäre Gegenbewegung der abgehängten Modernisierungsverlierer in die Story eingepasst werden. In den Kreisen all jener, die nicht bereit waren, Deutschland oder die Freiheit am Hindukusch blind zu verteidigen, reflektierte man auf die eigenen Grundlagen: Können die Menschenrechte universale Geltung beanspruchen – weil sie quasi ein Telos menschlicher Kultur darstellen – oder sind sie ein westliches Kulturgut, das in kolonialistischer Manier in die Welt exportiert wird? Wer solche Fragen stellt, historisiert die eigenen Werte und versteht sie als Ergebnis einer Geschichte, die diese kontingent und nicht notwendig hervorgebracht hat.

Die Wissenschaft

Die Wissenschaft hat sich in der gegenwärtigen Covid-19-Krise bewährt. Und trotzdem sind viele Menschen enttäuscht. Sie hatten ein anderes Bild von Wissenschaft. In diesem Bild gibt es unverrückbare Fakten, die man erheben kann und dann weiss man, was zu tun ist. In der Klimakrise haben wir uns daran gewöhnt, zu fordern, dass die Politik auf die Wissenschaft hören soll. In der Covid-19-Krise haben wir gelernt, dass es verschiedene Wissenschaften mit unterschiedlichen Perspektiven gibt. Und dass die Wissenschaften selbst keine feststehenden Wahrheitstempel sind, sondern Communities, innerhalb derer man sich kritisiert, verbessert und zitiert.

Die Wissenschaft ist kein absoluter Massstab, der Katechismus-ähnlich unsere Fragen beantwortet, sondern eine Vielzahl von Prozessen und Methoden, anhand derer wir uns orientieren können, wenn wir die richtigen Fragen stellen.

Dieser Prozess hat sich bewährt. Wir verdanken ihm Impfstoffe, Testverfahren und sogar gute Behandlungsmöglichkeiten. Gleichzeitig hat sich gezeigt, dass ein beträchtlicher Bevölkerungsanteil gar keine Fragen stellt, sondern wissenschaftliche Einzelpositionen zur Bestätigung eines bereits feststehenden Weltbildes nutzt und damit das berechtigte Vertrauen in wissenschaftliche Verfahren gegen die Wissenschaften selbst wendet: «Wenn aber der Professor Doktor XY sagt, dass… Ich jedenfalls glaube nicht alles. Jeder muss selbst wissen, ob und wie…» Die Rationalität, die sich in unseren Wissenschaftsverfahren zeigt, wird reduziert, individualistisch missdeutet und gegen sich selbst gewendet.

Gibt es mehr?

Andere sind unter dem Eindruck der Klimakatastrophe sogar bereit, demokratische Verfahren und liberale Grundwerte zu opfern. Demokratie und Freiheitsrechte werden zu günstigen Rahmenbedingungen menschlichen Lebens degradiert. Aber Überleben ist wichtiger. Diese Haltung passt zu der utilitaristisch-vitalistischen Engführung, in der viele Menschen gedanklich leben: Ohne Himmel fehlt vielen die motivationale Kraft, das eigene Sein und die Welt zu transzendieren. Es gibt vieles, was man im Leben geniessen kann, aber nichts, wofür man zu leben oder zu sterben bereit wäre.

Kein Rückweg und viele Fragen

Den Weg zurück, zu einem Gott, der das Wahre, Gute und Schöne verkörpert und sich uns Menschen in einer Geschichte oder einem heiligen Buch offenbart, wird es nicht geben. Das ist nicht schlimm. Wenn wir aber vorwärts schauen, sollten wir in unserem Denken und der Art und Weise unseres Zusammenlebens Antworten finden auf drängende Fragen, die wir zulange stillschweigend unter dem Deckmantel der Selbstverständlichkeit begraben haben.

  1. Welche Motive bewegen uns, das Gute und Richtige nicht nur einzusehen, sondern es auch zu wollen? Wie gelingt es uns, verantwortungsbewusst gegenüber kommenden Generationen und ihren Ressourcen zu wirtschaften? Wie können wir uns emotional mit ihnen verbinden?
  2. Wie kann es uns gelingen, globale Krisen und Probleme nicht in nationalstaatlicher oder gar regionaler Eigenlogik auf Kosten anderer zu bekämpfen, sondern als Menschheit gemeinsame Lösungen zu suchen?
  3. Wie kann das Orientierungswissen der Wissenschaften innerhalb der Politik so aufgenommen werden, dass es sich in demokratischen Verfahren und Verständigungsprozessen durchsetzt? Welche Art von Bildung brauchen wir dazu?
  4. In welchem Menschenbild können wir zugleich die unbedingte Würde des Menschen und seine Verantwortlichkeit und Angewiesenheit – als ein Stück Natur – auf diese Natur denken?

Von Religionen lernen

Diese Antworten können wir nicht in den Religionen finden. Gottebenbildlichkeit ohne Gott funktioniert schlecht. Aber wir können von den Religionen lernen, wie sie produktiv mit der eigenen intellektuellen Verunsicherung und der Bewusstwerdung ihrer gesellschaftlichen Partikularität umgegangen sind.

Folgende Einsichten können uns helfen:

Man kann ohne Wahrheit leben

Die Bewusstwerdung der eigenen Partikularität und der historischen Genese vermeintlich ewiger Werte, muss nicht rein intellektuell bewältigt werden, sondern kann in Ritualen und Vergemeinschaftungserfahrung ertragen werden.

Man braucht nicht unbedingt ewige Wahrheiten auf seiner Seite, meistens genügen lebendige Gemeinschaften, die uns eine Wirklichkeit erfahren lassen und eine Idee des Besseren, der richtigeren Option, in uns stärken.

Gott leer lassen

Erlösungsfantasien führen immer in die Irre. Jeder -ismus ist gefährlich, gerade wenn er gut gemeint ist. Deshalb müssen unsere Ideologien so aufgebaut sein, dass sie sich selbst als Ideologie beobachten können. Wer in der Religion sagt: «Nicht der König, sondern Gott ist die höchste und letzte Instanz!», muss sich hüten, diesen Gott nicht wiederum zur Legitimation des Königs werden zu lassen. Wer sagt: «Nicht die Politik, sondern die Wissenschaft, soll sagen, was wir zu tun und lassen haben!», sollte sich davor hüten, diese Wissenschaft zu einer inhaltlich bestimmten Gottheit werden zu lassen.

Praxis, nicht Weltbild

Das Gute gibt es vielleicht gar nicht. Aber indem wir uns in das Bessere einleben und einüben, können wir uns mit Geschichten unterstützen, die unsere besten Intentionen stärken. Die Bergpredigt und die Gebetspraxis sind wahrscheinlich für das Christentum wichtiger als der Glaube an eine bestimmte Heilsgeschichte.

An ihrem Anspruch werden sie gemessen

Eine Sexualmoral vertreten und selbst hinter jeden moralischen Anspruch zurückfallen, diskreditiert nicht nur die Institution, sondern auch den moralischen Anspruch selbst. Staaten und Staatenbünde, die sich für Menschenrechte einsetzen wollen, tun das am glaubwürdigsten, indem sie diese Menschenrechte selbst umsetzen und eine Kultur ausprägen, in der diese Grundwerte gestärkt werden.

Emotionen ohne Wahrheit…

Fromme Hingabe ohne gedanklichen Inhalt, verkommt zu Formelhaftigkeit oder Kitsch. Aus dem Hoc est corpus wird dann bald ein Hokuspokus. Aber andererseits kann auch die gedanklich stärkste Idee nicht ohne emotionales Vehikel in die Welt kommen. Emotionen ohne Wahrheit sind gefährlich. Wahrheiten ohne Emotion sind lahm.

Es ist wahr: Die Impfung ist das beste Mittel gegen die Pandemie. Aber erst die Bilder gegenseitiger Solidarität, überfüllter Intensivstationen oder einer maskenärmeren Zukunft vermögen es, die Befürchtungen der Ängstlichen zu überwinden. Und auch die nicht immer.

Eine andere Story

Diese Learnings, besonders auch der letzte Punkt, mögen uns vielleicht motivieren, unsere Story anders oder sogar eine andere Story zu erzählen. Sie wäre komplizierter, detailliert und käme in einer Gegenwart an, in der sich Menschen auf ganz unterschiedliche Traditionen beziehen. Diese Traditionen haben sich durch verzweigte Geschichten hindurch gebildet.

In ihnen sind Erinnerungen an gescheiterte Ideen und Lernprozesse abgespeichert. Es gibt muslimische Humanistinnen, buddhistische Feministen, evangelikale Christen, humanistische Freidenkerinnen und vielerlei mehr. Niemand ist ein Leben lang auf eine bestimmte Identität festgelegt. Indem Menschen diese Identitäten bewohnen, finden sie sich in einer Umgebung lebensförderlicher, tröstender, sinnstiftender und motivierender Motive wieder.

Im besten Fall halten sie uns die Zukunft offen und lassen den Platz Gottes leer: Unverfügbarkeit des Menschen und Unverfügbarkeit Gottes.

Ein neues Wir

Unsere säkularen Gesellschaften ergreifen nicht Partei für die eine oder andere Tradition. Aber sie sind dankbar dafür, dass sich in ihnen Sinnressourcen vorfinden, die sie selbst nicht hervorbringen können. Weltbilder und Religionen sind ein schützenswertes Gut, insofern es ihnen gelingt, aus sich heraus die liberale Verfassung, den religiösen und weltanschaulichen Pluralismus und die friedenssichernden Motive einer unbedingten Würde, von Solidarität, Gleichberechtigung oder Freiheit zu fördern.

Unser Zusammenleben speist sich nicht aus den Resultaten von Abstimmungen, sondern aus den Verständigungsprozessen, die ihnen vorausgehen.

Zwar schuldet niemand Rechenschaft, weshalb sie die Menschenrechte gut findet oder er sich für Menschenrechte einsetzt. Aber in unserer offenen Gesellschaft verhalten wir uns nicht nur tolerant gegen einander, sondern bleiben neugierig und lernbereit und hoffen, in den Motiven anderer selbst Inputs zu finden, die das Beste in uns fördern. Die Menschenrechte sind dabei ein guter Zwischenstand.

14 Kommentare zu „Die säkulare Story“

  1. _Den Weg zurück, zu einem Gott, der das Wahre, Gute und Schöne verkörpert und sich uns Menschen in einer Geschichte oder einem heiligen Buch offenbart, wird es nicht geben. Das ist nicht schlimm._
    Ist das jetzt auch Satire oder wirklich so gemeint?

    Der ganze Abschnitt „Kein Rückweg und viele Fragen“ gleicht mMn eher einem humanistischen Manifest als einem Glaubensbekenntnis an einen Gott. Er schreibt die säkulare Story weiter ohne ihr eine wirkliche Wendung zu geben. So empfinde ich es. Der Mensch schafft das! Wirklich?

    1. Das ist nicht Satire. Sondern die Realität, dass die Menschen verschiedene Motive des Guten, Wahren und Schönen haben, das Gott nicht mehr verbürgen kann. Menschen schaffen das, wenn sie ihre unterschiedlichen Motive kooperativ einbringen. Das glaube ich wirklich.

      1. _Den Weg zurück, zu einem Gott, ….wird es nicht geben. _
        Diesen Schluss halte ich nicht für zwingend!
        Ist es nicht intellektuell legitim, einen Gott für real zu halten, der a) die Liebe ist und nur das Gute, Wahre und Schöne in sich verkörpert und der b) in der Lage ist, seinen Weg mit den Menschen zu gehen (der Gott der uns aus Ägypten geführt hat usw.) und der c) in der Lage ist, die Erlebnisse und Eindrücke, die Menschen aus der Begegnug mit ihm gewonnen haben, auch schriftlich festhalten zu lassen. Was verbietet mir auch im Jahre 2021, dies denken zu können? Tobias

        1. Natürlich niemand und ich schon gar nicht. Aber es wird nicht zu einem Gott führen, unter dem sich alle Menschen in die Gesellschaft integrieren. Es wird plural bleiben und sich weiter pluralisieren. Du und dein Gott seid dabei ein Player unter vielen.

          1. Wenn ich hier noch ergänzen darf: Du rekurrierst oft sehr deutlich auf die Kirche, von der du deine christliche Prägung erhalten hast. Das Bekenntnis der frühen Kirche war doch dasjenige: Mir ist gegeben alle Macht… Jesus ist Herr (sogar über den Kaiser). Und nur weil das gilt, trotz aller Mißstände, sind Christen immer (!) hoffnungsvoll gestimmt. Einen hoffnungsvollen Advent! Gruss Tobias

  2. Es braucht eine Kultur des Vertrauens, die offene Diskurse, Austausch, kritische Haltung gegenüber Schwarz-Weiss-Malerei und relative Lern- und Entwicklungsorientierung fördert; mithin auch nicht einfach absolute Fortschrittsgläubigkeit predigt, sondern hilft uns unserer eigenen Neigung, in „alte“ Dogmatismen zurückzufallen, bewusster werden.

  3. Zu der „säkularen Story“ gäbe es viel zu schreiben. Als Student der Geschichte wurde mir beschieden: „Die Narration hat in der Geschichtswissenschaft ausgedient“. Fukuyama postulierte 1989 gar das „Ende der Geschichte“. Doch gegenwärtig ersaufen wir in „Narrativen“, im „Storytelling“ und in „Verschwörungstheorien“. Die Verfahrensgerechtigkeit des säkularen, liberalen Staates (hier Impfbefürworter, da Impfgegner: wir suchen die Mitte, lassen abstimmen) kommt gerade unter den Bedingungen der diskursiven, direkten Demokratie (die – aus guten Gründen – noch immer „Im Namen Gottes des Allmächtigen“ legiferiert) an den Anschlag.
    Zwei Thesen:
    1. Unser westliche Geschichtsbegriff hat seinen Ursrprung – nicht so sehr in im Ethos der griechischen und römischen Historiker (sine ira et studio) – als in des jüdischen Volkes Rechenschaft vor Gott in den historischen Büchern (Chronik 1&2, Könige 1&2). Diese Geschichte des Gottesvolkes, herausgeführt aus Ägypten und aus der babylonischer Gefangenschaft zurückgekehrt wird durch Christus, Apostel Paulus, Kaiser Konstantin und die Mission bis ins 20. Jahrhundert hinein dank der Kirchengeschichte, der hegelschen Geschichtsphilosophie und des marxistischen wissenschaftlichen Materialismus globalisiert. Das ist eine grosse Chance!
    2. Geschichte ist des Gottesvolkes Resilienz-Ressource. Weltgericht und Erlösung ist der Telos jeder Geschichtsbetrachtung (sowohl des liberalen Fortschritt-Glaubens, des marxistischen „Paradies auf Erden“ als auch der apokalyptischen Szenarien: Abkühlung des Universums, Meteorit, Nuklearkrieg und Klimakatastophe). Historische Wahrheitsfindung ist darum, wie die wissenschaftliche Naturbetrachtung, als theologische Hilfswissenschaft zu betrachten.

    Bemerkungen zu den vier Punkten oben (unter „Kein Rückweg und viele Fragen“) – Warum kein Rückweg?: ist unsere christliche Religion nicht eine Religion der Ein- und auch Umkehr?:
    1. „Der Menschen Hirn ist eine Götzen-Fabrik“ hat Calvin richtig erkannt. Darum ist die Installation des kommunikativen, trinitarischen Gottes im Hirn des Menschen ein notwendiger Schritt zu seiner Befreiung. Gerade wenn er mit der Furcht vor dem Gericht verbunden ist. Befreit durch Christi Opfertod wird der Christenmensch frei, in dankbarer Ko-Poiesis am Liebeswerk des Schöpfers mitzuwirken und frei von Götzen und Verschwörungstheorien, freudig das Gute zu tun, das dem Schwächsten seiner Nächsten frommt (zum Beispiel: sich impfen).
    2. Die UNO, die vereinten Nationen, sind das Gefäss, welches die calvinistische Internationale, angeführt von Präsident Wilson, am katastrophalen Ausgang des „langen 19. Jahrhunderts“ in der Stadt Calvins, in der Stadt Henri Dunants, gegründet hat. Die geistige Grundlage dieser Institution ist wieder ins Bewusstsein zu heben. Von der Friedensverheissung der biblischen Propheten (kol goyim: alle Völker) führt über Jerusalem- Athen und Rom eine Linie zum Plenarsaal der UNO in New York, dem einstigen Neu-Amsterdam, dem neuen Jerusalem als dem Versammlungsort der „Menschen guten willens“.
    3. Jegliche Bildung die den spirituellen Menschen vom Staatsbürger trennen will ist untauglich. Calvin trennte Kirche und Staat institutionell, aber es war nicht denkbar, dass ein Genfer Staatsbürger nicht auch Mitglied der Genfer Kirche war. Wenn die neue Vorsteherin der EKD in Deutschland die Impfung zur Christenpflicht erklärt (wenn immer sie medizinisch möglich ist), wie auch muslimische Imame ihre Gemeinden zur Impfung aufrufen, dann leisten sie mehr, als die vulgärrationalistischen Nerds die sagen: „ein religiöser Aufruf geht mich nichts an“ oder reformierte Kirchenräte und innerschweizer Politiker die stillhalten und für sich denken: „Natürlich habe ich mich impfen lassen, aber das ist meine Privatsache und ich bin doch nicht so blöd, mit einem entsprechenden Aufruf „die Gesellschaft“ – und meine frommen Schäfchen – weiter zu spalten und mich einem Shitstorm oder der Gefahr einer Abwahl auszusetzen.“
    4. Die unbedingte Würde des Menschen ist in der jüdisch-christlichen Ebenbildlichkeit Gottes retroszendent mythisch rückversichert. Alle „rationale Ethik“ ist gegenüber dieser absoluten mythischen Setzung ein diskutables Gelaber und langfädiges Geschwurbel: müssige Verschwendung von Lebenszeit.
    Die Reformierten täten also gut daran, das Absolute wiederzuentdecken in ihrer Tradition, und sich dessen Wirken in der Geschichte wieder bewusst zu machen. Reformierte Theologie ist nicht ein lässliches Wellness-Accessoire für den rundum versicherten, beglückten und saturierten Wohlsstandsbürger („Ein Bürger ist ein Mensch, der stets sagt „ich weiss nicht“, und nicht weiss, wie recht er damit hat“ Kurt Tucholsky), sondern der absolute, notwendige Seelengrund jener Erfolgsgeschichte unserer Vormütter und -väter, in der wir heute in der Schweiz leben dürfen. Nur aus diesem Grund heraus kann die Erfolgsgeschichte weiterwachsen, sich erneuern.
    Die neuen asiatischen Autokraten und islamischen Gotteskrieger, die es laut Fukuyma nicht geben dürfte, weil der hegelsche Weltprozess ja in die Verallgemeinerung von liberaler Demokratie und freier Marktwirtschaft hätte münden sollen, schmunzeln darum über reformierte Kirchenräte, deren Credo sich im „Megatrend Säkularisation“ erschöpft. Leise lächelnd zählen sie die Kirchenaustritte mit, denn sie wissen: wenn es so weitergeht, arbeitet die Zeit für sie und gegen „die Menschrechte“. Diese sind als „säkularer Zwischenstand“ nicht zu halten sind, wenn das religiöse Seelensubstrat (die antipapistischen Aufklärung des 18. Jahrhundert, gespiesen in Holland und Schottland vom Calvinismus), auf dem sie keimen konnten austrocknet.

  4. RefLab in a nutshell.

    „Man kann auch ohne Wahrheit leben“, um ein paar Sätze weiter zu schreiben „Es ist wahr“; gerade in einem Artikel, der das wissenschaftliche Prozedere beleuchtet, hätte ich mir an dieser Stelle ein anderes Wort als „wahr“ gewünscht, aber nun gut.
    Bin schon auf die Artikel gespannt, die die Impfpflicht als gut, schön und wahr umdeuten.
    Immer wieder unterhaltsam hier.

  5. Mythos vs. Logos – interessanter Ansatz. Und über die Jaspersche „Achsenzeit“ noch den Hegel-Rest mitnehmen.
    Gott als Rütliwiese („Gott leer lassen“) – ein Denkanstoss.
    Wenn das so weiter geht mit dieser „probabilistic theology“, verlieren die Theologen noch ihren Wissenschafts-Bonus-Status, und der ist euch schon sehr wichtig? (nicht nur wegen der Besoldung). Ich habe Ihren Text mit viel Interesse (und manchmal Nicht-Verstehen) gelesen. Es formuliert sich eine Art Tasten nach einem passepartout des Denkens und Glaubens, darf man es „post modernism“ nennen? Als bereits etwas älterer Mensch, bin ich gerne wieder zum weisen alten Mann mit Bart zurückgekehrt, gerade zum Advent. Ich weiss, dass es das nicht gibt. Aber den Gott muss ich auch nicht wissen, den darf ich glauben. Logos und Wissen sind nützliche Werkzeuge, mit wenig Selbstevidenz. Im Menschsein, im Leiden und in der Freude bin ich mythisch und weiss nicht, wo Du ist. Und da ist noch die „Müdigkeit des Selbst“ – es ist anstrengend, mich je nach angesagter Philosophie, dauernd neu zu formulieren, überhaupt zu formulieren. Ich bin da, so oder so. Die Kirchen leeren sich, lese ich. Tja: „Fürchtet euch nicht!“ – Diese Botschaft ist anscheinend gründlich angekommen. Vielen Dank für Ihren anregenden Artikel und frohe Feiertage wünsche ich.

  6. An dieser Stelle ein herzliches Dankeschön für die Bildungsarbeit, die ihr leistet, und die Diskussionsplattform, die ihr bereitstellt.
    Kirche im besten Sinne.

  7. Spiritualität und kirchliches Dogma sind zwei völlig unterschiedliche Dinge. Hier liegt wohl der wesentlichste Knackpunkt bei der Definition einer säkularen Story.
    Für viele Gläubige sind Spiritualität und Kirche (welche auch immer) nicht trennbar. Eine säkulare Story braucht Kirche nicht, aber Spiritualität ist untrennbar mit dem menschlichen Wesen verbunden.
    Die Entstehung der Religionen hat mit den ungeklärten Fragen der Epoche, insbesondere die Zeit nach dem Tod, einerseits, und den Fragen eines geregelten Zusammenlebens von grösser werdenden Gemeinschaften begonnen. Dies hat sich eine Gruppe zunutze gemacht, um sich über andere zu erheben und Macht auszuüben, indem sie ein Wesen erfunden hat, das ausserhalb dieser Welt existiere und über die Menschen wache; die Menschen, die, wenn sie die Regeln einhalten (die sinnvollen, die nun in der Erklärung der Menschenrechte und im bürgerlichen Gesetzbuch stehen wie auch jene, die nur dem Machterhalt der besagten Gruppe dienen), ein besseres Leben nach den Tod haben sollen. Damit wurden zwei praktische Situationen geschaffen: zum einen waren die Regeln kaum angreifbar (da von aussen verordnet) und zum anderen konnte Beweis oder Widerlegung des besseren Lebens nach dem Tod unterbleiben, da noch niemand von diesem Ort zurückgekommen ist und berichten konnte. Damit war die Kirche (auf Basis welcher Religion, Epoche oder Weltgegend auch immer) erschaffen. Im Laufe der Geschichte war die Macht dieser Kirche so gross, dass die Legitmität weltlicher Herrscher von ihr abhing (das ist zum Glück vorbei).
    Die Spiritualität ist aber auch in der säkularen Story wichtig, sie ist mit dem Menschen untrennbar verbunden. Gemeinschaft, gemeinsames Erleben, besondere Orte können helfen, sie zu erfahren, zu erleben oder Erkenntnisse aus sich heraus zu erzielen, durchaus auf „wissenschaftlichem“ Weg, also evident, nachvollziehbar und methodisch wiederholbar. Sozusagen die Wir-Komponente des Wesens und der Gemeinschaft. Die Wissenschaft stellt die Es-Komponente dar, die aber nicht alle Bedürfnisse erfüllen kann. Dazu braucht es die Koexistenz, die Verbindung mit der Spiritualität (oder Religion, wenn man will), nicht aber mit einer dogmatischen Kirche.
    Wenn die Gesellschaft das hinbekäme, wäre ein grosser Entwicklungsschritt geschafft.

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